Zwergenaufstand – Das ist gut für unser Land

von Sonja Karas.

Desinteressierte, Verdrossene, Zyniker!

Spätestens mit dem Beginn der Aufführung »Balkonien in drei Farben« im Oktober letzten Jahres, haben die SpitzenvertreterInnen der Parteien eine ungeplante Demokratisierungs- und Transparenzoffensive gestartet. Mittlerweile hat diese eine interessante Eigendynamik entwickelt, die übergreifend immer mehr an Fahrt gewinnt, und der eine große Chance innewohnt.

Die Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und B90/GRÜNE, die in wechselnden Regierungskoalitionen für die Politik der vergangenen 30 Jahre verantwortlich sind, haben eindrücklich nachgewiesen, dass unter den gegebenen (selbst verursachten) Rahmenbedingungen eine zukunftsweisende, sozial-ökologische, progressive und emanzipatorische Gesellschaftsveränderungen nicht (mehr) möglich ist. Die auf dem Ast sitzenden Profiteure dieser bisherigen Politik, an dem zunehmend mehr unkontrollierbare Kräfte sägen, atmeten auf.

Die Positionen der ewigen Lobby-Sprachrohre der neuen und alten Dinosaurier-Industrien, CDU/CSU und FDP, sind nicht weiter verwunderlich. Überraschend ist dabei höchstens mit welcher Intensität, Wortwahl und öffentlich zur Schau getragener Menschenverachtung rechts-konservative Hardliner mittlerweile agieren. Es scheint das neue Credo zu geben, dass man AfD-Positionen jederzeit und auf demselben Niveau verlautbaren kann, solange man nicht Mitglied der AfD ist.

Dem Rest fehlt offenbar wahlweise das Verständnis, die Kraft, der Wille oder die Macht, sich den dringend notwendigen und verlorenen gegangenen politischen Gestaltungsraum zurück zu erobern, der maßgeblich von ausreichend Geld und Zeit abhängt. Im Gegenteil, zum Jamaika-Auftakt wurde an die göttliche Instanz unaufgefordert ein kollektives “Heil Dir, oh Markt. Du süße schwarze Null!” abgeliefert.

Nachdem sich dann alle Beteiligten auf das Parteiprogramm der CDU/CSU geeinigt hatten, verhinderte die FDP im letzten Moment den politischen Tod von Bündnis 90/Die Grünen und das progressiv- konservative Bündnis der radikalen Mitte. Auf dem Ast und im Land des Baumes wurde missbilligend die Stirn gerunzelt.

Es wurde Zeit für Plan B und ein Machtwort! Der ehemalige Grüß-August wurde über Nacht zum Retter von Staat und Demokratie und mahnte bei seinem bockenden Oppositionskind die notwendige Vernunft an: Zukunft, Land, Europa, Welt – eine Nummer kleiner geht heute wohl nicht mehr. Die Episode bescherte dem Land weitere nie dagewesene buckingham-palastige Bilder. Die bald darauf folgende Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten wurde im Mainstream sowie in den Netzbubbles übergreifend mit einer unerwarteten und unüblichen Kritikwelle goutiert. Im WDR-Morgenmagazin wurde deren Subtext treffend aufbereitet, Zitat: ”(…) Sorry, erstens habe ich keinen Bock über die echten Themen dieses Landes zu sprechen, zweitens ist es gut, wenn Sie anfangen Eigeninitiative zu zeigen, denn drittens wird von der Politik so bald nichts kommen.”

Es folgte das bis heute laufende Projekt GroKo-Deal 3.0, dessen eigene Kür-Eröffnung dem Jamaika-Vorgänger in nichts nachstand. Unaufgefordert wurden mit einem eingesprungenen Trumpberger die nationalen und internationalen Klimaschutzzielvereinbarungen beerdigt. (Welche “Wählerschaft” nun diesen Auftrag erteilt haben soll, bleibt ungenannt). Im vorgelegten Papier steht dann wenig überraschend wieder das Parteiprogramm von CDU/CSU, auf das man sich nach zähem Ringen und turbulenten Verhandlungen einigen konnte.
Auf dem Ast ist man soweit zufrieden, wird aber zunehmend ungeduldig, denn der dazugehörige Baum fängt an sich aus unerklärlichen Gründen zu schütteln. Es könnten Zwerge sein, die den Aufstand proben*. (*Zitat von Alexander Dobrinth, der diesen Vergleich mit der SPD Basis zog). 

In der Pressekonferenz nach dem Ende der GroKo-Deal-Sondierungen wird in der Ansprache der Bundeskanzlerin deutlich, wie ungemütlich es auf dem Ast mittlerweile sein muss. Zitat: “Wir müssen an vielen Stellen in unseren politischen Entscheidungen schneller werden; auch deutlicher mit den Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Dazu gehört, dass Planungen beschleunigt werden (…) dafür werden völlig neue politische Wege auch notwendig (…).”

Wie sich dieser marktferne Teil mit den Bürgerinnen und Bürgern in die offensichtliche Logik von Freihandelsabkommen, Aufrüstung, Massenüberwachung und fortgesetztem Demokratie- und Sozialabbau schleichen konnte, bleibt unklar.

Während die SPD-Parteispitze nun krampfhaft versucht das CDU/CSU Programm an die eigene Basis zu verkaufen, hat nach Sachsen-Anhalt nun auch der Berliner Landesverband mit deutlicher Mehrheit gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen votiert. Am kommenden Wochenende entscheidet der SPD-Bundesparteitag, ob es überhaupt zu Koalitionsverhandlungen kommen wird. Inhaltlich sieht es mit der notwendigen Mehrheit dafür wohl kritisch aus.

Das einzig verbleibende Argument, das da noch stehen bleibt, um die Fortsetzung dieser überholten Konstellation zu rechtfertigen, ist die Stabilität. Ohne Koalitionsmehrheit im Parlament sei das Land nicht stabil zu regieren und könne seiner Verantwortung in Europa und der Welt nicht gerecht werden.

Nach den vergangenen vier Monaten fragen sich nun zunehmend mehr Bürgerinnen und Bürger, woran es denn liegen könnte, dass die CDU/CSU partout keine Regierungskoalition hinbekommt. Insbesondere wenn das Land, Europa und die Welt ohne eine Regierung angeblich am Abgrund stehen würde. Je länger dieser Zustand noch andauert, desto mehr schwächt sich das Argument ab, wenn es seine Bedrohungskraft nicht schon bereits verloren hat. Genau hier liegt die eingangs erwähnte Chance.

Wenn nun die letzte Option auf einen Koalitionsvertrag scheitert, dann hätten die progressiven und liberalen Kräfte im Land eine Chance der rechts-konservativen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte endlich etwas entgegen zu setzen. Eine Chance, die besonders in den letzten vier Jahren, mitsamt rot-rot-grüner Mehrheit im Bundestag, verschlafen wurde. Diese Chance liegt in einer Minderheitsregierung.

Denn das jetzige Problem der entlassenen und geschäftsführenden Bundesregierung, liegt nicht in diesem Zustand an sich, sondern in der fehlenden demokratischen Legitimation des üblichen Durchregierens. Nur geschäftsführend noch eine EU-Glyphosatverlängerung und noch eine EU-PESCO- Unterzeichnung, könnte in einer Demokratie doch zu erheblichen Schwierigkeiten führen.

Um diesen Status zum Durchregieren zu erreichen, braucht die CDU/CSU das, was auf der letzten Seite im vorletzten Absatz des Sondierungspapiers steht, Zitat: »Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.«

Ohne diesen “Koalitionsvertrag” einer Mehrheit, gäbe es einen Bundestag ohne fragwürdige Stabilität aus Koalitionsräson, Fraktionszwang und mit gebändigtem Lobbyisteneinfluss. Die Zusammenarbeit zwischen Parlament und Straße könnte in eine progressive direkt-demokratische Einflussnahme von Bürgerinnen und Bürgern münden. Denn dann macht es plötzlich Sinn Mehrheiten zu organisieren, wenn thematisch tatsächlich abgestimmt würde, und nicht jedes Thema von einer zur gegenseitigen Räson gezwungenen Über-Koalition weggebügelt werden kann. Selbst der neu konstituierte Bundestag wurde am 16. Januar von einem freigeistlichen Spirit angesteckt und berät nun, ganz einfach ohne Regierung, über die Besetzung der Fachausschüsse.

Es muss das erklärte Ziel sein die CDU/CSU in eine Minderheitsregierung zu bringen. Weder die Liebe zur SPD noch der Glaube an die repräsentative Demokratie können dabei als Antrieb reichen, sondern die Begeisterung für die direkte Demokratie.

Dass dabei links-liberalen Kräften, angesichts der rechts-konservativen Mehrheit im Bundestag, bange wird, ist nachvollziehbar. Doch wenn die AfD nun mit ihren 14+% in den Parlamenten sitzt, heisst das noch immer nicht, dass sie den Zeitgeist im Land repräsentieren, selbst wenn es so in der Zeitung steht oder in den Talkshows hoch und runter läuft.

Die AfD und ihre Anhängerschaft wird erst dann größer, wenn sich die progressiven und links-liberalen Kräfte im Land jetzt nicht die führende Rolle in der Zukunftsgestaltung erkämpfen, ernsthafte Alternativen zum “Weiter so” anbieten, klare positive Visionen für die Zukunft entwickeln und Strategiepapiere mit echten Inhalten vorlegen. Bisher sind dies alle Parteien schuldig geblieben.

Die Aussicht auf direkte demokratische Einflussnahme- das ist die Chance, die in einer Minderheitsregierung liegt und für die man jetzt kämpfen sollte. Das heisst den Groko-Gegnern innerhalb der SPD jede Unterstützung zukommen zu lassen.

Sollte es übrigens zu Neuwahlen kommen, verhält es sich mit der Chance ganz ähnlich. Man kann nur jeder Partei die dringende Empfehlung geben, sich in einer Grundsatzerklärung zukünftig von der Praxis eines Koalitionsvertrages und eines Fraktionszwangs zu distanzieren und für sich auszuschließen. Gleichzeitig sollte sich das Bundesverfassungsgericht bemühen zeitnah zu erklären, ob diese inoffizielle Praxis überhaupt mit dem Artikel 38 GG vereinbar ist.

“Man kann einer Armee widerstehen, doch nicht einer Idee, deren Zeit gekommen ist.” – Victor Hugo. An guten Ideen und guten Konzepten, die Land, Europa und Welt für alle sofort besser machen könnten, mangelt es nicht. Solange sich aber strukturell nicht die Rahmenbedingungen verändern, werden sich all diese Ideen weiterhin stauen. Die Strukturen haben Menschen geschaffen und nur Menschen können sie wieder ändern. Darum geht es jetzt.

Angesichts der anstehenden Aufgaben braucht kein Mensch mehr diese Pseudo-Stabilität, genauso wenig wie neue Wortkreationen wie “Gigabyte-Gesellschaft”.

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