
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Irgendwas stimmt nicht mit der westlichen Kultur. Selbst überzeugte Nicht-Apokalyptiker werden nervös: Die Inflation senkt den Lebensstandard, die Miethöhe verdrängt die Unterschicht aus den Metropolen. Vielfalt? Ja, aber nur „Vielfältige“ mit hohem Einkommen. Vor allem aber: Die Wartezimmer der Psychiater und Psychologen sind zum Bersten gefüllt. Therapieplätze? Vergesst es. Die Unsicherheit entlädt sich in Burnouts, Depressionen und Phobien. Tendenz? Steigend. Das Schlimmste: Selbst wer keine Kraft mehr besitzt, strampelt weiter. Aus purer Angst. Nimmt Tabletten. Bis zum finalen Knall. Und wie reagiert die Politik? Die gießt Öl ins Feuer.
Bundeskanzler Merz fordert: Noch mehr Arbeit! Wettert gegen Gefallene, gegen Arbeitslose. In so einer Situation lauscht man gerne nach politischen Alternativen. Und die werden geboten: Vom Sozialismus-Revival bis zum bedingungslosen Grundeinkommen. Aber: Leider gibt es diese Alternativen nur als Theorie, zwischen zwei Buchdeckel gequetscht. In der Realpolitik findet nichts davon statt. Und wie immer lautet die Frage: Sind diese Ideen überhaupt praktikabel?
Seit einigen Jahren ragt ein kleines Bergland aus dem Nebel globaler Resignation. Eines, das dem Wachstums-Dogma des Marktes widersteht. Ein Königreich, das einen ganzheitlichen Gegenentwurf zum Bruttonationaleinkommen anstrebt: Das Bruttonationalglück. Der Name des Landes Landes: Bhutan. Sollte dieser kleine Himalaya-Staat tatsächlich eine Utopie eingelöst haben? Seit Jahren pilgern westliche Intellektuelle dorthin, wollen das Wunder aus der Nähe bestaunen. Das Land veranstaltet sogar Touristen-Seminare zu diesen Themen. Schließlich wirft das Konzept zahlreiche Fragen auf. Etwa: In wie weit kann, soll oder darf Politik überhaupt zuständig sein für das Glück der Bürger?
In der US-Verfassung gibt es seit 1776 das „Recht auf ein Streben nach Glück“, gemeint ist aber: Dass der Staat den Menschen nicht vorschreiben soll, wie und womit sie glücklich werden. Dass jeder Bürger den eigenen Weg zum Glück finden darf. In dieser Definition sind Glück und Freiheit untrennbar, beinahe synonym. Im Sozialismus lief es umgekehrt: Da besaß der Staat die Glücksformel für alle. Die sollte als Norm etabliert, notfalls durchgehauen werden. Aber Bhutan scheint einen dritten Weg zu eröffnen:
Die Bürger werden befragt und der Staat versucht, deren Glücksvorstellung zu realisieren. So jedenfalls die Behauptung.
Derzeit läuft ein ungarischer Dokumentarfilm in deutschen Kinos, der diesen Fragen nachgeht. Kein distanzierter Bericht mit wertendem Off-Kommentar. Stattdessen kommen ausnahmslos die Bürger selbst zu Wort. Titel: „Agents of Happiness“. Um es gleich zu sagen: Der Film liefert keine eindeutigen Antworten. Je tiefer er ins Detail geht, umso mehr Fragen kommen auf. Auch die nach dem Glück selber: Kann der Mensch es jemals erreichen? Oder bleibt es ewiges Versprechen? Nur für kurze Momente real?
Der Film beginnt in einem Schulzimmer. Ausgebildet werden künftige Agents of Happiness, Agenten des Glücks. Das sind Personen, die mit Fragebögen bewaffnet, sämtliche Einwohner aufsuchen, befragen und deren Glücksquotient errechnen. In Bhutan gibt es 75 solcher Glücksagenten. Die Umfragen wiederholen sich im 5-Jahres-Takt. Die Ausbilderin mahnt: Man solle diese Tätigkeit nicht als Nebenjob missverstehen. Die Antworten seien von hoher Bedeutung für politische Entscheidungen. Klingt erst mal gut: Eine Regierung, die ihre Bevölkerung ernst nimmt.
„Agent of Happiness“ ist ein Roadmovie, zeigt zwei Glücksagenten bei ihrer Fahrt durchs Land, ihren Stationen bei den Bürgern und ihre Befragungen. Es beginnt bei den Bauern. Inmitten steiler Gebirgshänge, dichter Bewaldung, durchzogen von Nebelschwaden, finden sich, fast vorsichtig platziert, kleine Häuser, religiöse Fahnen und Stupas.
Auffallend ist: Die Befragung, die auch sehr private Themen anspricht, ist keineswegs anonym. Nein, die Namen der Befragten werden erfasst. Seltsamerweise fehlt jede Angst. Die Befragten antworten ohne Zögern. Kein Wort von Verweigerung oder gar Boykottaufruf. Man kann nur die Daumen drücken, dass dieses Vertrauen nie missbraucht wird. Für jeden Bürger wird ein Glücks-Index errechnet. Nach der Erfassung von Namen, Alter und Familienstand stellen die Agenten Fragen, die eine Antwort zwischen eins bis zehn erlauben:
Beispiele: Wie gefällt es Ihnen hier? 10 heißt besonders gut. 1 steht für extrem schlecht. Oder: Sind Sie oft besorgt? Wie oft sind Sie schwermütig? Haben Sie guten Schlaf? Was macht sie wütend? Würden Sie sich als egoistisch bezeichnen? Besitzen Sie Kühe, Schafe, Hühner und wenn ja, wie viele? Sind Sie neidisch? Wie schätzen Sie Ihr Karma ein? - Solche Fragen wären in der westlichen Kultur eher im Rahmen kirchlicher Beichte oder Psychotherapie vorstellbar – aber kaum als Politikum. Eine junge Bäuerin wird nach ihrer aktuellen Befindlichkeit befragt. Sie antwortet mit einem detaillierten Bericht: Eine ihrer Kühe sei derzeit trächtig. Das erwartete Kalb bedeute langfristig eine Arbeitserleichterung für sie. Deshalb verortete sie sich an die Spitze des Glücksbarometers, bei der Zahl 10. Tatsächlich scheinen die Umfragen im ländlichen Areal den Regierungskurs zu bestätigen: Die Bürger Bhutans werden mehr von spirituellen Werten als von ökonomischen Erfolgsstreben gelenkt.
Dieser Eindruck relativiert sich jedoch, als die Glücksagenten eine Stadt erreichen. Hier kommt einem manches vertraut vor. Eine Nachtclubsängerin muss ihre krebskranke Mutter pflegen. Die wiederum hofft, dass ihre Tochter ein besseres Karma besitze als sie selber. Bei einer TV-Sendung zum Bruttonationalglück kommentiert die alte Frau: „Ob glücklich oder nicht, das ist egal. Wir müssen arbeiten, um zu überleben.“ Ihre Tochter, die Sängerin, bezeichnet das Bruttonationalglück lediglich als „Philosophie“ – nicht mehr. Andere berichten über innerfamiliäre Gewalt und Alkoholismus. Kurzum, die Stadtbewohner reden deutlicher über existenzielle und finanzielle Lasten, zeigen größere Skepsis gegenüber dem Bruttonationalglück als die ländlichen Bewohner.
Bhutan ist ein buddhistisches Land. Offizielles Ziel dieser Religion: Die Durchbrechung der Reinkarnationen, der Eingang ins Nirwana, in die ewige Ruhe. Den Befragten jedoch bedeutet die Aussicht auf weitere Reinkarnationen keine Qual, sondern Trost und Hoffnung: Du stirbst nicht endgültig, sondern kehrst zurück. Ein Mann befragt seinen Astrologen über die künftige Inkarnation seiner Frau. Dessen Computer errechnet, dass sie im kommenden Leben als Tischler arbeiten wird.
Wirklich traurig wird „Agent of Happiness“, als einer der beiden Glücksagenten, Amber, Einblick ins eigene Leben gewährt. Der Vierzigjährige wohnt noch bei seiner Mutter. Schlimmer noch: Er kann oder will seinen Traum von der „großen Liebe“ nicht aufgeben. Aber die von ihm geliebte Frau zeigt wenig Interesse. Stattdessen träumt sie von einem Studium in Australien. Dahin kann Amber sie nicht begleiten, denn er besitzt keinen Pass. Dem nepalesischen Migranten, vor politischen Unruhen nach Bhutan geflohen, wurde die Staatsbürgerschaft entzogen. Aber die Einbürgerung in seine neue Heimat, ist äußerst schwer. Bislang blieben seine Anträge ohne Erfolg. Und als Staatenloser bleibt ihm manch Teilhabe vorenthalten.
Nein, Bhutan ist kein Paradies. Auch der Himalaya-Staat ist in vieler Hinsicht kritikwürdig. Etwa die erschwerte Einbürgerung oder das – im Film nicht erwähnte - Fehlen einer Stütze für Arbeitslose. Aber dass eine Regierung tatsächlich Politik für die Bevölkerung macht, deren Meinung erfragt, nicht spaltet, sie nicht beschimpft oder zu Sklaven ideologischer Diktate erniedrigt - dass ist inzwischen schon viel. „Agent of Happiness“ zeigt keine realisierte Utopie, sondern erinnert an einen Politikstil, den der Westen auch einmal propagierte, aber seit Jahren eifrig demontiert.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Sammy L / shutterstock
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