Was macht der Weihnachtsmann,
 wenn Weihnachten vorbei ist?

von Wolfgang Bittner.

Werden die Tage wieder kürzer, die Nächte immer länger, steht Weihnachten vor der Tür. In den Einkaufsstraßen drängen sich die Menschen, und aus den Lautsprechern der Warenhäuser überschwemmt sie eine süße Musik, die durch Mark und Bein geht und ihnen die Kopfhaut zusammenzieht. Sie beginnen sich immer dringlicher auf den Heiligen Abend vorzubereiten, sie zünden Kerzen an, backen oder kaufen Lebkuchen, basteln Strohsterne, schreiben Postkarten in alle Welt, gehen noch schnell zum Friseur, legen Wunschzettel auf die Fensterbank …

Dann ist der langerwartete Tag endlich da, es wird Abend, der Weihnachtsmann kommt, wie ihn jeder kennt: weißer Vollbart, Zipfelmütze, pelzbesetzter roter Mantel, Stiefel, auf dem Rücken ein Sack mit Geschenken. Er hat nicht viel Zeit, der einsame Wohltäter, denn er muss noch weiter, von Tür zu Tür. Das weiß schließlich jeder. – Was aber macht der Weihnachtsmann, wenn die Bescherung vorbei ist?

Also: Wenn der Weihnachtsmann alle Menschen beschenkt hat, die es verdient haben oder verdient zu haben meinen, ist es später Abend geworden. Dann geht er langsam durch die stillen Straßen der Stadt zurück zur großen Kirche, wo er hinter der Orgel seinen Koffer abgestellt hat. Fast alle Menschen sitzen jetzt zu Hause, freuen sich, singen „O du fröhliche …“, essen, trinken, zanken sich, sehen fern, packen ihre Geschenke aus oder sind krank, allein und traurig – je nachdem.

Der Weihnachtsmann holt zur selben Zeit seinen Koffer hinter der Orgel hervor. Darin befindet sich seine ganz normale Kleidung, die er rasch anzieht. Er packt seinen roten Mantel, die Zipfelmütze und die schweren Stiefel in den Koffer, bestellt aus der Telefonzelle neben der Kirche ein Taxi und fährt zurück in sein warmes Häuschen mitten im kalten Winterwald.

Dort erwarten ihn mit Pfefferkuchen und süßem Punsch schon die himmlischen Englein, seine Helfer. Sie haben für ihn in dieser langen Winternacht einen Lichterbaum geschmückt und sogar ein heißes Bad vorbereitet. Anschließend gibt es Gänsebraten mit Klößen und Rotkohl und dazu einen guten Wein. Nach diesem Festmahl wird noch ein bisschen erzählt, es werden ein paar lustige Lieder gesungen, womöglich auch ein paar Schnäpse getrunken.

Und dann sind der Weihnachtsmann und die himmlischen Englein so hundemüde, dass sie ganz schnell ins Bett gehen, um nach den wochenlangen Anstrengungen während des ganzen Weihnachtsrummels endlich ihren verdienten Winterschlaf zu beginnen. Der dauert ungefähr bis kurz vor Ostern, wenn es draußen wieder warm zu werden verspricht und die ersten Krokusse, Himmelsschlüsselchen und Veilchen sprießen.

Wie es nun weitergeht, ist fast schon eine neue Geschichte. Während seines Winterschlafs wachsen dem Weihnachtsmann nämlich ganz allmählich lange und immer längere Ohren, und auch sonst hat er sich durch die viele Ruhe völlig verändert. In der Osterzeit macht er sich schließlich nach einigen Vorbereitungen erneut auf den Weg in die Stadt, diesmal in etwas anderer Verkleidung: als Osterhase. Die restlichen Schokoladenweihnachtsmänner und -tannenzapfen sind in den Fabriken in Schokoladenosterhasen und -eier umgeschmolzen worden, aus Lametta und Engelshaar wurde grünes Ostergras.

Jetzt werden die Tage wärmer und sonniger, und der Osterhase labt sich nach getaner Arbeit an den frischen Kräutern, dem Salat und Kohl in seinem Garten mitten im Wald. Bis ihm nach und nach, im Herbst, wieder ein langer weißer Bart wächst, der ihn an seine Weihnachtspflichten erinnert. Und wir beginnen Kerzen anzuzünden, Strohsterne zu basteln und legen Wunschzettel auf die Fensterbank.

Aus dem Satire-Buch von Wolfgang Bittner „Die Abschaffung der Demokratie“, Westend Verlag 2017.

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Der Schriftsteller und Jurist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Im Juni 2017 erschien von ihm im Westend Verlag eine überarbeitete und um 111 Seiten erweiterte Neuausgabe seines Buches „Die Eroberung Europas durch die USA“.

Siehe auch KenFM im Gespräch mit Wolfgang Bittner

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