Hoffnungs-Los

Von Dirk C. Fleck.

Manchmal tut es gut, sich in der Literatur zu bedienen, wenn die Seele
auf Halbmast hängt. Dann tut es gut, wieder einmal an der Blauen Blume
der Romantik zu schnuppern. Eine kräftige Dröhnung Novalis kann Wunder
wirken. Wie schrieb der Freiherr von Hardenberg (1772-1801) zum Beispiel
in „Die Lehrlinge zu Sais“?

“Wenn man echte Gedichte liest und hört, so fühlt man einen inneren
Verstand der Natur sich bewegen, und schwebt, wie der himmlische Leib
derselben, in ihr und über ihr zugleich.“ Stimmt. Aber dann fährt er
folgendermaßen fort: „Naturforscher haben die unermessliche Natur zu
mannigfaltigen, kleinen gefälligen Naturen zersplittert und gebildet.
Unter ihren Händen starb die freundliche Natur, und ließ nur tote,
zuckende Reste zurück, dagegen sie vom Dichter, wie durch geistvollen
Wein, noch mehr beseelt zum Himmel stieg, jeden Gast willkommen hieß und
ihre Schätze frohen Muts verschwendete. Es ist schon viel gewonnen, wenn
das Streben, die Natur vollständig zu begreifen, zur Sehnsucht sich
veredelt, zur zarten, bescheidenen Sehnsucht, die sich das fremde Wesen
gerne gefallen lässt, wenn es nur einst auf vertrauteren Umgang rechnen
kann …”

Novalis schrieb diese Zeilen, als Europas Landschaft noch wie ein
Paradies anmutete. Er schrieb sie in weiser Voraussicht, denn zu einem
vertrauteren Umgang mit der Natur, wie ihn sich der Dichter wünschte,
waren die nachfolgenden Generationen bis heute nicht fähig. Angenommen,
man hätte den Freiherrn vor zweihundertfünfzehn Jahren tief gefroren und
erweckte ihn jetzt wieder zum Leben – wären wir überhaupt noch in der
Lage, uns den Schrecken vorzustellen, der ihn befallen würde?
23 Jahre nach Novalis Tod schrieb Heinrich Heine seinen Bericht „Die
Harzreise“. Heine war als Student von Göttingen durch den Harz über den
Brocken bis nach Ilsenburg gewandert. Und zeigte sich zutiefst
beeindruckt von der Schönheit der Natur. Wenn man diese Strecke heute
noch einmal in Angriff nehmen würde, müsste man sich durch eine von
Straßen zerfurchte, mit Baumärkten, Tankstellen und Strommasten
bespickte Landschaft kämpfen, die in ihren Rudimenten allenfalls noch
erahnen lässt, was Heine in Verzückung geraten ließ.
„Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott“. Diese Worte stammen von
Friedrich Schiller, einem Zeitgenossen des Freiherrn von Hardenberg.
Wer diese Worte versteht, wer sie verinnerlicht und infolgedessen
Respekt und Ehrfurcht vor dem Mysterium der Schöpfung entwickelt, kann
angesichts unserer Barbarei die Wut und Verzweiflung, die in ihm brennt,
nur noch schwer zügeln. Mir wird ja in den Kommentaren zu meinem letzten
KenFM-Gespräch und zu meinen Statements in Positionen #3 immer wieder
vorgeworfen, dass ich zu depressiv sei und den Leuten jegliche Hoffnung
nehme. Welche Hoffnung ist gemeint? Die Hoffnung, dass es immer so
weiter gehen möge wie bisher? Keine Angst, das wird es wohl. Denn es
mangelt uns an spirituellem Bewusstsein., das dringend erforderlich
wäre, um dem Wahnsinn, der direkt in den Ökozid führt, noch Einhalt zu
gebieten. Der Psychotherapeut Stanislav Grof benennt die Ursachen dafür:
„Alle Erfahrungen geänderter Bewusstseinszustände werden ganz
automatisch als psychotisch bezeichnet und in den meisten Fällen mit
unterdrückender Pharmakotherapie behandelt. Wir haben praktisch die
gesamte spirituelle Geschichte der Menschheit pathologisiert. Dabei
begannen alle großen Religionen mit visionären Erfahrungen, mit
transpersonalen Erfahrungen. Aber in der Psychiatrie werden diese
Erfahrungen als schizophrene oder psychotische Erfahrungen beschrieben“.

Der US-amerikanische Umweltaktivist und Autor Derrick Jensen („Endgame“)
bringt es auf den Punkt: „Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass unsere
Zivilisation nur Wälder kahlschlägt. Sie tut dasselbe mit unserer
Psyche. Es wäre verfehlt zu glauben, dass sie nur Flüsse mit Dämmen
verbaut. Sie errichtet auch in uns Dämme. Es wäre verfehlt, dass sie nur
in den Meeren tote Zonen erzeugt. Sie schafft tote Zonen in unseren
Herzen und in unseren Köpfen. Es wäre verfehlt zu glauben, sie würde nur
Habitate zerstückeln. Auch wir werden zerstückelt, zertrennt, zerfetzt,
zerrissen und zermalmt“. Und er fährt fort: „ Zu viele Menschen
glauben, dass Psychopathen im Wesentlichen Killer oder Zuchthäusler
seien. Die allgemeine Öffentlichkeit hat nicht gelernt, die sozialen
Stereotype zu durchschauen, und kapiert nicht, dass Unternehmer,
Politiker, Konzernchefs und andere erfolgreiche Persönlichkeiten, die
möglicherweise ein Gefängnis nie von innen zu sehen bekommen,
Psychopathen sein können“.

Wir werden von Wahnsinnigen regiert, meinte einst John Lennon und er
fügte hinzu: „Das Verrückte ist nur, dass derjenige, der dies offen
ausspricht, Gefahr läuft, im Irrenhaus zu landen“. Wahnsinnig sind in
meinen Augen aber auch diejenigen unter uns, die noch immer an die
Selbstheilungskräfte eines Systems glauben, das den Raubau an der Natur
bis zum Exzess betreiben wird. Zur Zeit wächst die Fraktion derer, die
den Klimawandel leugnen, ja sprunghaft an, als wollte man sich selbst
Absolution erteilen. Solange wir die Tatsachen jedoch leugnen, solange
wir nach dem Motto verfahren: „Mein Kind schielt nicht, das soll so
gucken!“, anstatt eine radikale Umkehr zu vollziehen, können wir bei
künftigen Generationen kaum auf Verständnis hoffen. Sie werden uns als
Verbrecher outen und das völlig zu recht.

„Natürlich ist es von größter Wichtigkeit, Herz und Verstand der
Menschen zu ändern,“ sagt Derrick Jensen, „aber ich weiß auch: wenn wir
darauf warten, wird ein großer Teil der Welt tot sein“. Bin ich jetzt
wieder zu depressiv, wenn ich ihm recht gebe? Gut, dann will ich zum
Trost den chinesischen Astronauten Taylor Gangjung Wang zitieren, der
folgendes sagte: „Ein chinesisches Märchen erzählt von einigen Männern,
die ausgeschickt wurden, einem jungen Mädchen etwas Böses anzutun. Als
sie aber sahen, wie schön es war, waren sie so gerührt, dass sie
stattdessen seine Beschützer wurden. Ebenso erging es mir, als ich die
Erde zum ersten Male erblickte: Ich konnte sie nur noch lieben und
verschonen.“

Also: lasst uns sie lieben und verschonen, auch wenn wir sie noch nicht
umrundet haben. Eine solche Sicht würde in der Tat Hoffnung machen, wenn
ihr versteht, was ich meine …


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