Tagesdosis

Das Wiederkehren der Geister | Von Janine Beicht

audio-thumbnail
Tagesdosis 20251108 apolut
0:00
/1836.146925

Wie Goethe, Schiller und Kant unsere Zeit verdammen würden

Ein Algorithmus öffnet versehentlich ein Portal in die Vergangenheit. Die Geister der Aufklärung stehen plötzlich zwischen Drohnen und Gesichtserkennung. Sie sehen Menschen, die ihre Daten freiwillig opfern, ihre Meinung algorithmisch filtern lassen und Verbote als Tugend feiern. Die alte Idee der Freiheit ist zur App geworden und niemand bemerkt den Käfig.

Ein Kommentar von Janine Beicht.

Hinweis: Der folgende Text ist ein literarisches Gedankenexperiment zwischen Mensch und Maschine. Dieser Artikel, eine fiktive Begegnung der großen Geister der Aufklärung mit der Gegenwart, entstand in Zusammenarbeit mit einer künstlichen Intelligenz, ein Werkzeug der modernen Welt, die jene Denker wohl als ihren letzten Schüler verflucht hätten. Alle Zitate, Szenen und Dialoge sind erfunden, einzig die Fragen und neuen Realitäten gehören unserer Zeit.

Das Erwachen der alten Geister

Sie kamen nicht durch ein Wunder, sondern durch ein Versehen. Vielleicht hatte jemand an der falschen Stelle ein Archiv geöffnet, vielleicht ein Algorithmus zu tief in der Geschichte gewühlt. Jedenfalls standen sie plötzlich da: Goethe mit misstrauischem Blick, Schiller mit dem Anflug moralischer Entrüstung, Kant mit einer Stirnfalte, die sich nie wieder glätten sollte. Neben ihnen Nietzsche, der lachte, als er den ersten Blick auf die neue Welt warf. Nicht aus Freude, sondern aus Verzweiflung des Erkennens.

Vor ihnen lag das, was einst Deutschland gewesen war, nun eine Landschaft aus Glasfassaden, Werbetafeln und bewegten Bildern. Überall blinkte, schrie, belehrte und moralpredigte etwas. Kein Gedanke, kein Werk, kein Dialog, nur Dauerbeschallung. Goethe sah eine Menschheit, die den Buchstaben abgeschworen und sich dem Bildschirm ergeben hatte. Wo einst Geist entstand, tippte man nun auf einem kleinen teuflisches Kästchen. Er war der Erste, dem das dröhnende Schweigen die Sprache wiedergab.

Dies also nennt ihr Freiheit, die wir in Worten fanden und in Bildern verloren?
Freiheit, die sich nicht mehr erhebt aus der Kraft des Gedankens, sondern sich beugt vor dem flackernden Schein! Freiheit, die den Menschen seiner Würde entkleidet, indem sie ihm das Recht zu wählen lässt, doch nicht mehr die Fähigkeit, zu begreifen! O ihr Erben eines großen Geistes, ihr habt das heilige Feuer gegen kaltes Licht vertauscht, den Ruf des Gewissens gegen das Murmeln der Maschinen. Einst war die Freiheit ein Stolz der Seele, nun ist sie ein Zeitvertreib der Hände.“

Er erhielt keine Antwort.

Kant versuchte, Ordnung hineinzudenken. Er sprach von Vernunft, vom kategorischen Imperativ, und fragte sich, ob die Menschen dieser Zeit ihn vollkommen vergessen oder nie verstanden haben. Als er auf ein Plakat mit der Aufschrift „Unsere Demokratie verteidigen!“ blickte, das neben einem Bus mit dem Werbeaufdruck „Jetzt CO-neutral reisen“ prangte, schwieg er. Der Geist dieser Epoche war kein freier Wille, sondern ein programmiertes Bewusstsein.

Die Straßen erzählten eine Geschichte, die sich selbst widerlegte. Menschen mit Kopfhörern, in Bewegung, ohne Ziel. Autos, die selbst fahren, Telefone, die selbst denken, Regierungen, die nicht mehr regieren, sondern verwalten. Überall Regeln, Kontrollen, Signale. Die erträumte Freiheit wurde digital zertifiziert, Meinung algorithmisch zugelassen. Nietzsche sah sich um und sagte trocken:

„Der letzte Mensch tippt auf glatten Flächen und nennt es Schaffen. Er blinzelt, weil das Licht ihn blendet, nicht weil er etwas sieht. Er hat alle Fragen vergessen und dafür ein Menü aus Antworten bekommen. Er nennt seine Bequemlichkeit Frieden, seine Feigheit Moral und seine Knechtschaft Fortschritt. Er lächelt und hält es für Glück.“ 

Goethe trat an eine Art Glaswand, auf der sich Informationen bewegten. Politiker sprachen in Schlagworten, wie Schauspieler in endloser Wiederholung. Einer sprach über Gerechtigkeit, der nächste über Vielfalt, der übernächste über Nachhaltigkeit. Alle sagten eigentlich nichts. Schiller erkannte sofort das Muster.

„Die haben das einstige Theater übernommen, doch ohne Inhalt, ohne Flamme, ohne Herz! Sie spielen Rollen, die kein Dichter mehr schrieb, und sprechen Worte, die kein Gedanke mehr trägt. Das Pathos ist geblieben, doch die Wahrheit entflohen; die Bühne glänzt, doch der Geist ist fort. Sie reden von Tugend, ohne sie zu kennen, und von Freiheit, ohne sie zu fühlen. So ist das Schauspiel zur Parodie geworden und das Publikum applaudiert der Leere.“

Dann trat Luther hinzu, der fassungslos auf eine Kirche mit Regenbogenfahne blickte. Er fragte, ob dies nun das neue Evangelium sei? Niemand antwortete ihm, aber eine Lautsprecherstimme predigte Toleranz und weitere Worte in Gendersprache, die unverständlich daherkamen, in Endlosschleife. Wo einst Buße und Gewissen standen, war nun Marketing und Betroffenheit. Er lachte bitter:

„Ich habe einst gegen Rom protestiert, ihr aber habt euch gegen den göttlichen Verstand verschworen! Ihr habt das Wort verdreht, bis es keinem mehr tröstet und keinem mehr straft. Einst stand der Mensch vor Gott in Reue und Erkenntnis, nun steht er vor sich selbst in Eitelkeit und Irrtum.“

Sie alle verstanden bald, dass sie in einem Land standen, das sich selbst reglementierte, ohne zu wissen, wozu. „Unsere Demokratie“, so hieß das System, in dem angeblich alle alles mitbestimmen sollten und doch niemand etwas zu sagen hatte. Die Personen regierten nicht aus Vernunft, sondern aus Kalkül. Entscheidungen fielen, weil Interessengemeinschaften sie befahlen, nicht weil sie Sinn ergaben. Die alten Denker versuchten, die Logik zu erkennen, und scheiterten an der Abwesenheit derselben. Humboldt blätterte in einem der glänzenden Geräte, die man wohl „Tablet“ nannte, und las über das „Ministerium für Bildung“. Er stutzte. Das, was dort Bildung hieß, war eine Mischung aus moralischer Erziehung, ideologischer Dressur und digitaler Abstumpfung. Schüler lernten nicht mehr, zu denken, sondern zu glauben, an das, was ihnen täglich als Wahrheit verkauft wurde. Er sprach leise während er feststellte:

„Die Bildung der Zukunft ist die Kunst, sich freiwillig zu verblöden.“

Dann fügte Nietzsche hinzu, dass diese neue Gesellschaft Gott für tot erklärt und ihn durch Klimathemen, durch den Staat, durch eine absurde Angst ersetzt hat. Die neuen Priester hießen nun Experten, die Beichte war nun das Teilen der Meinung und die Hölle der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Die anderen nickten, zögernd und erschüttert.

Über ihnen kreisten technische Vögel. Sie wurden wohl Drohnen genannt. Eine Kamera erfasste ihre Gesichter. Sie verstanden nicht, warum. Kant fragte, welchem Zweck dies dienen solle. Schiller antwortete:

„Zur Sicherheit, sagen sie.“ „Vor wem?“„Vor sich selbst.“

Goethe sah eine Stadt, die greller leuchtete als alle Bühnen seiner Zeit, aber seelenlos war. Schilder verboten alles, was einst als selbstverständlich galt: Rauchen, Fortbewegung im eigenen Vehikel, Heizen, Denken und vor allem die neuen Zeichen und Symbole mit durchgestrichenen Feuerwaffen und Messern verstörte sie. Überall Verbote und das Volk dankte auch noch dafür. Er fragte sich, ob die Menschen ihre Ketten jetzt aus Bequemlichkeit trugen. Und während sie so standen, von Lärm, Bilderberieselung und moralischer Dauerbelehrung umzingelt, wurde ihnen klar: Sie waren nicht in der Zukunft. Sie waren in einer neuen Form des Mittelalters, nur mit fortschrittlicher Technik.

Die Welt der Flachpfeifen

Am zweiten Tag ihres unfreiwilligen Aufenthalts beschlossen die alten Geister, jene zu suchen, die angeblich das Land lenkten, nicht aus Neugier allein, sondern für ihre eigene Aufklärung über das, was aus der Welt geworden war. In ihren Zeiten war Macht noch eine Angelegenheit des Geistes gewesen. Man musste gelernt, gelesen, gelitten haben. Staatskunst war Berufung, nicht Beruf. Verantwortung bedeutete mehr als eine Pressekonferenz. Heute, so brachten sie in Erfahrung, hieß Macht: Sprechzettel, Parteitag, Talkshow und Textbausteine.

Goethe hatte schon beim ersten Blick auf den Glasbildschirm der Gegenwart verstanden, dass es keine echten Gelehrten mehr gab, nur noch Funktionäre, deren Bildung aus Zitaten bestand und deren Denken von neuen Ligaturen, die er noch nie gesehen hatte und die zum Beispiel „Hashtag“ genannt wurden, geprägt war. Er sah Gesichter, die sich selbst erklärten, ohne etwas zu sagen. Schiller bemerkte erschrocken: In ihrer Zeit hätte ein Mann, der so spreche, höchstens das Protokoll geschrieben; heute aber führe er die Regierung. Das politische Personal der Gegenwart war für sie ein anthropologisches Rätsel. Kant, der sich noch bemühte, Ordnung in das gedankliche Chaos zu bringen, beschrieb es so:

„Hier herrscht nicht die Sittlichkeit des Charakters, sondern die Klugheit des Vorteils. Der Mensch, der sich der Obrigkeit fügsam beugt, findet leichteren Zugang zu den Stufen des Ansehens; der Unwissende bleibt unbehelligt, weil er niemandem zur Prüfung seines Urteils Anlass gibt; und wer nichts wagt, vermeidet zwar den Tadel, aber auch jede Würde. So entsteht ein Zustand, in welchem der Mangel an Geist zur Bedingung des Fortkommens wird. Nicht der Gebrauch der eigenen Vernunft, sondern die geschickte Einfügung in das Regiment der Parteidisziplin entscheidet über das Gelingen. Der denkende Mensch, der sich dem Prinzip der Selbsttätigkeit der Vernunft verpflichtet weiß, ist verdrängt worden durch den Menschen, der sich selbst als Ware auf dem Markte der Meinungen darbietet.“

Leibniz analysierte das Phänomen nüchtern. Das Parteiwesen habe die Weisheit ersetzt, bemerkte er. Man habe die Republik der Ideen durch eine Republik der Interessen ausgetauscht. Es zähle nicht mehr, was richtig sei, sondern was nützlich erscheine, und zwar für denjenigen, der die nächste Liste anführen. Nietzsche grinste nur. Der Wille zur Macht sei hier zu einem Willen zur Dummheit veredelt worden, bemerkte er zynisch.

Die Gelehrten wollten verstehen, wie diese Menschen zu Politikern werden konnten. Sie lasen Lebensläufe wenn man sie so nennen durfte. Menschen ohne Ausbildung, ohne Beruf, ohne Erfahrung außerhalb ihrer Blase. Leute, die nie Verantwortung getragen, nie gearbeitet, nie etwas geschaffen hatten. Menschen, deren größte Leistung es war, sich in der einer Partei nicht unbeliebt gemacht zu haben. Schiller nannte es „eine neue Aristokratie der Mittelmäßigen“. Goethe blätterte durch eine digitale Enzyklopädie und fand die Begründung: Man nannte es wohl das ‚repräsentative System‘. Es solle den Volkswillen abbilden. Kant lachte bitter und äußerte, dann sei das Volk offenbar dümmer geworden, als sie befürchtet hätten. Die Politik der Gegenwart war für sie eine Possenbühne, ohne Inhalt und aufgeführt von Laiendarstellern, die sich dennoch für Shakespeare hielten.

Was sie besonders irritierte, war der übermäßige Geldfluss. Nicht aus Leistung, sondern aus Funktion. Millionen für Posten, Berater und Apparate. Staatliche Mittel, um private Karrieren zu vergolden. Nietzsche sagte:

„Der moderne Politiker predigt Verzicht, um selbst zu genießen. Er nährt sich von dem, was er den anderen verbietet, und nennt das Tugend. Er fordert Opfer, damit seine Schwäche als Moral erscheine. Einst hieß das Heuchelei , heute nennt man es Haltung.“

Kant sah in der heutigen Demokratie eine Perversion des Begriffs: Eine Herrschaft der Form über den Inhalt. Jede Partei behauptete, für das Volk zu sprechen, und jede meinte sich selbst. Ideologische Hüllen, die den wahren Verstand ersetzen. Programme, die man nicht liest. Parteitage, die wie religiöse Zeremonien wirkten, nur ohne echten Glauben und ohne Geist. Schiller seufzte, sie hätten den Staat in eine Bühne verwandelt und das Volk in Statisten. Goethe nickte und meinte, das Drama sei nur, dass das Publikum noch applaudiere. Sie sahen, dass Politik hier keine Verantwortung bedeutete, sondern Immunität. Wer im echten Leben scheitert, steigt auf. Wer irrt, wird befördert. Wer lügt, moderiert den Diskurs. Das System schützt die, die es zerstören. In den oberen Etagen saßen Menschen, die vom Begriff „Staat“ nicht mehr wussten, als dass er sie bezahlt. Und in der unteren saß ein Volk, das diese Klasse wählte, weil es keine Ahnung hatte.

Dann stießen sie auf ein weiteres Rätsel: Jene, die Kritik übten, galten nicht als Gelehrte und Denker, sondern als Feinde. Kritik war verdächtig geworden, abweichendes Denken wurde kriminalisiert. Wer sprach, riskierte seine Existenz. Wer schwieg, galt als tugendhaft.

„Man habe also gelernt, nicht zu denken, um zu leben“,

bemerkte Kant. Goethe fragte sich, wie ein Land, das einst kluge Köpfe hervorgebracht hatte, sich so tief in Denkverbote begeben konnte.

„Es gibt keine Zensur“, erklärte man ihnen, „nur Verantwortung für das, was man sagt.“

Luther war entsetzt:

„Das nannte man früher Inquisition und wahrlich, sie ist wiederauferstanden, nur trägt sie nun ein freundliches Antlitz! Sie brennt keine Leiber mehr, sie löscht Seelen. Sie schwingt kein Schwert, sie gebraucht die Zunge. Man nennt sie Verantwortung, doch sie ist Furcht; man nennt sie Moral, doch sie ist Macht. Einst verfolgte man Ketzer im Namen des Glaubens, nun verfolgt man Denker im Namen des Guten. Der Scheiterhaufen steht noch, nur das Feuer ist unsichtbar geworden.“

Dann beobachteten sie, wie das politische System seine eigene Macht sicherte: Durch Ausschüsse, Ämter, Förderprogramme, NGO’s und EU-Gremien. Alles war angeblich geregelt, doch nichts funktionierte wirklich. Jeder Apparat überwachte einen anderen, und am Ende war niemand verantwortlich. Schiller formulierte es scharf: Hier werde Verantwortung arbeitsteilig verwässert, bis sie keiner mehr trägt. 

„In unserer Zeit hätten wir über Ideen gestritten, mit Ernst, mit Leidenschaft, mit dem Glauben an das Denken selbst. Diese Menschen aber streiten über Begriffe, deren Sinn sie nicht fassen, und halten den Schatten für das Wesen. Sie kämpfen nicht um Wahrheit, sondern um Deutungshoheit, nicht um Erkenntnis, sondern um Zustimmung. So verlieren sie beides, die Wahrheit und die Freiheit des Geistes. Denn wo das Denken zum Werkzeug wird, dort stirbt die Idee.“

Am Abend standen die alten Weisen vor dem Regierungsviertel. Beton, Glas, Beleuchtung. Alles monumental, dennoch nichts bedeutend. Ein Sicherheitsbeamter erklärte ihnen, dass hier die Demokratie arbeite. Goethe antwortete ihm, dass sie nicht arbeite, sondern sich selbst demontiere. Und so realisierten sie: Die Welt der Flachpfeifen war kein Unfall, sie war das System. Eine Maschine, die Geist und Charakter aussortiert, weil beides stört. Sie produziert Politiker, die keine Verantwortung tragen, weil sie nichts wissen, und keine Scham empfinden, weil sie einfach nichts verstehen.

Die digitale Dystopie

Am dritten Tag begriffen sie, dass diese Welt keine Gedanken mehr brauchte, sie hatte diese neue Technik. Maschinen dachten und die Menschen wiederholten. Alles, was früher Werkzeug war, hatte sich in ein System verwandelt, das seine Benutzer kontrollierte. Leibniz, der die Mathematik einst als Ordnung des Denkens begriffen hatte, erkannte sie hier als Instrument der Herrschaft.

„Die Zahl, die einst Dienerin des Geistes war, hat sich wider ihren Herrn erhoben. Was der Mensch zur Ordnung seines Denkens erfand, gebraucht er nun zur Knechtung desselben. Der Algorithmus usurpiert das Urteilsvermögen, und die Statistik tritt an die Stelle der lebendigen Erfahrung. So herrscht das Rechnen über das Denken, und man nennt es Vernunft. Die Regierenden sprechen von Evidenz, doch was sie zeigen, ist nur die kunstvoll verschleierte Unwissenheit.“

Kant staunte über die Logik der neuen Moral. Menschen erklärten Maschinen zu ihren Beratern, trauten aber keinem Nachbarn. Sie glaubten an digitale Effizienz, aber nicht an menschliche Vernunft. Überall Kontrolle, nicht als Ausnahme, sondern als Zustand. Kameras an jeder Ecke, Sensoren in jeder Straße, Gesichtserkennung als Normalität. Der Gedanke an Freiheit war anscheinend lästig geworden und er störte selbstverständlich auch die Verwaltung.

Nietzsche lächelte spöttisch, als er sah, wie Menschen freiwillig ihr Innerstes preisgaben, Gedanken, Bilder, Vorlieben, Standorte. Die Menschen trugen ihre Fesseln in der Hosentasche. Goethe, der das Wort „Technik“ einst mit Schöpfung verband, sah in ihr nun das Gegenteil: Eine Welt, die nicht mehr erschafft, sondern sich selbst simuliert. Virtuelle Erlebnisse, künstliche Stimmen, Gefühle im Abo. Realität war ersetzt durch Darstellung. Dann begegneten sie der neuen Ökonomie. Nicht mehr der Tausch von Waren, sondern von Daten bestimmte den Reichtum. Geld war nur noch Zahlencode. Die Einführung von digitalem Zentralbankgeld, so erklärte man ihnen stolz, solle die Wirtschaft modernisieren. Schiller fragte, wer das kontrolliere. Die Antwort lautete: Niemand, also alle. Kant schüttelte den Kopf und verstand, dass der Staat dieses Privileg für sich beanspruchte.

Sie sahen, wie Kontrolle zur Tugend erklärt wurde. Jeder Einkauf, jede Bewegung, jede Meinung hinterließ Spuren. Der Mensch war transparent, die Macht hingegen anonym. Leibniz notierte nüchtern: Man hat den Leviathan perfektioniert. Hobbes wäre begeistert, der Mensch nicht.

Die Städte waren glänzend, geordnet, reguliert, dennoch dreckig, marode und seelenlos. Überall Hinweise, QR-Codes, Überwachung und Lenkung. Schiller betrachtete das Modell einer sogenannten „15-Minuten-Stadt“ und fragte:

„Das also nennt ihr das Ideal der Zukunft? Einen Menschen, wohlgeordnet, doch eingesperrt in einem goldenen Käfig! Alles ist berechnet, vermessen, gelenkt, nur nicht das, was ihn zum Menschen macht. Ihr habt die Freiheit in Zonen geteilt und die Seele in Quadrate vermessen. Die Wege sind kurz geworden, doch der Geist hat keinen Raum mehr. So wohnt der Mensch bequem und stirbt an seiner Bequemlichkeit.“

Man erklärte ihm, es gehe um Nachhaltigkeit. Er verstand es besser: Nein, um Kontrolle.

Humboldt erkannte die neue Verwaltungskunst: Endlose Formulare, digitale Portale, Zugangscodes, Verordnungen. Jeder Vorgang, selbst die Freiheit, war genehmigungspflichtig. Er sah, dass Freiheit nicht verboten, sondern verregelt wird, bis keiner sie mehr erkennt. Bürokratie war nicht mehr Werkzeug, sondern Weltanschauung.

Und über allem schwebte das Dogma des Klimas. Ein Glaube ohne Erlösung, aber mit Strafe. Luther verstand die Mechanik sofort: Sünde, Schuld, Buße, Ablass. Nur dass man jetzt nicht mehr an Gott glaubte, sondern an CO₂‑Abgaben. „Das ist keine Wissenschaft“, sagte er, „das ist Religion mit Rechenmodellen.“ Goethe ergänzte: „Und ihre Priester heißen Experten.“ Sie sahen, wie Energiepolitik zur moralischen Pose geworden war. Kraftwerke abgeschaltet, Versorgung geopfert, Wohlstand vernichtet, alles im Namen einer höheren Reinheit. Nietzsche fasste zusammen: 

„Sie zerstören, um zu retten, und nennen den Widersinn Ethik. Sie morden den Geist im Namen des Guten und halten das für Tugend. Ihr Heil ist Vernichtung, ihr Gewissen Dressur. So spricht der letzte Mensch: „Ich gehorche, also bin ich gut.“

Die alten Gelehrten sahen in dieser Welt keine Freiheit, sondern eine durchorganisierte Ohnmacht. Jeder Bürger war registriert, bewertet, kategorisiert. Wer abwich, wurde nicht bestraft, sondern ausgeschlossen. Konto gesperrt, Profil gelöscht, Ruf zerstört. Kein Kerker, keine Ketten, nur soziale Kälte. Schiller bemerkte

„Man hat die Guillotine abgeschafft und durch den Algorithmus ersetzt.“

Goethe äußerte, dass selbst das Denken in dieser neuen Ordnung digitalisiert war. Meinung entstand nicht mehr aus Erfahrung, sondern aus Konsens. Die Menschen hatten das Verlangen, recht zu haben, gegen das Bedürfnis eingetauscht, dazuzugehören.

Sie standen vor diesen Bildschirmen, auf denen Politiker erklärten, dass man gegen Hass kämpfe, gegen Falschinformationen, gegen Diskriminierung. Kant runzelte die Stirn:

„Das ist nicht Politik, sondern die Verwaltung kindischer Gemüter. Man predigt Tugend, um Gehorsam zu erzwingen, und nennt es Aufklärung. Man spricht vom Kampf gegen das Böse, um sich das Denken zu ersparen. So wird aus der Freiheit der Vernunft die Bequemlichkeit des Glaubens. Wo Politik zur Seelsorge für Infantilität wird, hört die Aufklärung auf.“

Dann sahen sie die neue Kommunikation: Kurznachrichten voller Empörung, Debatten ohne Argument, Urteile ohne Verständnis. Jede Meinung wurde gemessen, bewertet, etikettiert. Widerspruch galt als Verdacht, Nachdenken als Rückfall. Humboldt sah die Sprache zerfallen. Worte verloren Bedeutung, Begriffe wurden moralisch aufgeladen. Er sagte, dass die Sprache nicht mehr Ausdruck des Denkens, sondern seine eigene Zensur geworden sei. Die Gelehrten verstanden schließlich, dass diese Welt keine Dystopie in ihrem Sinne war, sie war freiwillig entstanden. Nicht durch Gewalt, sondern durch Gewohnheit. Menschen, die Freiheit zu anstrengend fanden, hatten sich für vermeintlichen Komfort entschieden. Sie lebten in einem digitalen Käfig, den sie selbst bauten. Und während sie sahen, wie die Menschen sich überwachen ließen, um Sicherheit zu fühlen, wie sie Armut hinnahmen, um moralisch zu wirken, wie sie auf Individualität verzichteten, um tolerant zu erscheinen, sprach Nietzsche das Urteil, das alle dachten:

„Der moderne Mensch hat seine Seele verkauft, nicht aus Not, sondern weil ihm das Nichts Unterhaltung bot. Er tauschte Tiefe gegen Ablenkung und nennt seine Leere Leben. Er langweilt sich nicht, weil er nichts hat, sondern weil er nichts ist."

Das Zeitalter der Absurditä̈t

Am vierten Morgen standen die alten Geister auf einem Platz, der von Reklametafeln, LED-Leinwänden und einem permanenten Informationsrauschen beherrscht wurde. Die Luft vibrierte vor Botschaften: Toleranz hier, Diversity dort, Klima jetzt. Die Menschen eilten vorbei, Gesichter von Bildschirmen beleuchtet, die Hände fest um ihre Geräte geklammert, und schienen die Welt nur durch diese Fenster wahrzunehmen.

Goethe blickte auf Kinder, die mit einem Begriffswortschatz aufwuchsen, der mehr aus sogenannten Genderpronomen, moralischen Appellen und politischen Schlagworten bestand als aus Literatur, Geschichte oder Philosophie. 

Nietzsche lachte wieder bitter, als er die Überflutung moralischer Inszenierungen bemerkte. Überall Mahnungen zu Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstoptimierung. Doch die Menschen verwandelten ihre Identität in ein Spiel der Selbstinszenierung: Männer in Kleidern, Frauen in Rüstungen, Menschen, die sich als Hunde, Einhörner oder unzählige andere Wesen erklärten. Luther sprach vollkommen irritiert:

Hier hat die Moral die Vernunft vom Throne gestoßen, und niemand erschrickt darüber. Darum ist’s gekommen, dass eure Zivilisation das Antlitz Sodoms und Gomorras trägt. Ihr predigt Tugend mit lauter Zunge und sündigt im Herzen mit Stolz. Wahrlich, wenn Moral ohne Vernunft regiert, wird selbst das Gute zur Versuchung.“

Die Straßen waren Orte ständiger Auseinandersetzung, doch Debatten hatten keinen Inhalt mehr. Man stritt nicht über Wahrheit, sondern über Symbole und Identitäten. Humboldt erkannte darin eine Gesellschaft, die sich in Ritualen verlor, die nur noch sich selbst bestätigten. Jede Handlung, jede Meinung wurde überprüft, bewertet, kategorisiert. Wer abwich, verschwand aus dem Blickfeld, nicht durch Gewalt, sondern durch Ausschluss aus der Wahrnehmung.

Schiller beobachtete die moralische Selbstinszenierung der Menschen. Überall gaben sie sich tolerant, gerecht, solidarisch, doch hinter jeder Fassade lag Gleichgültigkeit, Ohnmacht oder Berechnung. Die Gesellschaft schien in eine permanente Inszenierung, versetzt: Jeder war Darsteller und Zuschauer zugleich. Moral wurde zur Währung, Empörung zum Kapital. Goethe betrachtete derweil die Berichterstatter, die das Denken ersetzten. Sie bestimmten, was gesehen, gelesen und geglaubt wurde. Wahrheit war anscheinend nicht mehr relevant; Reizbarkeit und Engagement wurden bewertet.

Die alten Geister erkannten, dass die Zivilisation an ihrer eigenen Unvernunft zerbrach. Nicht durch Naturkatastrophen oder Krieg, sondern durch die freiwillige Aufgabe des kritischen Denkens. Menschen hatten ihre Körper, ihre Identität, ihre Kultur in ein Spiel der Selbstdarstellung verwandelt und dabei jegliche Orientierung verloren. Bildung, Gemeinschaft, Verantwortung, alles war nur noch ein Schatten ihrer ursprünglichen Idee und Lehre.

Goethe trat auf einen Hügel, von dem aus man die Stadt überblicken konnte. Die Gebäude blinkten, die Straßen summten, die Menschen bewegten sich wie Maschinen, doch der Geist war abwesend. Er flüsterte:

„Nicht durch Feuer wird die Welt vergehen, noch durch Krieg, sondern durch die stille Verwesung des Geistes. Nicht Donner noch Flamme, sondern Trägheit, Torheit, Furcht und die Verwirrung des eigenen Wesens vollenden den Untergang der Zivilisation. So stirbt nicht die Erde, sondern der Mensch, an sich selbst.“

Schiller schwieg lange und fügte dann hinzu, dass die Menschheit die Vernunft verraten habe. Und so standen die alten Geister als Zeugen vor einer Zivilisation, die alles besaß und doch alles verloren hatte, nicht durch äußere Feinde, sondern durch die freiwillige Aufgabe der menschlichen und instinktiven Fähigkeit, zu denken, zu urteilen und Verantwortung zu tragen. Sie hatten Maschinen, Moralismen, Genderideologien und Medien erschaffen, die das Leben ersetzten, während die Seele der Menschen unsichtbar wurde.

Das Zeitalter der Absurdität

Am Ende des Tages blicken die alten Denker ein letztes Mal auf diese Welt. Die Straßen glühten noch im Licht unzähliger Lampen und Leuchtflächen, die Fassaden schrien in Neonfarben Botschaften von Toleranz, Nachhaltigkeit und Sicherheit. Menschen huschen vorbei, die Augen immer noch auf ihre mobilen Geräte gerichtet, die Hände an Identitätskarten und Apps geklammert. Jede Bewegung wurde weiter überwacht, jede Meinung bewertet. Schiller räusperte sich, als er sagte: 

„Hier irrt der Mensch, solang er strebt, doch nun irrt er nicht mehr, weil er aufgehört hat zu streben.“

Ihre Augen ruhten auf einem Werbebildschirm, der lachend den neuesten Gendertrend propagierte: Männer in Kleidern, Frauen in Uniformen, Kinder, die einer Frau applaudierten, die halbnackt vor ihnen tanzte, und dazwischen Menschen mit Masken, die sich euphorisch als Teil einer bunten Identitätsparade feierten.

Kant bemerkte, dass die Freiheit in dieser Welt nicht mehr Zweck, sondern Mittel geworden sei, ein Schlagwort des Eigennutzes, nicht der Vernunft.

Er schaute auf die Gesichter der Vergangenheit und las die Enttäuschung in ihren Gesichtern. Leibniz ergänzte:

„Diese ist nicht die beste aller möglichen Welten, sie ist die vernünftigste aller Irrenanstalten.“

Logik und Vernunft waren in dieser neuen Welt nicht relevant; Die Regeln des Systems bestimmten die Realität, nicht Erfahrung, nicht Geist, nicht Urteil. Die Menschen spielen Rollen, deren Bedeutung sie längst vergessen haben, und feiern ihre eigene Selbstaufgabe als Triumph. Über den Dächern kreisten immer noch diese Drohnen wie Geier über einem toten Paradies.

Dann kehren sie zurück in ihr Grab, nicht aus Angst, sondern aus Scham, denn sie wussten nun: Die Zukunft, die sie einst erträumten, ist nicht gescheitert, sie wurde verraten. Die Zivilisation ist nicht gefallen, sie hat sich selbst verkauft. Und das Schlimmste daran: Niemand hatte es bemerkt. Die Menschen applaudierten sich selbst, während die Welt zerfiel. Sie waren stolz auf ihre selbstempfundene Perfektion, aber blind für das Chaos. Goethe erklärte zum Schluss noch einmal die Ironie:

„Die Menschheit hat alles erkannt, vermessen und benannt, nur den Sinn des Lebens hat sie verloren.“

Die anderen nickten stumm. Und so bleibt das neue Deutschland laut und dennoch still, nur die Bildschirme summen, nur die Drohnen kreisen, und die alten Geister verschwinden in der Erde, wissend, dass ihre Warnungen nie gehört werden, weil niemand mehr zuhört und die Vernunft längst abgeschafft wurde.

+++

Dank an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

+++

Bild: Denkmal der berühmten Schriftsteller Goethe und Schiller in Weimar, Deutschland
Bildquelle: phoelixDE / shutterstock


+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit der:

Spenden-Kryptowährung „Nackte Mark“: https://apolut.net/unterstuetzen/#nacktemark

oder mit

Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoin

Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/

+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.

+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/

+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut

Janine Beicht Immanuel Kant Friedrich Schiller Johann Wolfgang von Goethe Friedrich Nietzsche Freiheit Martin Luther Humboldt Erziehung