Vom Irren und Irreführen | Von Wolfgang Wodarg

In unserem Körper erfüllt jedes Organ eine spezielle Funktion. Der Magen verdaut Speisen, das Herz pumpt Blut, das Hirn lernt und steuert und die Nieren regulieren den Salz- und Wasserhaushalt. Jedes Organ braucht die gute Funktion der anderen. Wenn zum Beispiel der Magen damit begänne, seine Umgebung zu fressen, das Herz, die Lunge oder die Leber, dann hätte das den Tod des ganzen Organismus zur Folge. Vergleichbares gilt für unsere Gesellschaft.

Auch unsere Gesellschaft ist nur dann leistungsfähig, wenn wir uns auf ihre Organe, die Justiz, die Polizei, das Finanzamt, die Krankenkassen, das Robert Koch-Institut (RKI) oder die Bundeskanzlerin, verlassen können. Nur wenn alle die ihnen anvertraute Arbeit leisten, können auch die anderen ihre Aufgaben erfüllen.

Wenn ein Organ unserer Gesellschaft gefräßig wird und aus Macht- oder Geldgier sich andere wichtige Funktionen einverleibt, zerstört es seine eigene Grundlage. Wenn die Hüter der Währung anfangen zu spekulieren und nach Boni jagen, die Chefärzte am Klinikumsatz beteiligt werden, die Krankenkassen sich im Wettbewerb nur noch um „gute Risiken“ kümmern, das Kraftfahrtbundesamt vor dem Dieselruß die Augen verschließt und wenn die Macht vergisst, von wem ihr diese anvertraut wurde, dann frisst der Magen das Herz, und das alles funktioniert nicht mehr.

Deshalb ist es alarmierend, dass die für unser Wissen so wichtige Kritik unabhängiger Forscher nur noch dort toleriert wird, wo sie den wirtschaftlichen Erfolg oder die Macht nicht behindert. Dann fehlt jedoch die für alle so wichtige kritische Wahrheitssuche. Und damit fehlen auch die Forschungsergebnisse wachsamer Wissenschaftler als allgemein nutzbare verlässliche Entscheidungsbasis.

Wie wir in der Corona-Krise schmerzlich erkennen, hat das in allen Bereichen verheerende Folgen für die zu treffenden Entscheidungen. Im Wissenschaftsbetrieb herrscht — kurz gesagt — die Korruption.

Und da leider auch viele Medien käuflich sind, lesen, sehen und hören wir kaum etwas über dieses Phänomen. Wenn Ultrareiche wissen, was sie wollen, dann missbrauchen sie die Wissenschaft nur noch dazu, uns in ihrem Sinne etwas vorzumachen.

Für die meisten Menschen ist die mediale Hirnmassage zu Corona realer als das, was sie auf der Straße, im Wartezimmer des Arztes, bei der Arbeit oder in der Schule erleben. Oft denke ich in diesen Monaten an die Antiquiertheit des Menschen, wie sie Günther Anders nannte (1). Sehr seherisch schildert er, dass Menschen die Welt nur noch als Matrize wahrnehmen. Er schreibt:

„Natürlich können wir das Fernsehen zu dem Zwecke verwenden, um an einem Gottesdienst teilzunehmen. Was uns dabei aber, ob wir es wollen oder nicht, genauso stark ‚prägt‘ oder ‚verwandelt‘ wie der Gottesdienst selbst, ist die Tatsache, dass wir an ihm gerade nicht teilnehmen, sondern allein dessen Bild konsumieren.“

Vom Irren und Irreführen

Mein geschätzter Doktorvater, der Soziologe und Psychiater Professor Klaus Dörner, hat vor 40 Jahren zusammen mit seiner Kollegin, der Diplom-Psychologin Dr. Ursula Plog, ein sehr erfolgreiches Standardwerk mit dem programmatischen Titel „Irren ist menschlich“ veröffentlicht. Darin beschreiben beide Autoren eine offene, fragende und soziale Psychiatrie (2). Das bahnbrechende Werk wird seither laufend aktualisiert. Der Titel ist sehr weise gewählt. Wer in der Demokratie als „irre“ gilt, wird von den jeweils Stärkeren definiert.

In manchen Fällen ist das auch die Mehrheit der Menschen. Deshalb gilt: Wer heute angeblich irrt, den kann schon morgen eine neue Mehrheit rehabilitieren und als vernünftig ansehen. Manchmal führten große Skandale zu einer neuen Sicht der Dinge. Manchmal musste dafür auch erst ein Krieg verloren werden. Manchmal brauchten Gesellschaften Hilfe von außen oder Wahrheitskommissionen oder internationale Prozesse.

Dieses Buch schreibe ich deshalb, weil ich sehe, dass sich die Menschen nach Vogel- und Schweinegrippe jetzt mindestens zum dritten Mal in die Irre führen lassen (3). In diese Irre führen sie offenbar unter anderem Spezialisten aus Virologie und Biomathematik, die sich selbst gefährlich überschätzen. Diese Experten präsentieren uns mit sorgenvoller Stirn und ständig neuen Hochrechnungen bisher nicht beachtete Details als bedrohliches Zukunftsszenario.

Ihr hochwissenschaftlich klingendes Fachlatein macht Eindruck und bewirkt — medial verstärkt — zum wiederholten Male einen irren Schutz-, Investitions- und Impfaktionismus. Noch hat die Mehrheit offenbar nichts aus der Vergangenheit gelernt.

Für die erwähnten Spezialisten lohnen sich diese Pandemie-Kampagnen. Geldgeber mit eindeutigen Wirtschaftsinteressen stärken ihren Instituten den Rücken. Offenbar zahlt es sich für die oft bühnenerprobten Wissenschaftler immer wieder aus, sich „vor den Karren anderer spannen“ zu lassen.

Wir sind Zeugen eines Prozesses, der in den letzten Jahrzehnten begann: Einer leider von Sponsoren aus der Impfindustrie völlig abhängigen Weltgesundheitsorganisation, der WHO, ist es gelungen, geschäftstüchtige Virologen für eine „Angstmaschine“ zu gewinnen.

Zunächst wurde mit dieser Strategie „nur“ Geld verdient, doch jetzt wird eine gesellschaftliche Schocktherapie versucht, bei der man sich fragt, ob nicht die Therapeuten selbst behandelt werden müssten.

Das koordinierte Handeln der Akteure dieser Angstmaschine haben Vertreter aus Finanz-, Militär-, Big-Data- und Pharmaindustrie im Rahmen einer „Pandemic Preparedness“ seit Beginn dieses Jahrtausends konzipiert, also bereits vor SARS und Vogelgrippe.

Seitdem wird dieses Konzept perfektioniert und global ausprobiert. Da die Medien sensationshungrig, weitgehend wirtschaftlich abhängig sowie politisch beeinflussbar sind, spielen sie stets brav ihre Rolle als Panikmacher. Sie sind wichtige Partner beim Agenda Setting und bei der medialen Angstmache nach dem Rezept der von Naomi Klein beschriebenen Schock-Strategie (4). Wir erleben einen „Embedded Journalism“ im Krieg gegen die Viren.

Offenbar ist Terrorismus inzwischen als Angstmaschine überholt. Die Terror-Panikmache sorgte dafür, dass hauptsächlich die Aktienkurse der sogenannten Sicherheitsindustrie in die Höhe schnellten (5), jetzt profitieren eindeutig wieder Pharma-Werte. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem lässt sich an den Bilanzen leicht ablesen, wer irrt und wer nicht.

Covidioten und Fachidioten

Derzeit müssen sich Menschen, welche die Dinge infrage stellen, oft beschimpfen lassen. Die sich noch in der Mehrheit Fühlenden haben zu meinem Bedauern Angst vor Viren, halten an ihrer Angst einander fernhaltend fest und neigen dazu, abweichende Ansichten und Denkweisen ebenfalls fernzuhalten, statt sich für sie zu interessieren.

Andersdenkende heißen heute oft Spinner, Aluhüte, Verschwörungstheoretiker oder Covidioten. Die Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten, Saskia Esken, war sich im Sommer 2020 einer Mehrheit wohl noch sehr sicher, als sie alle Demonstranten gegen Regierungsmaßnahmen als „Covidioten“ bezeichnete (6). Nachdem ihr sogar ein Gericht bestätigt hat, dass ihr Missgriff nicht den Tatbestand der Beleidigung erfüllt, fühle ich mich frei, die Bedeutungen und Konnotationen der Begriffe Covidioten und Fachidioten zu untersuchen.

Ich benutze diese Begriffe hier rein soziologisch-taxonomisch und spreche ihnen ausdrücklich jede beleidigende Bedeutung ab. Die alten Griechen bezeichneten einfache, nicht politisch aktive Bürger oder einfache Soldaten als „Idiotes“ (ἰδιώτης). Heute benutzen Menschen, die sich gern über andere erheben, diesen Begriff, um Andersdenkende abzuwerten.

Wer also von Covidioten spricht, der möchte mit dieser Erniedrigung Andersdenkender selbst ein bisschen höher erscheinen. Es geht deshalb bei derartigen Versuchen nicht um Wissen, Wahrheit und Erkenntnis, sondern darum, Machtpositionen zu verteidigen.

Machtgerangel ist in der Politik normal. Politiker müssen — wie uns spätestens Niklas Luhmann (7) bestätigt hat — um Macht kämpfen, um ihrer gesellschaftlichen Funktion als Regelsetzer und Regelwächter nachkommen zu können.

In einer Demokratie aber geht bekanntlich alle Macht vom Volke aus. Der Regierung wird die Macht also immer nur für kurze vier Jahre anvertraut. Während dieser Zeit gehört es zu ihren Pflichten, die unterschiedlichen Interessen der gesamten Bevölkerung bei ihren Entscheidungen zu beachten und Kompromisse zu finden. Politiker versagen und verfehlen ihre Aufgabe, wenn sie nicht aktiv für einen Meinungsabgleich in der Sache sorgen, sondern stattdessen Andersdenkende diffamieren, um sich so ohne inhaltliche Auseinandersetzung über sie zu erheben.

Als Student an der Freien Universität in Berlin habe ich die Ambivalenz des Begriffs „Idiot“ bereits einmal eindrucksvoll erlebt. Als während der ersten studentischen Demonstrationen circa 1967 die rebellischen Studierenden den „Muff unter den Talaren“ angriffen, wurde gegen unpolitische Spezialisten in universitären Fächern sehr häufig der Kampfbegriff „Fachidiot“ verwendet. Damit versuchte die rebellierende, um politische Gestaltungsmacht kämpfende Studentenschaft, sich über die dominante Professorenschar zu erheben, indem sie diese als Idiotes hinabwürdigte.

Ich werde den Konflikt am Kaffeetisch meines Kommilitonen und Freundes nicht vergessen. Sein Vater, damals bekannter Chefarzt und Dekan der medizinischen Fakultät, kam sehr wütend nach Hause und beschwerte sich entrüstet bei uns, dass Vertreter des Allgemeinen Studierendenausschusses AStA ihn als „Fachidioten“ beschimpft hatten. Bei dem Versuch, sich zu verteidigen, machte er das Ganze aber noch schlimmer, als er sein hohes anerkanntes Spezialwissen als Gegenargument auf den Kaffeetisch legte. „In meinem Fach bin ich doch eine wissenschaftlich hoch anerkannte Autorität!“, äußerte er total empört. Vor lauter Fachlichkeit hatte er die politische Bedeutung des Begriffes nicht verstanden.

Fachidioten wurden ja gerade Spezialisten wie er genannt, die für alle anderen Sichtweisen und Interessen neben ihrem Fach wenig Zeit und Verständnis aufbrachten. Mit seiner Argumentation hatte er mir, in meinem studentisch-aufmüpfigen Hochmut, den Beweis für die Richtigkeit dieser erniedrigenden Bezeichnung geliefert.

Vom Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann stammt die Erkenntnis, dass Spezialisten von der Gesellschaft den Auftrag haben, ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft ihrem Spezialgebiet zu widmen, es vorrangig und unbeirrbar als das Wichtigste zu betrachten.

Da ist es also ganz normal, dass sie in ihrer eigenen Realität leben. Sie entwickeln dafür sogar eine eigene Sprache, eigene spezielle Codes und eigene in ihrem Fach anerkannte Methoden. Das gilt übrigens für alle Spezialisten, wenn diese die ihnen anvertraute Aufgabe als primäres Interesse verfolgen.

Als ein Journalist den berühmten Physiker Heinz von Foerster in einem Interview zu seinem 90. Geburtstag (8) aus seinen erkenntnistheoretischen Betrachtungen auf den Boden der Realität zurückholen wollte, fragte dieser ernsthaft irritiert: „Von welcher Realität sprechen Sie, junger Mann?“

Von Foerster erinnerte uns daran, dass je nach Blickwinkel, nach den verwendeten Instrumenten und genutzten Sprachen oder Grundannahmen sich für die vielen Beobachter eine jeweils andere Sicht auf ihre Realität ergibt — auch in der Wissenschaft.

Die Selbstüberschätzung von Spezialisten erscheint mir unausweichlich. Hebt sich doch ihr Fachwissen aus dem Kenntnisstand der Masse heraus. Dennoch spricht vieles dafür, sich nicht allein auf Virologen oder die Sichtweise einer speziellen Wissenschaft zu verlassen. Sonst kann es sein, dass man selbst der Idiot ist, der gesamtgesellschaftlich relevante Sachverhalte ignoriert.

Den ebenfalls diskriminierend benutzten Begriff „Corona-Leugner“ finde ich aber völlig absurd. Ärzten zu unterstellen, sie leugneten die Existenz von Coronaviren, ist zum Beispiel paradox, weil diese sie natürlich schon immer als Variante der Grippeerreger im Auge haben mussten. Jemand, der die Existenz von Coronaviren insgesamt verneint, ist mir bisher weder persönlich noch in den Medien begegnet. Aber viele von denen, die solche Schimpfworte verwenden, haben 2019 noch nicht einmal gewusst, dass es diese Virenart überhaupt gibt.

Geleugnet werden heute allerdings viele besorgniserregende Entwicklungen, zum Beispiel, dass durch das Herunterfahren der Wirtschaft Millionen Menschen im In- und Ausland in Existenznot, Hunger und Tod getrieben werden.

 

Quellen und Anmerkungen:

  1. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, C. H. Beck Verlag, München 1961.
  2. Klaus Dörner, Ursula Plog, Christine Teller, Frank Wendt, Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie, 25. Auflage, Psychiatrie Verlag, Köln 2019.
  3. AIDS, BSE, SARS, MERS, Ebola und Zika kann ich hier nur anekdotisch mit behandeln.
  4. Naomi Klein, Die Schock-Strategie, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007.
  5. „Private Military and Security Firms and Erosion of the State Monopoly on the Use of Force“, Assembly debate on 29 January 2009, 8th Sitting, see Doc. 11787, report of the Political Affairs Committee, rapporteur: Mr Wodarg.
  6. https://de.reuters.com/article/virus-esken-covidiot-idDEKBN25T1WM
  7. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, Seite 747 bis 748: „ … auf der Ebene des umfassenden Systems der Gesellschaft kann keine allgemeingültige, für alle Teilsysteme verbindliche Rangordnung der Funktionen eingerichtet werden. Keine Rangordnung heißt auch: keine Stratifikation. Vielmehr ergeht an alle Funktionssysteme der Auftrag, sich selbst im Verhältnis zu den anderen zu überschätzen, dabei aber auf eine gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit der Selbstbewertung zu verzichten.“
  8. Ein wunderbares Interview: https://www.youtube.com/watch?v=2KnPBg-tanE

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Danke an den Autoren für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Artikel erschien zuerst am 12. Juni 2021 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

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Bildquelle:      Stocker plus / shutterstock

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