„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ – Ein Interview

Die Hartz-Gesetze stehen synonym für ein System aus Lohnsenkungen, Verarmung, Entrechtung und den Kampf gegen Arme statt gegen Armut. Sie eröffneten das Dauerfeuer auf Lohnabhängige und forcierten eine Entwicklung hin zum Boom der Leiharbeitsbranche, die aus gutem Grund auch als „moderner Sklavenhandel“ kritisiert wird. Dank der neoliberalen Ideologie, die die Armen für ihr Elend selbst verantwortlich macht und verpönt, ist der reale Widerstand der Betroffenen gegen die ihnen beständig zugefügten Demütigungen oft gering. Dass das nicht so sein muss, erfuhr Jens Wernicke im Gespräch mit dem Anti-Hartz IV-Aktivisten Manfred Bartl, der immer wieder mit verschiedenen Aktionen darauf hinweist und dafür wirbt, die eigenen Grundrechte ganz praktisch zu verteidigen, um in diesem System nicht unterzugehen.

Wernicke: Herr Bartl, Sie sind Hartz-IV-Empfänger und seit Jahren im Widerstand gegen das hiermit verbundene Unrechtsregime. Zuletzt griff sogar Spiegel TV eine ihrer Aktionen des zivilen Ungehorsams auf. Was ist das Problem mit Hartz IV?

Bartl: Seit der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und Fischer driften Ist und Soll zunehmend weiter auseinander. Bundeskanzlerin Merkel und unter den anderen Verantwortlichen vor allem Ursula von der Leyen, als sie 2009 – 2013 gerade mal als Bundesministerin für Arbeit und Soziales eingeteilt war, betonten immer wieder, dass Hartz IV nur für eine kurze Zeit der Langzeitarbeitslosigkeit vorgesehen sei.

Das ist schon deswegen ein Hohn, weil Hartz IV zwar „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ heißt, aber für sehr viele Hilfebedürftige inzwischen dasselbe wie die alte Sozialhilfe darstellt. Also für all jene etwa, die „gerade noch so“ erwerbsfähig sind, die beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen nur noch maximal drei Stunden täglich zu arbeiten vermögen.

Der mittlerweile aus dem Amt geschiedene Vizepräsident der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, hat schon 2011 unumwunden zugegeben: „Nur Lebenskünstler können auf Dauer von 364 Euro im Monat leben.“ Und da hatten wir die Anpassung des Regelbedarfs nach dem entsprechenden Grundrechtsurteil bereits hinter uns!

Und da war auch der Anteil für „Genussgifte“ – gemeint sind Alkohol und Tabak – bereits aus dem Regelbedarf gestrichen worden, der, bei aller Umstrittenheit, wenigstens jenen von einer unerträglichen Mehrheitsmeinung als vorbildlich eingeschätzten Nicht-Trinkern und Nicht-Rauchern noch einen gewissen Manövrierspielraum zugestanden hatte, der alsdann nicht mehr zur Verfügung stand.

Solche Spielräume sind angesichts der Pauschalierung der Grundsicherung in Gestalt dieses Regelbedarfs jedoch unabdingbar. Denn wie viel Bildung kann man sich von 1,55 Euro im Monat für Bildungszwecke wohl leisten? Einmal im Monat die Tageszeitung lesen?! Und reichen 1,50 Euro im Monat wirklich für Mitgliedsbeiträge in auch nur einem Verein – oder bleibt am Ende nicht vor allem eine Liste all jener Organisationen, aus denen man gezwungenermaßen austreten musste? Und schließlich, vom Bundesverfassungsgericht bereits 2014 explizit abgemahnt: Wer um alles in der Welt kommt angesichts rapide steigender Energiepreise mit 31‚40 Euro im Monat für Strom aus? Und wie macht er oder sie das?

Und aber auch, womit wir beim Thema meines zivilen Ungehorsams wären: Für welche Mobilität und dementsprechend allgemeinen Teilhabemöglichkeiten reichen 20,56 Euro im Monat für den öffentlichen Personen-Nahverkehr, wenn – wie in Mainz – selbst ein sogenanntes Sozialticket annähernd das Dreifache kostet? Diese ganzen sogenannten Pauschalen sind de facto nichts Anderes als „rationale Demagogie“, die, munitioniert mit manipulierten Studien und wohlfeilen Behauptungen, gegen die Betroffenen in Stellung gebracht wird, um dann – bar jeder Wirklichkeit – kundtun zu können, der Regelsatz sei ja großzügig und wirklich genug. Tatsächlich deckt derselbe, und die Politik weiß das ganz genau, aber nicht ansatzweise das Lebensnotwendige in den jeweiligen Bereichen ab.

W: Also, wenn Sie 2 Jahre sparten, reichte es doch im Bereich „Bildung“ … immerhin für ein gutes Taschenbuch.

B: Eben. Tolle Bildung, besten Dank. Und mit den anderen, vermeintlich sicher abgedeckten, weil pauschal abgegoltenen Bereichen ist es ebenso. Ermittelt man die Bedarfe der Hartz-IV-Empfänger einmal auch nur ansatzweise seriös, käme man locker auf den doppelten Regelsatz, von dem noch immer niemand behaupten könnte, er reichte für ein „gutes Leben“ wirklich aus.

W: Ist das einer der Gründe, warum Sie in den Widerstand gegen diese Zumutungen gingen und das „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“ im Rhein-Main-Gebiet etabliert haben?

B: Ja, denn im Januar 2009 sah ich mich ganz persönlich vor die Frage gestellt: Kann ich zulassen, dass die Bundesrepublik Deutschland in Komplizenschaft mit der Landeshauptstadt Mainz als subsidiär verantwortlicher Ebene für die Daseinsvorsorge, die für das sogenannte Sozialticket hier zuständig ist, mich meines Grundrechtes auf Mobilität berauben?

Diese Frage habe ich guten Gewissens verneint, der Mainzer Verkehrsgesellschaft dann ein, angesichts des Grundrechte berührenden Problems, mit nur zwei Wochen relativ großzügiges Ultimatum gestellt und nach erwartungsgemäßem Verstreichen desselben schließlich mein „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“ begonnen, das ich bis zum heutigen Tag fortsetze und auch so lange fortführen werde, bis meine Forderung nach einem menschenwürdig bezahlbaren Sozialticket erfüllt oder eine umfassende Lösung für das Problem sozialer Mobilität gefunden sein wird.

Es gibt einen guten Satz, der Brecht zugeschrieben wird und der mir die Richtung vorgibt. Er lautet: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“ Und, ehrlich: Wie anders sollte es gehen? Schauen Sie sich all das Elend an, für das der Neoliberalismus seit Langem verantwortlich zeichnet, den modernen Sklavenhandel mittels sogenannter „Leiharbeit“ und das ganze Verarmungs- und Entrechtungsregime à la Hartz – meinen Sie ernsthaft, das würde von alleine wieder weggehen, die Eliten gäben eine für sie so wunderbare Praxis einfach von selbst wieder auf? Ganz sicher tun sie dies nicht. Und insofern gilt eben: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

„Jeder dritte Arbeitslose kann sich ganz normale Dinge des täglichen Lebens nicht leisten. Trotzdem rechnet die Bundesregierung bei der Ermittlung der neuen Hartz IV-Regelsätze das Existenzminimum bewusst klein, kritisiert DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Sie fordert den Einsatz einer Sachverständigenkommission – und Soforthilfe für Betroffene.“
Quelle: DGB: „Hartz IV-Sätze sauber ermitteln!“

„Misstrauen, Missgunst, Neid gegenüber Armen sowie die Unterstellungen ihrer eigenen Überforderung und Verantwortungslosigkeit werden immer wieder laut, wenn öffentlich über Armut und Arme debattiert wird. Mit den und durch die Hartz-IV-Reformen wurde dieses Misstrauen, das Gängeln, Sanktionieren und Knapphalten gegenüber Armen gestärkt. Sachliche und solidarische Haltungen und Berichte haben es seitdem schwerer, Gehör zu finden. Dies trägt erheblich dazu bei, dass die Bundesregierung es politisch durchsetzen kann, bei den anstehenden Anpassungen der Regelsätze systematisch und immer wieder weit hinter dem zurück zu bleiben, was ein menschenwürdiges soziokulturelles Existenzminimum ausmachen würde.“
Quelle: Komitee für Grundrechte und Demokratie: „Arme brauchen keine Moralpredigten“

W: Wie darf man sich dieses „Schwarzfahren“ genau vorstellen? Sie machen eine politische Aktion, um auf die Stigmatisierung und Ausgrenzung der Armen im Land hinzuweisen – und landen hierfür aber, denn derlei Widerstand ist natürlich – vor allem in Anbetracht der Bankenscheinheiligkeit – höchst kriminell, regelmäßig … im Knast?

B: Die regelmäßige Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs soll mir als Hartz-IV-Empfänger unmöglich gemacht werden. Die Mainzer Allgemeine Zeitung druckte am 4. Februar 2009 eine Auslassung des Geschäftsführers der Mainzer Verkehrsgesellschaft ab: „Sollte es politisch gewollt sein, diesen Fahrgästen über den Kauf einer Monatskarte die tägliche Nutzung von Bus und Straßenbahn zu ermöglichen, müsste es dafür entsprechende Zuschüsse der öffentlichen Hand geben.“ Da dieses Szenario angesichts der Landesaufsicht über unseren städtischen Haushalt als unwahrscheinlich gelten muss, werden mir in Folge nicht nur Einkäufe bei weiter entfernten, aber günstigeren Läden unmöglich gemacht, auch wird mir so die soziale Interaktion mit Freunden und Familie dramatisch erschwert, vor allem der Kontakt zu meiner Tochter, die ich regelmäßig sehen möchte, und die eine Zeit lang im Mainzer ÖPNV-Einzugsgebiet, in Wiesbaden, wohnte, mittlerweile aber fortgezogen ist. Diese Ausgrenzung ist himmelschreiend ungerecht und darum inakzeptabel!

Obwohl Schwarzfahren im Sinne eines „Erschleichens von Leistungen“ nach § 265a Strafgesetzbuch aktuell als Straftat gilt, gerät man zuerst einmal „nur“ in die Mühlen eines zivilrechtlichen Anspruchs in Gestalt des „erhöhten Beförderungsentgelts“. Die Mahnungen und die Briefe des Inkasso-Büros werden von mir freilich ignoriert und abgeheftet. Da ich nur Einkommen aus dem Arbeitslosengeld II habe und damit auch weit unter der Pfändungsfreigrenze bleibe, bin ich ohnehin als zahlungsunfähig anzusehen. Außerdem will ich natürlich nicht das Lehrgeld für die Anbieter des ÖPNV zahlen, denn sonst würden die aus meiner Aktion ja nichts lernen.

Tatsächlich habe ich in den letzten sieben Jahren für meine Mobilität in Mainz und Wiesbaden keinen Pfennig ausgegeben. Das war allerdings nie der Plan der Aktion „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“! Die Mainzer Rhein-Zeitung brachte anlässlich einer meiner Gerichtsverhandlungen zwar einmal die Schlagzeile „Mainzer kämpft um sein Recht auf Schwarzfahren“. Korrekt wäre allerdings gewesen: „Mainzer kämpft um sein Recht, bezahlen zu können“.

Dieser Kampf allerdings, der findet auf meinem Blog und in der Öffentlichkeit statt, vor allem im Gespräch mit den Menschen und den politischen Kräften in der Stadt – und nicht im Gerichtssaal. Im Gericht wird nur noch entschieden, ob wir vielleicht doch noch in einem Rechtsstaat leben.

Nach einem Freispruch für einen anderen Aktionsschwarzfahrer zweifle ich hieran allerdings stark. Denn ihm ist trotz Freispruches bezüglich des „Erschleichens von Leistungen“ das erhöhte Beförderungsentgelt nicht erlassen worden – eine Tatsache, die von Grund auf als illegitim, weil rechtswidrig anzusehen ist.

Und auch mit mir haben es die Gerichte schwer: Nach einer Geldstrafe durch das Landgericht Wiesbaden hat die Staatsanwaltschaft Mainz Anfang des Jahres ein Ermittlungsverfahren wegen sechs Schwarzfahrten eingestellt, bevor sie jüngst ein Verfahren wegen nur einer einzigen Schwarzfahrt wieder ans Amtsgericht durchreichte, das nun einen Strafbefehl ausgestellt hat. Natürlich habe ich Einspruch eingelegt und warte auf meinen Verhandlungstermin. Die Aussichten des Gerichts, zu gewinnen, sind marginal.

W: Inwiefern das? Sie verstoßen doch gegen Recht und Gesetz?

B: Nein, das tue ich eben nicht. Ich „erschleiche“ mir, wie es im Gesetz heißt, keinerlei Leistungen – und begehe auch keinen irgendwie gearteten Betrug. Dem habe ich vorgebaut, indem ich einen Ausweis am Revers trage, der besagt, dass ich mich wegen des Zusammenhangs zwischen zu niedrigem Regelbedarf und zu teurem Sozialticket nicht an die Allgemeinen Beförderungsbedingungen halte und das Zustandekommen eines Vertrages somit verhindere. Inzwischen steht auch explizit „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“ darauf, damit es wirklich jeder versteht. Die üblichen Strafen und Bestrafungen greifen somit nicht, denn ich tue nichts heimlich, „betrügerisch“, erschleiche nichts und bereichere mich nicht.

Tatsächlich ist es genau andersherum: Es handelt sich um einen entschuldigenden Notstand nach § 35 Strafgesetzbuch – wenn auch auf niedrigschwelligem Niveau, weil die gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit auf den gegenwärtigen Monat zu beziehen ist. Angesichts des Umstands, dass es sich beim Arbeitslosengeld II aber um das menschenwürdige Existenzminimum handeln soll, ist es nicht an mir, mir „auszusuchen“, ob ich die 40 Euro zusätzlich, die nicht im Regelbedarf enthalten sind, für ein „Sozialticket“ ausgebe oder nicht. Einzelfahrscheine sind da auch keine Alternative, weil man mit 20,56 Euro im Monat selbst unter Verwendung von Sammelkarten, die eigentlich nur in Fünferstückelung zu 11,- Euro erworben werden können und die man sich also, wollte man den Etat maximal ausreizen, mit anderen gemeinsam kaufen müsste, nur fünfmal wohin-, aber nur viermal wieder zurückfahren könnte.

Wie man es auch dreht und wendet, es wird nicht menschenwürdiger. Aber auch das gehört zu meiner Aktion „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“: Ich werde niemals eine Geldstrafe zahlen und ich werde niemals in ein Gefängnis gehen.

W: Und was haben Sie bei derlei Aktionen bisher alles so erlebt? Was waren das schönste und das unschönste Erlebnis? Und wie reagieren die anderen Menschen, erleben Sie Solidarität?

B: In sieben Jahren „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“ sammelt sich einiges an. Am meisten genervt bin ich gegenwärtig von Kontrolleuren, die noch nie etwas von mir und meiner Aktion wahrgenommen haben. Am schwierigsten war die Situation, in der mich ein Kontrolleur über meine Zielhaltstelle hinaus nötigen wollte, mitzufahren und wegen meines damals abgelaufenen Personalausweises die Polizei aufzusuchen.

Quasi aus der Draufsicht mitansehen zu müssen, wie mein Körper sich unwillkürlich einen tieferen Schwerpunkt suchte und sich zum unmittelbar bevorstehenden Kampf anspannte, war unheimlich, aber folgerichtig, wenn man bedenkt, dass ich genau genommen mein Grundrecht, in vertretbarer Zeit und ggf. pünktlich von A nach B zu kommen, erstreite.

Zum Glück reichte meine Körpersprache dann aber aus, den Mann zum Einlenken zu bewegen, denn hätte er versucht, sich durchzusetzen, wäre in diesem Bus der Widerstandsfall nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz eingetreten. Er zumindest wird sich wohl nachhaltig an mich erinnern, denn ich dankte ihm abschließend in wieder gelockerter Haltung dafür, dass er rechtzeitig zur Vernunft gekommen war.

Toll finde ich in meiner Eigenschaft als Gewerkschaftsfunktionär die Kontrolleure, die ihr Gewissen nicht an der Garderobe abgegeben haben und trotz aller unsinnig scharfen Dienstanweisungen menschlich korrekt agieren. Als ich am frühen Morgen von einer Demonstration aus Berlin nach Wiesbaden zurückkehrte, konnte ich sofort eine S-Bahn nach Mainz hinüber nehmen und traf darin auf einen Kontrolleur. Ich erklärte ihm den Sachverhalt und rechnete mit keiner Abweichung von der Norm, da er schon meinen Personalausweis in Händen hielt. Er aber gab ihn mir aus heiterem Himmel zurück und sagte: „Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht!“. Ein seltener Glücksmoment, der eigentlich der Normalfall sein müsste.

Mit den Menschen, mit denen ich Diskussionen führe, habe ich selten Probleme. Wie auch? Ich habe ja in jedem einzelnen Punkt recht, selbst das Bundesverfassungsgericht hat mir schon zweimal Recht gegeben; und sowohl der Mut, eine Aktion des zivilen Ungehorsams durchzuführen, als auch der Einsatz, das Recht auch für alle anderen Betroffenen gleichermaßen durchsetzen zu wollen, werden allgemein anerkannt.

Selten wollen Menschen mir, der sich seit sieben Jahren mit allen Details und Tiefen der Thematik beschäftigt, die Welt erklären. Oft sind es dann Kontrolleure oder – besonders traurig – Angehörige der sogenannten politischen Klasse, die sich in den entsprechenden Momenten als extrem entpolitisiert erweisen.

Schade finde ich nur, dass ich fast immer selbst die Initiative ergreifen muss. Ich trage meinen Schwarzfahrer-Ausweis im Bus doch nicht „aus Spaß an der Freud“, sondern damit Mitfahrende auf mich aufmerksam werden und mich darauf ansprechen! Schlimmer: Es ist sogar schon vorgekommen, dass Mitfahrende umgekehrt mich für einen Kontrolleur gehalten haben, obwohl der Schwarzfahrer-Ausweis bewusst ohne Computer gestaltet ist und gerade keinen „professionellen“ Eindruck schinden soll.

W: Wie soll es nun weitergehen, was ist Ihre Perspektive für den, wie Sie sagen, notwendigen Widerstand?

B: Der Widerstand ist objektiv notwendig, denn nur Widerstand kann verhindern, dass Tausende von Mainzerinnen und Mainzern sich entweder ausrauben lassen, indem sie das sogenannte Sozialticket oder die „im Abonnement“ absurderweise sogar etwas kostengünstigere 9-Uhr-Monatskarte kaufen, die sie sich nicht leisten können, oder aber sich selbst aus der Gesellschaft ausschließen, indem sie ihre Verkehrsmittelwahl nicht von ihren realen Mobilitätsbedürfnissen abhängig machen, sondern von ihren je eben gerade verfügbaren Geldmitteln. Oder – und noch schlimmer – aus der situativen Armut heraus schwarzfahren und dann in die Schuldenfalle oder sogar ins Gefängnis geraten.

Und da der Widerstand bislang noch nicht einmal bewirkt hat, dass die zahlreichen Nebenskandale – wie die schikanöse Herausnahme der S-Bahn-Benutzung aus dem Mainzer Sozialticket – aus der Welt geschafft worden wären oder der Preis des Sozialtickets zumindest einmal eingefroren worden wäre, um das Problem nicht immer weiter zu verschärfen, sind die Anforderungen für einen möglichen Erfolg inzwischen zahlreich:

Das Wissen um das Grundrecht auf Mobilität als Schlüssel-Schloss-Prinzip aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mit ÖPNV-Anteil im Regelbedarf hier und dem Angebot eines Sozialtickets an die Adressatengruppen dieser Grundsicherung dort muss verbreitet werden! Es muss wieder ins Bewusstsein gerückt werden, dass Politik mehr ist als das Aufstellen der vernünftigsten Theorien und Konzepte, dass es bei der Politik um die Bündelung von Interessen und die Entwicklung von Durchsetzungsmacht zu ihrer Verwirklichung geht! Die Souveränität der Menschen als Bürger, als individuelle Grundrechtsträger muss an den Tag treten!

W: Was können wir, was können andere tun, um Sie zu unterstützen?

B: Was ich mir beim besten Willen nicht backen kann, sind Menschen, die wie ich aus eigenem Antrieb für die Sache aktiv werden und sich entweder unmittelbar an der Aktion „Schwarzfahren für Gerechtigkeit“ beteiligen oder sie nach Kräften flankierend unterstützen. Etwa mit Leserbriefen, Recherchen oder materiellen Zuwendungen für die politische Schlagkraft der Aktion. Schon die bloße Erinnerung, eine Äußerung im öffentlichen Raum, dass die Stadt oder die Region, in der jemand lebt, noch immer kein Sozialticket, kein Modell zur inklusiven Sicherung der Mobilität Aller vorweisen kann, hilft.

Möglich ist etwa, anstelle eines Sozialtickets den fahrscheinlos nutzbaren ÖPNV für alle oder Ähnliches zur eigenen Forderung zu erheben. Oder die Organisation eines Kreises von Zeitkartenbesitzern, die ihre Bereitschaft, die damit verbundene Mitnahmeregelung an Abenden und Wochenenden mit Menschen ohne eigene Fahrkarte zu teilen, erklären.

W: Noch ein letztes Wort?

B: Ich habe mir meinen Mut nicht angetrunken! Er kommt aus dem Wissen um eine mögliche bessere Welt und aus dem Willen, diese bessere Welt jetzt zu verwirklichen.

W: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Das Interview erschien in den NachDenkSeiten am 19.12.2016.

Hier der Link zum Text: nachdenkseiten.de/?p=36319

Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jensewernicke.wordpress.com.

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