Lyrische Beobachtungsstelle

125. Todestag von Friedrich Nietzsche: Das große Schweigen | Von Paul Clemente

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“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Welchen Zweck haben Jubiläen? Wieso runde Geburts- und Todestage der Promis abfeiern? Weshalb diese Zahlenfixierung? Bestenfalls lassen sich Jubiläen als Prüfungen deuten. Als intellektueller TÜV über die verbliebene Bedeutung des Gefeierten. Ob eine erfolgreiche Vereinnahmung gelungen ist. Bei Jubiläen zeigt sich: Wen will die Gegenwart beerben und wen nicht mehr? Dabei spielt die Quantität der Ehrungen eine entscheidende Rolle.

Nehmen wir als Beispiel den Schriftsteller Thomas Mann. Dieses Jahr feiert man seinen 150sten Geburtstag. Und tatsächlich: Neben Neuauflagen seiner Romane stapeln sich druckfrische Biographien: „Thomas Mann – Ein Leben“, „Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk“. Oder als Strandlektüre: „Thomas Mann macht Ferien: Ein Sommer am See“. Oder: „Thomas Mann - Ein Lebensbild in Anekdoten“. Und so weiter. Ja, bei Mann ist die Integration voll gelungen. Aus nachvollziehbarem Grund:

Wie sein Vorbild Goethe bündelte Thomas Mann prägende Impulse seiner Zeit – und transformierte sie ins Großbürgerliche. Etablierte sie als Bildungskost für jene Schicht, als deren Vertreter er sich inszenierte. Sogar intellektuelle Wüstlinge wie Richard Wagner und Friedrich Nietzsche erhielten ihren Platz. Dabei wurde mancher Reißzahn gezogen, manche Klaue gestutzt, manches Gift verdünnt. In der Spätphase seines Lebens, erschüttert durch den NS-Terror, wandte Mann sich einem christlichen Humanismus zu. Einem Humanismus, der Gott als Moral-Garanten akzeptierte – aber ohne Dogma, ohne Missionseifer. Eher als Postulat. Daran findet auch das postchristliche Bürgertum des 21. Jahrhunderts seinen Anschluss.

Anders bei Friedrich Nietzsche. Dessen Tod jährt sich am 30. August zum 125sten Male. Und? Was wird geboten? Im April erklärte die UNESCO Nietzsches Schriften zum Bestandteil ihrer „Memory of the World“, dem Weltdokumentenerbe. Nicht schlecht, aber: Kaum jemand hat es bemerkt. Ein paar kleine Zeitungsmeldungen. Fertig. Und neue Bücher, Studien, Biographien? Fehlanzeige. Allenfalls eine Spezialanalyse: „Nietzsche: Leben und Denken im Bann des Christentums“ von Christian Tietz. Diese Mini-Resonanz grenzt an Erbschaftsverweigerung. An passiven Widerstand. Da drängt die Frage nach dem Warum.

Gleich zweifach wurde Nietzsche im 20. Jahrhundert als Super-Star inthronisiert: Einmal im Dienst der Nazis. Der „Übermensch“ als Produkt der „Rassenzucht“. Ein intellektuelles Total-Desaster. Die zweite Renaissance versuchten postmoderne Linke wie Gilles Deleuze: Nietzsche als WG-Lektüre. Und jetzt? Der große Abschied? Das endgültige Einmotten? Um diese Frage zu beantworten, überspringen wir die zahlreichen Facetten des Philosophen, und wenden uns dem zentralen Punkt, dem Herzstück seines Denkens zu.

Einer seiner legendären Sätze lautete: „Gott ist tot“. Was heißt das? Nietzsche hatte vor 143 Jahren konstatiert: Das Christentum befindet sich im Niedergang. Es hat seine Glaubwürdigkeit verloren. Und mit ihm die Moral, die es stützte. Zweitausend Jahre lang hatte es die Erde als wertloses „Jammertal“ denunziert, sämtliche Werte und Zielsetzungen ins Jenseits verlegt. Erreichbar erst nach dem Tode. Aber was passiert, wenn nach lang eingeübter Diesseits-Verachtung der christliche Gott plötzlich wegfällt? Wenn mit ihm auch der Jenseitsglaube schwindet? - Richtig, dann bleibt nichts mehr übrig. Gar nichts mehr. Weder Diesseits noch Jenseits. Dann triumphiert der Nihilismus. Dann schlägt die Stunde des „letzten Menschen“: Der begnügt sich mit einem Leben auf emotionaler Sparflamme, gönnt sich ein Lüstchen für den Tag und eins für die Nacht. Das Ideal: Ein Leben in behäbiger Balance. Wer weiterhin großen Leidenschaften frönt, gehört in psychiatrische Behandlung.

Natürlich deuten moderne Interpreten diesen „letzten Menschen“ als Konsumenten, als Kaufhaus-Zombie, als abgesicherten Schmalspur-Hedonisten. Der US-Politologe Francis Fukuyama versuchte 1991 in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ sogar eine positive Deutung, feierte den „letzten Menschen“ als Gewinner der Geschichte: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus starte der weltweite Triumph westlicher Demokratie, einer Kombination aus Liberalismus und freiem Markt. Der globale Siegeszug des Homo oeconomicus, des Endverbrauchers stehe bevor. Damit fände auch die  Geschichte endlich ihr Ende. Aber füllt ein hedonistischer Müßiggang den Menschen tatsächlich aus? 

Nietzsche glaubte: Nein. Irgendwann wird diese Behaglichkeit, dieser dürftig getarnte Nihilismus, unerträglich. Dann ist Zeit für den Kurswechsel. Dann schlägt die Stunde des  „Übermenschen“: Dieser oft missverstandene Begriff steht für einen evolutionären Sprung: Der Mensch lernt, sich selber Lebens-Ziele, Lebens-Sinn zu setzen - benötigt nicht länger metaphysischen Support.

Eins der wenigen Bücher, die im Jubiläumsjahr über Nietzsche erschienen sind, ist Frank Lissons „Mit Nietzsche denken – Ein Wagnis“. Ein Buch, dass die Aktualität des Philosophen austestet. Sein Denken zum Verständnis der Gegenwart verwendet. In einem Punkt widerspricht der Autor dem Naumburger Philosophen: Nietzsche, so die Kritik, habe den Menschen überschätzt. Der hält nämlich ein Leben im Schmalspur-Hedonismus, im mittelmäßigen Konsumismus sehr wohl aus. Der bedarf keiner „tieferen“ Fundierung seiner Existenz. Der versteht nicht einmal mehr das Problem.

Wenn Nietzsche glaubte, er „trage das Schicksal der Menschheit auf der Schulter“, dann lässt sich erwidern: Ja, seine Probleme waren bedeutungsvoll – aber eben nicht für jedermann. O-Ton Lisson:

„Er hat, wie so viele Philosophen, von sich, der Ausnahme, auf die übrigen, die Regelmenschen geschlossen und diese dadurch völlig überfordert und ihre Bereitschaft, auf ihn zu hören und sich von ihm belehren zu lassen, gewaltig überschätzt.“

Psychologen könnten widersprechen und den rapiden Anstieg seelischer Erkrankungen als Mangel an „Sinn“ deuten. Will sagen: Vielleicht verbirgt sich hinter der neuen „Volkskrankheit“ Depression ein radikaler Sinnverlust? Auch diese Erkenntnis bleibt freilich wertlos, solange keine Alternative greifbar ist. Vielleicht gibt es für den westlichen Menschen gar keine Erlösung mehr!? Vielleicht war Nietzsches Utopie des Übermenschen eine Illusion, die nicht einmal bei ihm selbst funktioniert hat?

Womöglich spürt ein Transhumanist wie Ray Kurzweil das Problem metaphysischer Obdachlosigkeit noch am ehesten. Für den US-Informatiker ist Endlichkeit, das Wissen um die eigene Sterblichkeit unerträglich. Sie vergiftet ihm das komplette Dasein. Entwertet die gesamte Existenz. Deshalb verschlingt der 77jährige jeden Tag hunderte von Pillen, Nahrungsergänzungsmittel. Um jeden Preis will er den Tag erleben, wo der menschliche Geist sich digitalisieren, auf Festplatten downloaden lässt - und damit potenzielle Unsterblichkeit erlangt. Solche Digitalisierung bedeutet für Kurzweil ein weiterer Schritt der Evolution. Der Übermensch als Android. Schon aus Mitleid möchte man den alten Mann vor der Erkenntnis bewahren, dass seine Hoffnung vergeblich ist.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Vectorfarbener alter Stich des berühmten deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Nietzsche, Stich ist von Meyers Lexicon veröffentlicht 1914 - Leipzig, Deutschland

Bildquelle: Zlatko Guzmic / shutterstock


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