
Ein Standpunkt von Stephan Ossenkopp.
Irgendwann in diesem Jahr wird eine Schraube angezogen, die die Fertigstellung des 50.000sten Bahnkilometers markiert. 50.000 in einem Land, das überhaupt erst 2008 mit dem Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken begonnen hat. Die Rede ist von der Volksrepublik China. Bei den Reisegeschwindigkeiten hat das Land bereits alle hinter sich gelassen und hält eine Monopolstellung, wo 350 Kilometer pro Stunde vielfach schon die Regel sind. Im laufenden Jahr sollen mit einem neuen Modell sogar 400 km/h Fahrgeschwindigkeit erreicht werden. Die Züge sind komfortabel, pünktlich, die Bahnhöfe groß, sauber und sicher. Vergleicht man das mit den ruckelnden Fahrten im deutschen ICE, den allgegenwärtigen Verspätungen, den technischen Ausfällen, schaut man mittlerweile mit einer Mischung aus Unverständnis, Wut und Mitleid auf das einst so starke Deutschland. Wie steht es heute um die Schnellbahnen in China? Und wo steht der einst so stolze und hochtechnisierte Westen?
Wenn man bedenkt, dass sich ältere Chinesen noch daran erinnern können, dass eine Zugreise in die Heimat während des Frühlingsfestes im Extremfall eine dreitägige, beschwerliche Pilgerfahrt sein konnte, die drei Monatsgehälter kostete, oder dass man einen Tag lang Schlange stehen musste, um ein Ticket zu bekommen, dann haben diese Zeitgenossen bis heute ein wahres Entwicklungswunder erlebt. Heute werden die Fahrkarten mit dem Smartphone bestellt und die gleiche Reise dauert 3 Stunden im Bullet Train. Die Familienbesuche während des chinesischen Neujahrsfestes, egal wie weit entfernt, sind eine fast heilige Angelegenheit. Die Reisesaison dauert rund 40 Tage und für diesen Zeitraum allein werden bei der chinesischen Eisenbahn über 500 Millionen Fahrten gebucht. Im Online-Ticketshop der Bahn, dem größten Echtzeit-Ticketshop der Welt, werden bis zu 1.000 Fahrkarten pro Sekunde verkauft. Die Reisezeit während des Frühlingsfestes ist sozusagen der ultimative Stresstest für das chinesische Eisenbahnsystem.
USA weit abgeschlagen
Die chinesische Eisenbahn, vor allem die Hochgeschwindigkeitsvariante, wird durch staatliche Investitionen vorangetrieben. Allein im Jahr 2024 wurden umgerechnet 116 Milliarden US-Dollar in die Eisenbahn investiert. Dafür wurden insgesamt 3.100 Kilometer neue Schienenwege gebaut. Das Erstaunliche: 2.450 Kilometer davon waren Hochgeschwindigkeitsstrecken. Das Gesamtnetz erreichte 162.000 Kilometer, und davon waren sagenhafte 48.000 Kilometer Hochgeschwindigkeitstrassen. Tausende moderner Züge, deren Design sich längst von europäischen Vorbildern gelöst hat, verkehren zwischen Chinas Metropolen und stellen bereits heute eine Alternative zum Flugverkehr dar. Wenn man bedenkt, dass vor der Eröffnung der ersten chinesischen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Peking und Shanghai diese Art der Fortbewegung praktisch keine Rolle spielte, ist es beeindruckend, dass die chinesische Flotte an Schnellzügen im Jahr 2022 bereits einen Weltmarktanteil von 55 Prozent erreicht hatte. Zum Vergleich: Alle Industrieländer zusammen kommen heute gerade mal auf 40 Prozent. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die USA bei vernachlässigbaren 0,3% liegen. In den USA wird nur geflogen oder Auto gefahren. Selbst Saudi-Arabien, Marokko und die Türkei haben die USA inzwischen überholt.
Das nationale chinesische Eisenbahnprogramm erhielt einen besonderen Schub, als das chinesische Kabinett (Staatsrat) 2016 einen mittel- und langfristigen Plan für den Ausbau des Schienennetzes verabschiedete, der den damals bereits acht Jahre alten Plan der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission auf den neuesten Stand brachte. Man stellte fest, dass die Eisenbahn nicht nur ein zentrales Transportmittel für China sei, sondern auch eine mächtige Stütze seiner Wirtschaft. Ziel war es, ein integriertes System aus Schiene, Straße, Wasserwegen und Luftverkehr zu schaffen. Der Ausbau der Hochgeschwindigkeitsbahn erfolgte in acht Nord-Süd- und acht West-Ost-Korridoren. Gleichzeitig sollte der Fokus stärker auf Zentral- und Westchina gelegt werden und nicht nur auf die Küstenregionen und die bereits stärker entwickelten Metropolen.
Bald 70.000 km Schnellbahnen
Im Jahr 2020 legte die staatliche Eisenbahngesellschaft erstmals einen Plan bis 2035 vor. Es ist nicht unüblich, dass neben den gesamtwirtschaftlichen Fünfjahresplänen auch Fünfzehnjahrespläne für einzelne wichtige Bereiche aufgestellt werden. Dieser Fünfzehnjahresplan sieht vor, das Gesamtnetz auf 200.000 Streckenkilometer auszubauen, wovon allein 70.000 Kilometer mit Hochgeschwindigkeitszügen befahren werden sollen. Das bedeutet, dass künftig alle Städte mit mindestens 200.000 Einwohnern durch Schienenwege miteinander verbunden sein werden und alle Städte mit mindestens einer halben Million Einwohnern über einen Hochgeschwindigkeitsanschluss verfügen werden. Schon heute haben 95% aller Städte mit mindestens einer Million Einwohnern einen solchen Schnellbahnhof. Die Mindestgeschwindigkeit beträgt dabei 250 km/h.
Auf der 2011 eröffneten Strecke Peking-Shanghai fahren die Züge immer noch mit 350 km/h und werden von Geschäftsreisenden und Touristen als bequeme und zuverlässige Alternative zum Inlandsflug angesehen. Aber auch in relativ dünn besiedelten Gebieten treibt China den Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken voran, um die Grundlagen für Vernetzung und Mobilität zu schaffen. Von Lanzhou, der Hauptstadt der nordwestlichen Provinz Gansu, führt eine 1.785 Kilometer lange Strecke durch Halbwüstengebiete nach Ürümqi im Westen Xinjiangs, von wo aus es nicht mehr weit bis zur kasachischen Grenze ist. Ziel ist es, mittelfristig auch die ariden Zonen im Westen zu erschließen und eine Hochgeschwindigkeits-Seidenstraße aufzubauen.
Deutschland kränkelt
Und Deutschland? Laut dem Atlas High Speed Rail 2021 des Internationalen Eisenbahnverbandes (UIC) verfügte Deutschland in jenem Jahr über ein Hochgeschwindigkeitsnetz von 1.570 km. Im deutschen Schienennetz gibt es jedoch keine Trennung zwischen ICE und konventionellen Zügen. Dadurch ist die Infrastruktur sehr hohen Strapazen ausgesetzt. Die bahneigene Infrastrukturgesellschaft InfraGO bezeichnet dies als „hochbelastetes Netz“. Gleise, Weichen, Bahnübergänge und Stellwerke im Wert von über 90 Mrd. Euro (16% des Gesamtwertes) würden nur im Notenbereich schlecht bis mangelhaft liegen. Die Investitionen der Deutschen Bahn liegen bei nur rund 8 Mrd. Euro pro Jahr. Und das, obwohl betriebliche oder technische Maßnahmen zum Teil sofort ergriffen werden müssten, sagt InfraGO. Vor allem bei Leit- und Sicherungstechnik, Bahnübergängen und Stellwerken sorge der verschlechterte Zustand für Störungen und Verspätungen. Zudem seien 20 Prozent des Oberbaus mit Note 4 oder schlechter zu bewerten. Selbst bei einer Aufstockung der Mittel wird sich Deutschland also noch lange mit einer sehr mittelmäßigen Gesamtleistung begnügen müssen. Inzwischen kursieren bahninterne Angaben, die von einer Pünktlichkeitsquote von nur knapp über 60% sprechen. Von den derzeit noch 400 ICE-Zügen ist ein Viertel nicht einsatzbereit. Und die Kosten für Wartung und Reparaturen steigen und steigen.
In China plant man derweil schon die nächste Generation des schnellen und bequemen Reisens: die Magnetschwebetechnik. Zum einen wurden bereits Magnetschwebebahnen für den Nahverkehr mit Geschwindigkeiten von 140 bis 200 km/h in Betrieb genommen. 90 Prozent der verwendeten Komponenten stammen dabei übrigens aus chinesischer Produktion und sind durch chinesische Patente geschützt. Und noch immer fährt der 2002 in Deutschland gekaufte Transrapid zuverlässig, pünktlich und wartungsfrei mit über 430 km/h vom Flughafen Shanghai über eine Strecke von 30 km in die Stadt. China mag sich anfangs noch am deutschen Modell orientiert haben, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Deutschland entwickelt die Magnetschwebetechnik nicht weiter und hat sie de facto in der Versenkung verschwinden lassen.
Chinas ehrgeizige Ziele
Deutsche Ingenieure bezeichnen China inzwischen als Weltzentrum der Magnetschwebetechnik. Nur Südkorea und Japan können noch einigermaßen mithalten. Vor einigen Jahren wurde ein chinesischer Magnetschwebebahn-Prototyp vorgestellt, der Geschwindigkeiten von bis zu 620 km/h erreichen soll. Im September letzten Jahres wurde sie dann in voller Pracht präsentiert, eine neue supraleitende elektrische Magnetschwebebahn. Auch das sogenannte Hyperloop-System, bei dem Züge wie Gewehrkugeln durch eine sie umgebende Vakuumröhre schießen, wird von chinesischen Universitäten weiterentwickelt. Im vergangenen Jahr wurde eine Spitzengeschwindigkeit von 623 Stundenkilometern mit problemloser Bremsung gemeldet. Als nächster Schritt ist eine 60 Kilometer lange Teststrecke geplant, auf der das T-Flight genannte System Geschwindigkeiten von 1.000 Kilometern pro Stunde und mehr erreichen soll. Die 1.300 Kilometer lange Strecke von Peking nach Shanghai würde das System dann, sollte es jemals Realität werden, in rund einer Stunde und dreißig Minuten zurücklegen. So lebt und gedeiht ironischerweise von Deutschen entwickelte Spitzentechnologie in einem anderen Land, wohingegen sie im eigenen Erfinderland durch politische und ideologische Vorurteile abgewürgt wird.
China entwickelt sich zunehmend vom ehemaligen Dritte-Welt-Land zum Vorbild für saubere, zuverlässige und bequeme Mobilität in Gegenwart und Zukunft. Chinas ehrgeizigstes Ziel ist es, Menschen innerhalb weniger Stunden von einem Ballungszentrum in ein anderes bewegen zu können. Das betrifft nicht nur den Personenverkehr, sondern auch die Zustellung von Post und Paketen, die per Express innerhalb eines Tages in ganz China ausgeliefert werden sollen, und das bei der Größe und Komplexität des Landes. In Deutschland geht man seit der letzten Postreform genau den umgekehrten Weg und beschließt längere Lieferzeiten.
Ausblick: Bis 2035 wird China neben 70.000 km Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecken über 27 große Küstenhäfen und 400 zivile Verkehrsflughäfen modernster Bauart verfügen und damit endgültig zur wichtigsten Drehscheibe für Technologie, Handel, Industrie, Tourismus, Kultur und Zivilisation werden. Wir in Deutschland müssen uns jetzt schon anstrengen, um nicht irgendwann auf den Stand Chinas der 70er Jahre zurückzufallen.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: gui jun peng / shutterstock
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