
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Wenn der Filmindustrie die Stoffe ausgehen oder die Angst vor Risiken steigt, dann greift sie auf Remakes und Fortsetzungen zurück. Heraus kommt dann: Die hundertste Verfilmung vom „Graf von Monte Christo“ oder der siebte Teil von „Jurassic Park“. In der Not muss Altbewährtes retten. Ein Genre, worauf sich Produzenten aktuell stürzen, ist das Biopic. Auf deutsch: Die Filmbiographie. Filme, die das Leben prominenter Person oder historischer Großkaliber nachzeichnen. Das Genre ist fast so alt wie das Kino selbst. Das erste abendfüllende Biopic entstand 1906 unter dem Titel „The Story of the Kelly Gang“. Der Gangster Ned Kelly galt im späten 19. Jahrhundert als „Robin Hood von Australien“, besaß dort hohe Popularität. Dieses Vertrauen auf die magnetische Wirkung prominenter Lebensläufe ist ungebrochen. Man kurbelt Blockbuster wie „Oppenheimer“ über die Tragik des gleichnamigen Atomphysikers. Oder kleine Produktion wie „Die Herrlichkeit des Lebens“ über die letzten Monate von Franz Kafka.
Während der letzten Monaten schwoll diese Welle zur wahren Sturmflut an: Im Herbst startete „The Apprentice“. Der erzählt, wie Millionenerbe Donald Trump durch einen skrupellosen Anwalt zum Machtpolitiker erzogen wurde. Besonders Musiker boomen: „Like a complete unknown“ zeigt Bob Dylans Aufstieg als Protest-Barde in den 1960ern. In „Callas“ spielte Angelina Jolie die letzten Wochen der weltberühmten Operndiva. Zurückgezogen in ihrer Pariser Wohnung. Ihre Hauptnahrung: Psychopharmaka. Ebenfalls dabei: Biopics über Joan Baez, Amy Winehouse und aktuell über Charles Azanvour. Der zählte neben Edith Piaf und Jacques Brel zur ersten Garde der Chansonsänger. - Kurzum, biographiert werden Personen, die bereits einen großen Fan-Kreis besitzen. Das heißt für den Produzenten: Ein relativ gesichertes Publikum. Weitere Beispiele: „Köln 75“ über Vera Brandes. Die war keine Musikerin, etablierte aber Deutschland als internationalen Hot Spot für Konzerte. Oder „Priscilla“ über die Lebensgefährtin von Elvis Presley. Derzeit ist ein weiteres Biopic über „Napoleon“ in Arbeit, obwohl Ridley Scott erst vor zwei Jahren eins geliefert hatte. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass sie – im Gegensatz zur Buchbiographie – nur Teile, nur Anekdoten erzählen. Und sich große Freiheiten herausnehmen. Darin ähneln sie dem historischen Roman. Quentin Tarantino, ein großer Verächter von Biopics, erklärte:
„Selbst bei der interessantesten Person – wenn man ihr Leben von Anfang bis Ende erzählt, wird es ein verdammt langweiliger Film.“
Deshalb reduzieren Biopics das Leben auf eine Aneinanderreihung intensiver Momente, suggerieren eine Existenz auf 1000 Volt-Niveau.
Durchforstet man die Filmgeschichte nach früheren Biopic-Moden, wird man in der zweiten Hälfte der 1930er und 40er Jahre fündig. Vor allem in Deutschland: Bedeutende Persönlichkeiten wie Friedrich Schiller, Rembrandt, Paracelsus, Andreas Schlüter oder Friedrich II. wurden vom NS-Regime filmisch vereinnahmt. Präsentiert als missverstandene Kämpfer gegen ihre Zeit. Die sich am Ende aber durchsetzen. Ähnlichkeiten mit Hitler waren intendiert. Zum Verständnis der heutigen Biopic-Welle ist das Hollywood jener Jahre ergiebiger: In der zweiten Hälfte der 1930er war in den USA jegliche Hoffnung auf Überwindung der Wirtschaftskrise, der „Great Depression“ verpufft. Roosevelts „New Deal“-Politik hatte sich als Misserfolg erwiesen. In Phasen kollektiver Desillusionierung geht die Verantwortung für gelungenes Leben wieder ans Individuum zurück. Seelische Notversorgung bot das Kino unter anderem durch Biopics. Über Personen, denen Übermenschliches, Unvorhersagbares gelungen war - wie den Ärzten Louis Pasteur, Paul Ehrlich oder dem Autor Emile Zola. Der hatte die Freilassung des unschuldig verurteilten Offiziers Alfred Dreyfus erwirkt. Oder Abraham Lincoln, der als junger Anwalt gegen unfaire Prozesse kämpfte. Wenn die Gesellschaft versagt, wenn kulturelle Kartenhäuser einstürzen, muss der Einzelne, muss ein Quasi-Superheld, muss das „Genie“ einspringen. Ein Begriff, der sich in der Sturm- und Drangzeit zum Rettungsanker etablierte.
Im 18. Jahrhundert nämlich, als die Aufklärung sämtliche Fundamente von Staat und Religion ins Wanken brachte, verkündete eine literarische Bewegung den Glauben an das große schöpferische Individuum: Dem „Genie“. Das brauchte keine Tradition, keine kollektiven Grundsätze mehr. Das schöpfte ganz aus sich selbst. Aus seiner eigenen Natur. Goethe, in jungen Jahren selbst Teil der Sturm und Drang-Bewegung, nannte seine Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“. Das Wort „Dichtung“ verrät: Manches ist wahr, anderes hingegen fiktiv. Soll heißen: Das große Individuum, das Genie ist ebenfalls Mythos, Selbstinszenierung, Dichtung.
Auch 2025 beben die Fundamente, herrscht gefühlte Endzeit: Der Weltfrieden ist in akuter Gefahr, die CDU-Regierung bringt angesichts der Inflation nichts anderes als Bürgerbeschimpfung, als Appelle zu noch mehr Arbeit und Drangsalierung sozial Schwacher. Und Klimaforscher verkünden den baldigen Hitzetod. Probleme, die vor Jahrzehnten gelöst schienen - plötzlich sind sie wieder da. Aber nicht nur in Deutschland: Der ganze Westen verharrt in No Future-Stimmung. Zukunftsperspektive? Fehlanzeige. Was also tun? Zumal: Wenn keine Lösung gesellschaftlicher Probleme ansteht, bleibt auch die Frage der eigenen Lebensform ungelöst. Scheinbar gab es nie so viele Möglichkeiten wie heute, aber der Kompass fehlt. Ehemals geistige Autoritäten oder Impulsgeber - die Sloterdijks, die Zizeks, die Habermase und selbst der Papst – haben den Anschluss längst verloren. Sogar die Kulturtipps holt man sich nicht mehr beim Feuilletonisten. Lieber folgt man Influencern oder anderen Trendsettern im Internet. Bei Lebensfragen hört man Ratgeber-Podcasts oder geht gleich zum Therapeuten. Eine Schauspielerin sagte kürzlich:
„Wenn ich Lebenshilfe brauche, lese ich keine Philosophen, Politologen oder Soziologen. Dann lieber Wallstreet-Broker. Die wissen wenigstens, wie man durchkommt.“
Daher bezeugt das Interesse an Selbstdarstellungen im Internet keineswegs nur voyeuristische Neugier. Hier geht es um Inspiration und Identifikation für das eigene kleine Leben. Da Eltern, Lehrer, Helden und Heilige nicht länger als Vorbilder taugen, übernehmen Prominente der Populärkultur oder Influencer diesen Job. Deren Online-Tagebücher oder Blogs ähneln den Biopics: Das eigene Leben wird als Kette von Events präsentiert. Die soll vor allem eins beweisen: Erfülltes Leben kann auch in mageren Zeiten gelingen. Galt früher ein Mercedes als Statussymbol, übernimmt heute das ereignisreiche Leben diese Funktion. Als Schaufenster dienen Instagram oder Facebook. Oben ist, wer bei anderen Lebens-Neid hervorruft.
Von Theodor Adorno stammt der legendäre Satz:
Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Im aktuellen Interesse am Biographischen steckt der gegenteilige Glaube: Es gibt das richtige Leben im falschen. Man muss es nur finden. Und manche haben es doch gefunden. So scheint es zumindest. Natürlich ist auch radikale Selbstverantwortung pure Illusion. Eine, die der Neoliberalismus schamlos für seine Entsolidarisierung missbraucht. Aber der Glaube an Autonomie, Bedeutung und Macht des Einzelnen ist fest in der abendländischen Tradition verwurzelt. Das lässt sich so schnell nicht abschütteln. Über dem griechischen Orakel, durch das der Gott Apoll zu den Ratsuchenden sprach, prangte der Imperativ
„Erkenne dich selbst“.
Die Selbstreflexion als fundamentale Erkenntnis, als Forderung vom Lichtgott Apoll. Durchleuchte dich. Nicht die Gesellschaft, nicht die Natur, sondern Dich. Mag der Glaube ans Individuum auch noch so beschädigt, durch Psychologie und Neurobiologie dekonstruiert sein: In den Mythen der Biopics, in literarischen Biographien oder Internet-Blogs erfährt dieser Glaube seine Restauration und erscheint er als Rettungsanker, wo kollektive Hoffnung versagt.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: DavideAngelini / shutterstock
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