Lyrische Beobachtungsstelle

Die Erde ist kein Wohnort mehr | Von Paul Clemente

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Jens Harders Comicband „Gamma“

“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Mancher, der ins Vergangene taucht, mutiert später zum Propheten: Ob Karl Marx, Friedrich Nietzsche oder Oswald Spengler. Sie wandelten sich von Historikern zu Futurologen. Ihre geistigen Ausgrabungen inspirierten Zukunftsvisionen, erlaubten Vorhersagen über Kommendes. 

Auch der prominenteste Futurologe der Gegenwart, Yuval Noah Harari, begann als Historiker. Nachdem er die Geschichte der Menschheit durch hatte, wechselte er mit „Homo Deus“ ins Reich der Prognose. Gestützt auf Visionen der Transhumanisten: Den Silikon Valley-Nerds und Frankensteins Erben in der Genforschung. Sie verrieten Harari, wohin die Reise geht. Welches Ziel sie ansteuern. Und das ist keinesfalls bescheiden. Tatsächlich wollen sie den Menschen auf die nächste Evolutionsstufe heben, ihn zum Über- oder gar Gottmenschen, zum „Homo Deus“ veredeln. Der soll alle Eigenschaften erhalten, die man bisher auf Götter projizierte. Insbesondere: Die Unsterblichkeit.

Während Harari sich auf Menschheitsgeschichte fixiert, knöpft sich der Berliner Comic-Zeichner Jens Harder die Geschichte des Universums vor, in vier Bänden dokumentiert. Band 1 „Alpha“, beginnt mit dem Urknall, der Entstehung und Ausbreitung des Universums. Der Bildung von Materie: Quarks, Protonen, Neutronen. Harder zeichnet diese Vorgänge, als wäre er live dabei gewesen. Allerdings ist ihm klar: Seine Version ist nur eine Möglichkeit. Eine von vielen. Deshalb flechtet er Bilder anderer Kulturen und religiöser Mythen in seine Bildgeschichte ein. Ein Spiel mit Assoziationen, das auch Relativierung enthält: Naturwissenschaftliche Perspektiven sind keineswegs alternativlos.

Nach dem kosmischen Prolog nähert der Zeichner sich der Erde. Einem unbewohnten Planeten, auf dem Meereswellen, Vulkane und Unwetter ein schauriges Orchester bilden. Nach Abkühlung der Oberfläche kam es in schlammigen Tümpeln zur chemischen Revolution: Lebende Materie entstand. Das geschah vor über vier Milliarden Jahren. Lange Zeit beherbergte die Erde nur Kleinstlebewesen. Erst spät traten Saurier und schließlich Hominiden auf den Plan. Die folgenden zwei Bände „Beta 1“ und „Beta 2“ erzählen die Geschichte des Menschen bis zur Gegenwart.

Jetzt erscheint mit „Gamma“ der vierte und letzte Band. Darin wagt der Berliner Comiczeichner sich in die Futurologie. Auch Harder glaubt: Das 21. Jahrhundert gehört dem Transhumanismus: Der Mensch verschmilzt mit digitalem High-Tech – mutiert zum Mischwesen, zum Cyborg. Seine Seele? Verschwindet zwischen Chips und Algorithmen. Harder zeichnet bizarre Menschmaschinen: Der Kopf mit Computern verdrahtet, aber im Mundwinkel hängt noch eine Kippe. In dieser Cyborg-Welt ist der traditionelle Mensch überflüssig. Das heißt: Er darf nicht bloß auf Arbeit verzichten. Nein, er muss es sogar! Arbeit wird ihm verboten. Wieso? Weil die KI sämtliche Tätigkeiten besser ausführt. Daher sind dem Menschen nur wenige Handgriffe pro Tag erlaubt. Damit er nicht so viel falsch macht...

Im Zuge der Selbstoptimierung wird dem Menschen die Erde zu klein. Die Expansion ins All beginnt. Finanziert durch kostspieligen Weltraum-Tourismus. Die von Elon Musk geplanten Mars-Reisen lassen grüßen. Im „Gamma“-Comic sind Digitalisierung und Extraterrismus nicht aufzuhalten. Bildzitate aus Filmen wie „Uhrwerk Orange“ oder „Die Zeitmaschine“ stellen klar: Zur Durchsetzung dieser Vision ist den Mächtigen kein Opfer zu groß. 

Aber gibt es keinen Widerstand? Doch. Vereinzelte, quasireligiöse Gemeinschaften. Die betreiben Baumkulte, verehren alte Pflanzen als große Weise. Solche Gruppierungen gelten als unregierbar, man erklärt sie für vogelfrei.

Auffallend ist, dass „Gamma“ gegenwärtige Diskurs-Moden ignoriert. Ob alte weiße Männer ihr Machtmonopol halten oder nonbinäre Grundschultoiletten errichtet werden – kein Wort und kein Bild dazu. Außerdem präsentieren Harders Zeitreisen keine „Helden“, keine Stars, heben keine Personen hervor. Die Schlacht um den Planeten ist eine Bild-Dokumentation aus der Zukunft, mit minimalen Kommentaren versehen. Als Farben kommen nur Weiß, Schwarz und Blau zum Einsatz. Die Zeichnungen wirken fragmentiert, oft beschädigt. Kurzum, die perfekte Endzeitästhetik.

Zurück zur Story: In den folgenden Jahrhunderten schließen die Computer sich zusammen: Ein digitales Mastermind entsteht. Das verfügt über sämtliche Informationen und beherrscht damit die Welt. Riesige Glaskuppeln werden errichtet: Biotope, weil die Luftqualität der Erde keine Atmung mehr erlaubt. Als Wächter fungieren riesige RoboCops. Auf ihren Helmen prangt das Wort „Obey“. Zu deutsch: Gehorche. Sogar Tiere werden in gigantische Weltraum-Archen gepfercht. Die Erde ist als Wohnort aufgegeben. Endgültig. Damit fällt die letzte Hemmung: Man schlachtet die verbliebenen Ressourcen des Planeten aus, zerrt, reißt und quetscht die letzten Bodenschätze heraus. Natürlich herrscht in den gläsernen Biotopen keineswegs Frieden. Anders als heutige Befürworter von Mars-Siedlungen zeigt Harder: Die Psyche der Bewohner wird rotieren. Die Folgen: Krawall, Destruktion und Revolten.

Sowohl Jens Harder wie Yuval Harari versichern, dass sie ihre Grusel-Szenarien keineswegs befürworten. Beide wünschen, die Zukunft möge anders verlaufen. Das Problem ist nur: Weder Politiker noch Wissenschaftler werden diese Entwicklung stoppen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass die Technik an ihre Grenzen stößt. Dass die menschliche Seele sich der Digitalisierung entzieht, dass der Transhumanismus sich als undurchführbar erweist.

Der letzte Abschnitt von „Gamma“ öffnet erneut das kosmische Zeitfenster: Mehrere Milliarden Jahre sind vergangen. Unsere Sonne: erloschen. Das Universum: Ein riesiges Grab. Letzte Gestirne brennen aus, werden zur Super-Nova - bis der Big Crunch das Trauerspiel beendet. Laut dieser Theorie kommt die Expansion des Universums in 20 Milliarden Jahren zum Stillstand. Dann zieht sich alles wieder zusammen. Zu einem kleinen Punkt. Wie vor dem Urknall. Als wäre alles nie gewesen. Kein Zeuge, der übrig bliebe. Eine Vorstellung, schrecklich und beruhigend zugleich.   

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Futuristischer Cyborg mit Staubsauger, während Frau in Freizeitkleidung auf bequemen Sofas liegt und zu Hause auf dem Smartphone spricht. Konzept der Roboter- und menschlichen Kooperation.

Bildquelle: VesnaArt / shutterstock 


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