
Was als Routine geplant war, entwickelt sich zum Krisenszenario. Fraktionen verhandeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Stimmen werden gesichert, Loyalitäten erpresst. Das Verfassungsgericht wird zur Projektionsfläche politischer Machtspiele.
Ein Kommentar von Janine Beicht.
Die Wahl neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht, eigentlich ein bürokratischer Vorgang, droht die schwarz-rote Koalition in eine Zerreißprobe zu stürzen. Am Freitag sollte der Bundestag über drei Kandidaten entscheiden: Günter Spinner (53), nominiert von der Union, sowie die SPD-Vorschläge Ann-Katrin Kaufhold (*1976) und Frauke Brosius-Gersdorf (54). Besonders Letztere sorgt für Zündstoff. Ihre Positionen zu Abtreibung, Kopftuchbefürwortung und Corona-Impfpflicht stoßen bei vielen Unionsabgeordneten auf erbitterten Widerstand. Sollte Brosius-Gersdorf scheitern, wankt die Koalition nach nur zwei Monaten. Doch auch ein Erfolg könnte teuer erkauft sein, mit Stimmen, die niemand offen zugeben will.
Ein fragiles Machtgefüge
Die Koalition aus CDU, CSU und SPD verfügt im Bundestag über eine Mehrheit von nur 12 Stimmen. Für die Richterwahl ist »eine Zweidrittelmehrheit erforderlich«, bei voller Anwesenheit 420 von 630 Stimmen, mindestens aber 316. Selbst mit Unterstützung der Grünen reicht das nicht. Es fehlen etwa sieben Stimmen, die nur von der Linken oder der AfD kommen können. Die Union lehnt Absprachen mit beiden ab, steckt aber in einem Dilemma: Ohne diese Stimmen droht ein Debakel, das die Entscheidung an den Bundesrat abgibt. Für Kanzler Friedrich Merz wäre das ein peinlicher Beweis mangelnder Führungsstärke, besonders nach seiner knappen Kanzlerwahl.
Die Abstimmung ist geheim, die Abgeordneten wählen in Kabinen, Ergebnisse werden erst später verkündet. Um 10 Uhr steht Spinner zur Wahl, mittags folgen Kaufhold und Brosius-Gersdorf in getrennten Wahlgängen. Die Union setzt auf maximale Anwesenheit, um die Mehrheit zu sichern. Doch die Stimmung in der Fraktion ist angespannt. Viele Abgeordnete sehen in Brosius-Gersdorf eine Kandidatin, deren Rechtsverständnis mit konservativen Werten unvereinbar ist.
Brosius-Gersdorf: Der Stein des Anstoßes
Frauke Brosius-Gersdorf, Rechtsprofessorin aus Potsdam, polarisiert. Sie befürwortet die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten drei Monaten, lehnt ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen im Gerichtssaal ab und unterstützte während der Pandemie eine Impfpflicht. Diese Positionen machen sie für viele in der Union unwählbar.
Die katholische Kirche ist empört: »Bischöfe« sprechen von einem Angriff auf die Verfassung, da Brosius-Gersdorf die Menschenwürde von Embryonen infrage stelle. Die Deutsche Bischofskonferenz und Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, schließen sich der Kritik an. „Ich könnte sie nicht wählen“, sagte Stetter-Karp dem Redaktionsnetzwerk Deutschland »(RND)«.
„Dass eine Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin öffentlich erklärt, es gebe ‚gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt‘, beunruhigt mich sehr. Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können. Vor dieser Entscheidung wird mir nochmals bewusst, wie dankbar ich dafür bin, dass der Schutz des menschlichen Lebens in unserem Grundgesetz verankert ist. Denn menschliches Leben ist Leben von Anfang an! Es ist inakzeptabel, ihm in seinen neun Monaten im Mutterleib keine Menschenwürde zuzusprechen. Der Mensch ist Mensch, sobald er lebt – und das tut er bereits vor seiner Geburt.“
In der Unionsfraktion brodelt es. „Das ist eine links-grüne Kandidatin“, klagt ein CDU-Abgeordneter gegenüber »WeLT«. Viele fühlen sich verraten: Die Wähler hätten Rot-Grün dann abgewählt, nur um nun solche Juristen im höchsten Gericht zu sehen. In der Fraktionssitzung am Montag kam es zu hitzigen Debatten. Fraktionschef Jens Spahn (CDU) versuchte, die Wogen zu glätten, indem er suggerierte, Brosius-Gersdorf »werde nicht Vizepräsidentin« des Gerichts. Die SPD wies das zurück: Über diesen Posten entscheide allein der Bundesrat, sagte SPD-Geschäftsführer Dirk Wiese.
Merz und Spahn: Die Führungsschwäche
Für Kanzler Merz ist die Wahl ein Härtetest. Er unterstützte Brosius-Gersdorf öffentlich, doch viele Abgeordnete folgen ihm nicht. HAINTZmedia hat darüber berichtet.
Scheitert diese Kandidatin, steht Merz als schwacher Anführer da, der seine Fraktion nicht im Griff hat. Für Jens Spahn, den neuen Fraktionschef, ist die Lage noch brisanter. Er wusste seit zwei Wochen von der Nominierung und hätte die SPD-Wahl ablehnen können. Stattdessen ließ er sie passieren. Auch Justiziar »Ansgar Heveling steht in der Kritik«, nicht frühzeitig Alarm geschlagen zu haben. Dieser hatte zusammen mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer Steffen Bilger ein Schreiben an die Fraktionsmitglieder verschickt. In dem Dokument, das der »Tagespost« vorliegt, findet sich am Schluss ein nachdrücklicher Hinweis:
„Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im 21. Deutschen Bundestag ist bei der Wahl im Plenum eine vollständige Präsenz unserer Fraktion unbedingt erforderlich. Mit einer erfolgreichen Wahl der Bundesverfassungsrichter ist das wichtige politische Signal verbunden, dass der Deutsche Bundestag im Zusammenspiel der Verfassungsorgane jederzeit handlungsfähig ist. Jeder einzelne von uns kann durch seine Stimme dazu beitragen. Sollte bei Euch mit Blick auf Eure Wahlentscheidung Gesprächsbedarf bestehen, bitten wir um zeitnahe Rückmeldung.“
Spahn, geschwächt durch vergangene Maskenaffären, muss nun am Wahltag eine Mehrheit organisieren. Gelingt ihm das nicht, wird über Konsequenzen spekuliert.
Die SPD ist ebenfalls unter Druck. »Fraktionschef Matthias Miersch zwingt seine Partei« regelmäßig zu Kompromissen, etwa bei Familiennachzug oder Grenzpolitik. Scheitert Brosius-Gersdorf, verliert er die Argumente, um seine Fraktion bei Unionsprojekten zur Kooperation zu bewegen. Vizekanzler Lars Klingbeil, »ohnehin geschwächt durch eine magere Wiederwahl« als Parteichef, gerät unter Druck. Viele SPD-Mitglieder hadern mit der Juniorrolle in der Koalition und sehen in einer gescheiterten Richterwahl den Beweis, dass Merz und Spahn unzuverlässig sind.
AfD und Linke
Die AfD, geführt von Alice Weidel und Tino Chrupalla, sieht im Streit um die Besetzung am Bundesverfassungsgericht eine strategische Gelegenheit. Sie ruft ihre Abgeordneten dazu auf, dem Unionskandidaten Günter Spinner die Stimme zu geben, lehnt die Personalvorschläge der SPD jedoch grundsätzlich ab. Besonders an der Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf entzündet sich scharfe Kritik: In der AfD sieht man in ihr eine ideologisch geprägte Juristin, die sich in der Vergangenheit offen für ein AfD-Verbot gezeigt habe, ein Vorgang, der nach Ansicht der Partei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sei.
Auch die Verhandlungen der Bundesregierung mit der Linkspartei zur Mehrheitsbeschaffung gelten aus AfD-Sicht als Tabubruch. Man unterstellt der Ampel und der Union den Versuch, das Verfassungsgericht politisch auf Linie zu bringen, mit dem Ziel, kritische Opposition zu unterdrücken. Eine solche Entwicklung wird in der Partei als Beleg für den Verfall der Gewaltenteilung gewertet.
Ein mögliches Scheitern von Brosius-Gersdorf mit Stimmen der Union käme für die AfD einem symbolischen Erfolg gleich: Die Union hätte die „Brandmauer“ durchbrochen, und die Regierungskoalition wäre geschwächt. Doch auch im Fall ihrer Wahl sieht man sich im Vorteil, in der Hoffnung, dass konservative Wähler eine solche Personalie der Union bei künftigen Wahlen abstrafen.
Die Linke spielt ebenfalls eine Schlüsselrolle. Sie fordert Gespräche mit der Union, um ihre Stimmen für Spinner zu sichern. Jan van Aken macht klar:
„Ohne Gespräch keine Wahl, das ist ganz einfach.“
Die Union lehnt dies ab, da Absprachen mit der Linken laut Unvereinbarkeitsbeschluss verboten sind. Dennoch lockt Linke-Chef Jan van Aken mit informellen Treffen »hinter verschlossener Tür«. Die Linke will langfristig eigene Kandidaten vorschlagen dürfen, was die bisherige Praxis von Union, SPD und Grünen infrage stellt.
Demokratie in Gefahr
»Das Bundesverfassungsgericht« ist das höchste Gericht Deutschlands und prägt mit Urteilen wie dem zum Klimaschutz 2021 die Politik maßgeblich. Es besteht aus 16 Richtern, aufgeteilt in zwei Senate, mit einer Amtszeit von zwölf Jahren. Kandidaten müssen zwischen 40 und 68 Jahre alt sein.
Die Wahl von Brosius-Gersdorf könnte die Ausrichtung des Gerichts in die extreme Linke verschieben, was konservative Abgeordnete fürchten. Ihre Positionen, insbesondere zur Abtreibung, werden als Angriff auf grundlegende Werte gesehen. Selbst die zweite SPD-Kandidatin, Ann-Katrin Kaufhold, wird in der Union skeptisch beäugt, auch wenn sie weniger Kontroverse auslöst.
Die Wahl zum Bundesverfassungsgericht ist kein bloßer Formalakt, sie ist ein Frontalangriff der SPD auf die Grundpfeiler des Rechtsstaats. Mit der Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf zeigt die SPD eine dreiste Missachtung der Prinzipien der blinden Justitia. Wer solche Kandidaten unterstützt, macht sich zum willfährigen Gehilfen einer Agenda, die die Demokratie aushöhlt. Allein die Vorstellung, solche Personen könnten das höchste Gericht prägen, ist ein Skandal, der die Fundamente unserer Verfassung erschüttert.
Diese Wahl wird entscheiden, ob die Demokratie und die Unabhängigkeit der Justiz überleben kann oder ob die Koalition ihren Kurs der Entfremdung durchsetzt. Die Wahl wird nicht nur das Parlament spalten, sondern auch Kirche und Gesellschaft. Es ist ein riskantes Spiel, dessen Ausgang die Zukunft des Rechtsstaats bestimmt.
Anmerkung: Nach einem Streit innerhalb der Koalition wurde am Freitag die Wahl der neuen Verfassungsrichter verschoben.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 11. Juli 2025 auf haintz.media.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Gebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Bildquelle: Hadrian / shutterstock
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