Wohlfühlopferrolle am Fresstopf

Landtagswahl im Osten: »Weiter so« mit schwarz-braun in Sachsen-Anhalt.

Kommentar von Susan Bonath.

»Jetzt haben wir es denen gezeigt.«, triumphiert ein kleingewachsener, hagerer Mittfünfziger auf meine Frage wie er das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt findet. »Was denn?«, will ich wissen. »Wir ham die Etablierten aus dem Parlament gejagt«, ist er überzeugt. Er meint den Erfolg der AfD bei den Landtagswahlen: 24,2 Prozent, gut fünf Prozentpunkte hinter der CDU, fast soviel, wie die Unternehmer-Partei in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zusammen schaffte. Ich habe damit gerechnet und weiß, dass es sinnlos wäre, auch ihm jetzt noch die unsozialen Punkte im Entwurf des Grundsatzprogramms seiner neoliberalen Favoriten, noch eine Nummer schärfer, als die der CDU, herunter zu beten. Ich habe das Abwehrgeschrei jetzt wohl zwanzigmal erlebt: Das sei doch gelogen. Ich hätte mich doch gar nicht damit beschäftigt. Und so weiter. »Niemanden habt ihr heraus gejagt«, entgegne ich nur – und gehe.

Ich lebe seit über vierzig Jahren in der sachsen-anhaltischen Provinz, habe die Angliederung der Ex-DDR an die BRD erlebt. Die vielen Brüche in den Biographien. Die aus dem Boden gestampften Arbeitsämter mit langen Schlangen davor Anfang der 90er. Die vielen Arbeiter, die in den Westen gingen, um für 1.000 Euro weniger als ihre dort beheimateten Kollegen an Maschinen zu stehen. Manche kampierten wochenlang in schäbigen Bauwagen. Ich erinnere mich, wie die Mieten über Nacht um das Vierfache stiegen. Und daran, wie Neonazis um 1992 herum durch Magdeburg marschierten. Und nicht nur das. Sie jagten Ausländer quer durch die Stadt. Sie schlugen zu. An den Elbterrassen prügelten sie einen Punk tot. Er und seine Freunde hatten keinen Rückzugsort mehr. Alle Jugendclubs hatten Rechtsradikale besetzt. Sie terrorisierten anders Aussehende und anders Denkende. Eine Straßenbahnfahrt war vor allem am Wochenende nach einem Fußballspiel ein Spießrutenlauf: Pöbelnde Besoffene, zerberstende Bierflaschen – nur nicht auffallen, um nicht ins Visier zu geraten. Und meistens kam die Polizei zu spät. Manchmal stand sie sogar daneben, ohne einzugreifen. Später, im Innenministerium, wurde alles relativiert: Es gebe zu wenige Beamte, man bedauere den Vorfall, hieß es halbherzig in Presseerklärungen und -statements.

Ich habe auch erlebt, wie NPD und Republikaner in ganzen Horden in Leipzig, Dresden, Magdeburg oder Ostberlin einfielen, kaum, dass die Grenzen offen waren. Auf den Montagsdemos rekrutierten sie, gerierten sich als »Fürsprecher des kleinen Mannes«. Wenn ihr blühende Landschaften wollt, dürft ihr keine Ausländer reinlassen, suggerierten sie. Die neuen NPD-Parteibüros waren reichlich frequentiert. Kameradschaften schossen wie Pilze aus dem Boden, in jedem kleinen Kaff. Wer bunte Haare hatte, zog sich am Bahnhof und in der Innenstadt automatisch eine Kapuze über. Die Vietnamesen und Marokkaner, übrig gebliebene Gastarbeiter, versteckten sich in ihren Häusern. Auch sie hatten von den mörderischen Anschlägen im nahen Quedlinburg und in Rostock gehört. In der Presse tauchten die Schläger und Brandzünder als aggressive Prolls auf. Saufende, frustrierte Unterschichtler beim Prügeln. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Auch damals trugen die Strippenzieher biedere Nadelstreifen. Sie saßen an Schreibtischen und hörten sich die Sorgen der Abgehängten mit einem Lächeln an, während ihre Firmen irgendwo im Westen von alleine liefen. Und sie lieferten passende Feindbilder.

Das alles ist fast ein Vierteljahrhundert her. Vorbei ist es nicht. Es ist nur ruhiger geworden, scheinbar jedenfalls. Auch die Verhältnisse sind nicht viel anders. Sachsen-Anhalt steht fast an erster Stelle bei der Arbeitslosigkeit und ganz hinten bei den Löhnen. Jedes vierte Kind wächst in Armut auf. Die Renten sind noch immer niedriger bemessen als im Westen. Und die CDU, bis auf eine kurze Episode Ende der 90er immer an der Macht, regiert weiter wie bisher. Sie ignoriert. Als Polizisten und Neonazis im Dessauer Stadtpark gemeinsam oder nacheinander regelmäßig Asylbewerber jagten, und die Presse danach fragte, schwiegen die Regierenden. Als 2004 in Magdeburg 12.000 Menschen gegen Hartz IV und Sozialabbau auf der Straße standen, kam ihnen dazu kein Wort über die Lippen. Noch 2011 pries der amtierende Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) Sachsen-Anhalt als Land mit niedrigem Lohnniveau an. Die Unternehmen sollten kommen, mehr sei nicht nötig. Seine Partei war in Skandale verstrickt, wie die Fördermittelaffäre in Dessau und den ostdeutschen Müllskandal im Jerichower Land. Als 2005 ein Flüchtling im Dessauer Polizeirevier gefesselt in einer gefliesten Zelle verbrannte, half sie beim Vertuschen kräftig mit. Nur nicht das Ansehen des Bundeslandes an der Mittelelbe beschmutzen. Dass nebenan ein Dorf im Harzvorland regelmäßig von bis zu 3.000 Rechtsradikalen aus ganz Europa – viermal so viele wie der Ort Einwohner hat – heimgesucht wurde, um dort Konzerte zu feiern, verschwieg man jahrelang.

Heute blühen die Landschaften für die, die es sich leisten können. Die einen Job im monströsen Staatsapparat ergattern oder ein florierendes Unternehmen aufbauen konnten. Oder für Westdeutsche, die einst in den Osten kamen, um den Ossis klarzumachen, wie man sich im Turbokapitalismus am besten verkauft. Wie Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU), der es, gemeinsam mit Haseloff und Co, nicht lassen kann, immer neue Repressalien für Geflüchtete und arme Einheimische zu fordern: Ob das Abfüttern mit Kantinenfraß und Klamotten aus dem Altkleidercontainer statt Bargeld auf Hartz-IV-Niveau, ewig währende Residenzpflicht, strikte Obergrenzen, weitere Asylrechtsbeschneidungen, Aufnahmestopps oder mehr Sanktionen gegen Langzeiterwerbslose: Die Forderungen sachsen-anhaltischer »Christdemokraten« stehen denen der AfD höchsten in ihrer Radikalität nach.

Und so zeigt sich, wes Geistes Kind hinter der CDU und ihrer kleinen radikalen Schwester AfD steckt, auch in den Wahlergebnissen. Erstere büßte kaum drei Prozent ein. Letztere erklomm mit fast einem Viertel aller abgegebenen Stimmen die gutdotierten Fresstöpfe in den Landtagen. Die sich an sozialen Verwerfungen, an dem Gefühl des Abgehängtseins oder der realen Angst des Mittelstandes emporgefressene Tendenz zur Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit hat sich Luft gemacht, in einem Kreuzchen auf dem Wahlzettel, während das biedere Bürgertum aus den Amtsstuben mit bequemen Ledersesseln und monatlichem Festgehalt weiterhin bei seiner CDU bleib. Abgezogen hat die AfD offensichtlich vor allem bei den Frustrierten, die es satt haben, auf irgendeine sozialdemokratische Umsetzung von SPD oder Linkspartei zu warten. Mit einem vorläufigen Ergebnis von 10,6 Prozent verlor erstere fast elf Prozent gegenüber der Wahl 2011. Die Linkspartei büßte 7,2 Prozent ein, die Grünen zwei Prozent.

Auch Helga*, Anfang 60, habe diesmal AfD gewählt, erklärt sie. Warum? »Die Linke tut seit zwanzig Jahren nix für uns«, findet sie und räumt ein, von dem Wahlprogramm oder den Grundsätzen der AfD »null Ahnung« zu haben. Einen »Denkzettel« habe sie »denen da oben« verpassen wollen. Ein junger Mann mischt sich ein und nickt. Er spricht von Leiharbeit für 900 Euro netto im Monat und davon, dass er seit drei Jahren nichts Anderes finde. Sie erklärt, die Arbeit im Hochregallager der OTTO-Versand-Tochter Hermes habe ihren Rücken kaputt gemacht. Jetzt bekomme sie Krankengeld und warte auf 630 Euro Rente – im Monat.

Ich weiß ja, dass es nichts nützt, den Leuten aus dem jüngst bekannt gewordenen Entwurf des Grundsatzprogramms der AfD zu zitieren. Ich fange trotzdem damit an. Sage, dass sie den Arbeitgeberanteil für die Arbeitslosenversicherung und die gesetzliche Altersvorsorge streichen, das Renteneinstiegsalter weiter erhöhen und überschuldeten Kommunen nicht mehr finanziell unter die Arme greifen will, was Gebühren in die Höhe schnellen lassen würde. Von letzterem haben beide »noch nie was gehört«. »Keine Ahnung, was das bedeutet«, sagt der junge Mann schulterzuckend. Helga* meint, der Rest betreffe sie ja dann wohl nicht mehr. Ebenso die angedachte Dienstpflicht für Frauen in Gleichsetzung mit der wieder einzuführenden Wehrpflicht für Männer nach der Schulausbildung oder die Streichung der Hilfen für Alleinerziehende. Dass die AfD auch das Grundrecht auf Asyl abschaffen will, finden beide gut. »Die sollen sich mal zuerst um die Deutschen kümmern«, steigert sich Helga* in fahrigen Zorn.

Auf Diskussionen darüber, dass kein Sozialtopf voller würde, schöbe man alle Fremden ab, weil das Geld längst im Strudel nach oben versickert sein würde, noch bevor die armen Schlucker zwangsweise auf einen anderen Platz auf diesem Planeten getrieben würden, hat sie keine Lust. Sie will nichts davon wissen, dass es kein »deutsches Volk« gibt, sondern, wie überall, Besitzende und Nichtbesitzende, Bestimmer und jene, die über sich bestimmen lassen. Es interessiert sie nicht, dass sie mehr mit den Flüchtlingen gemeinsam hat, als mit dem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, der zum zweiten Mal fünf Jahre lang ein so hohes Einkommen jeden Monat kassieren wird, wie sie selbst in zwei Jahren nicht. Ich kenne die Phrase schon: »Daran können wir eh nix ändern.«

In einem haben beide aber recht. Die Linke, die sich in Pressemitteilungen so gerne als Anwalt der »kleinen Leute« aufspielt, hat komplett versagt. Versumpft im Postengeschacher, zusammenrekrutiert aus dem aufstiegswilligen Bildungsbürgertum, das auf »die da unten« nicht selten milde lächelnd herabblickt, ist ganz besonders im Osten kein Ansprechpartner für die Abgehängten mehr. Die Straße haben Höckes Kumpels aus dem ultrarechten AfD-Flügel namens »patriotische Plattform« besetzt. Wenn schon nicht die Linke, dann eben die. Ich kann es verstehen, begreifen kann ich es nicht.

Und so wird sich nun in Sachsen-Anhalt, wie vage angekündigt, das Bündnis der »Demokraten« gegen die angeblich so verhasste »braune Brühe« stellen. Für CDU, SPD und Grüne zusammen wird es knapp reichen mit der Parlamentsmehrheit. Vor der Wahl vorsichtshalber schon mal als Option verkündet, werden sie es wohl auch wagen. Die Superkoalition der Anständigen. Dem »kleinen Mann« wird das kein müdes Lächeln abringen. Er hat genug Geschwätz von Demokratie und Anstand über sich ergehen lassen müssen, während ihm immer neue Rechnungen, das kaputte Auto, der hohe Kredit, der Drogenkonsum des jugendlichen Sprösslings oder die steigende Miete das Leben schwer machen und den Kopf vermüllen.

Und die AfD? Die wird sich über hohe Diäten und steuerfreie Zulagen freuen, aus denen neue Posten hervorsprießen. Und in der Opposition ihre Opferrolle weiter pflegen, so zum Wohlfühlen, nach dem Motto »alle schimpfen uns ganz ungerecht als Nazis«. Höckes im Dezember verkündete Rassentheorie von angeblich vermehrungsfreudigen Afrikanern, die nur das Aussterben des »deutschen Volkes« zum Ziel hätten, wird erst mal auf Eis gelegt werden. Vielleicht punktet sie sogar mit ein paar sozialen Anträgen. Die wird Die Linke, die neben ihr in der Opposition sitzen wird, vermutlich ablehnen. Der AfD würden Anständige niemals zustimmen. Die Linke wird den drei Regierungsparteien in den Allerwertesten kriechen. Haseloff, das Bollwerk der Menschlichkeit – selten so gelacht. Unglücklich über die 24 Sitze seiner angeblichen »Feinde« dürfte Haseloff jedenfalls kaum sein. So darf er sich endlich darauf freuen, aus der Opposition heraus ein paar Vorschläge zu bekommen, die seinen Ansichten entgegenkommen. Ein willfähriger Mehrheitsbeschaffer ist besser, als ein Haufen Nörgler. Wird es um Privatisierung öffentlichen Eigentums gehen oder um die Kürzung des Sozialetats, sind ihm die grünen Karten der AfD-Parlamentarier sicher.

Und er »kleine Mann«? Der wird die AfD feiern, für jeden Angriff und jede Kritik, die von den »Demokraten« gegen sie verlautbart wird. Denn mit Opferrolle und Ausgrenzung kennt er sich bestens aus. Erinnert er sich doch zu gut daran, als Wessis über die Ossi-Einwanderungsflut 89 schimpften. Und an den Kanon der CDU-Herren an all die Arbeitslosen, dass nun lernen müssten, selbst ihres Glückes Schmied zu werden. An unzählige anbiedernde Bewerbungen und unzählige Absagen. An westdeutsche Worte wie »der Osten blutet uns aus«. Jetzt kann sich der Gebeutelte dem Volke zugehörig fühlen, ganz offen, ganz stolz, im Hinterhalt die Opposition, auch wenn sie eigentlich auch nichts für ihn übrig hat. Das Gefühl alleine reicht erst einmal. Er darf von sich behaupten, kein »Parasit« mehr zu sein, sondern Bestandteil. Die Flüchtlinge will er sich deshalb nicht mehr leisten. Dass wir uns tatsächlich die Reichen nicht mehr leisten können, und zwar global, hält er gerne weiterhin für kommunistische Propaganda. Die AfD erklärt es ihm. Und alles bleibt mindestens beim Alten.

(*Name von der Redaktion gekürzt)

 

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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