Verrückte Russen?

Russland würde den USA sein bestes Waffensystem verkaufen, so ein Putin-Berater. Gedanken zu den sehr gegensätzlichen Mentalitäten in Moskau und Washington.

von Paul Schreyer.

Sergej Tschemesow ist ein Russe mit Macht und Humor. Wenn er nicht gerade gutgelaunt mit Putin ein Eis isst, leitet er den staatlichen russischen Hightech- und Rüstungskonzern Rostec, für den gut eine halbe Million Menschen arbeiten. Tschemesow ist einer von Putins engsten Beratern, sie kennen sich noch aus alten KGB-Zeiten in der DDR. Ende der 1980er Jahre lebten beide in Dresden im gleichen Wohnblock und sind seither befreundet. Letztes Jahr besuchten Putin und Tschemesow ihren früheren Dresdner KGB-Chef zu dessen 90. Geburtstag in seiner kleinen Moskauer Wohnung und stießen dort vor laufenden Kameras bei Kaffee und Kuchen auf die Kameradschaft an. Alte, ewiggestrige stalinistische Seilschaften, könnte man sagen, oder auch: eine menschliche Geste des Respekts vor den Älteren. Es ist eine Frage des Blickwinkels.

So ähnlich verhält es sich auch mit dem Interview, das Tschemesow vor kurzem dem Moskauer Korrespondenten der Washington Post gab. In dem Gespräch ging es unter anderem um das Luftabwehrsystem S-400, einen der größten Exportschlager der Russen. Das S-400-System kann angreifende Flugzeuge und Raketen bis zu einer Entfernung von 400 km abfangen und ist deshalb international sehr begehrt. Russland hat es an China verkauft und zuletzt sogar an die Türkei. Damit erhält erstmals ein Nato-Land russische Hightech-Waffen – ein Knalleffekt auch auf der politischen Bühne. Derzeit laufen Verhandlungen über eine eventuelle Lieferung an Saudi-Arabien, Ägypten und Katar, sämtliche Regime, die dem Westen nahe stehen. Sie alle wollen die russischen Abwehrraketen aus einem einfachen Grund: Es handelt sich nach Meinung vieler schlicht um das technisch beste System auf dem Markt, das insbesondere dem amerikanischen Konkurrenzprodukt überlegen ist.

Im Gespräch mit der Washington Post setzte Tschemesow nun noch eins drauf. Auf die Frage nach dem strategischen Motiv für Moskau, solch ein hochentwickeltes Waffensystem gerade an ein Nato-Land wie die Türkei zu verkaufen, meinte er trocken:

„Die S-400 ist kein offensives System; es ist ein defensives System. Wir können es an die Amerikaner verkaufen, wenn sie wollen. Aus strategischer Sicht gibt es da keine Bedenken. Und ich sehe keine Probleme für Russland, was die Sicherheit angeht. Ganz im Gegenteil, wenn ein Land in der Lage ist, seinen Luftraum zu sichern, dann wird es sich sicherer fühlen. Und diejenigen, die vielleicht vorhaben, dieses Land anzugreifen, werden es sich zweimal überlegen.“

Tschemesows Argument klingt logisch und ist von einiger Tragweite. Ein Land, das niemanden angreifen will, kann seine Verteidigungstechnik ohne Probleme mit anderen teilen. Dabei verliert es nicht. Nur jemand, der andere attackieren möchte, wird so etwas vermeiden, da die Stärkung der gegnerischen Abwehr ja die eigene Angriffsfähigkeit vermindern würde.

Wer ist der Aggressor?

Dass die USA umgekehrt keineswegs bereit sind, ihre Verteidigungstechnik mit Russland zu teilen, zeigte sich etwa bei den Verhandlungen über den amerikanischen Raketenabwehrschirm in Osteuropa. Als Putin 2007 überraschend vorgeschlagen hatte, einen gemeinsamen russisch-amerikanischen Raketenschutzschirm für ganz Europa aufzuspannen und dazu eigene Militäranlagen in Aserbaidschan ins Gespräch brachte, lehnten die Amerikaner ab.

Kein Wunder, richtet sich doch der US-Raketenschirm weniger gegen den Iran oder andere „Schurkenstaaten“, wie stets treuherzig behauptet wird, sondern viel eher gegen den alten Feind Russland. Die US-Raketen in Osteuropa würden Moskaus Zweitschlagsfähigkeit ausschalten. Zweitschlag heißt: Ein Land, das mit Atomraketen angegriffen wird, kann sich anschließend immer noch mit einem atomaren Vergeltungsschlag „rächen“. Diese Fähigkeit bedeutet praktisch eine Garantie, selbst nicht atomar angegriffen zu werden. Im Kalten Krieg war das die Standardsituation zwischen Russen und Amerikanern. Beide waren in der Lage zum Zweitschlag, daher blieb es „friedlich“.

Die neue US-Raketenabwehr könnte nun – falls sie denn technisch funktionieren sollte – russische Vergeltungsraketen, die nach einem US-Angriff starten würden, problemlos abfangen. Damit wäre ein amerikanischer Atomkrieg gegen Russland möglich – so glauben es zumindest einige – mental offenbar der Filmfigur Dr. Strangelove ähnelnde-Strategen im Pentagon. Putins Vorschlag, eine Raketenabwehr gemeinsam mit den Amerikanern zu organisieren, ist unannehmbar für jene, die einen Angriff gegen Moskau planen oder zumindest dessen Möglichkeit als Druckmittel benutzen wollen. Wer also, so darf und muss man angesichts all dessen fragen, ist eigentlich der Aggressor auf der geopolitischen Bühne? Wer ist der Verrückte?

Russland tut manches, um die Weltöffentlichkeit zum Nachdenken über die vertrackte Situation zu bringen – wenn auch mit schwachem Erfolg, denn strategisches Denken ist kompliziert und erfordert genau die Art von Perspektivwechsel, den die lauter werdende Kriegspropaganda den Menschen abzutrainieren versucht.

Tschemesow warnt derweil: Ein neues Wettrüsten könne schnell außer Kontrolle geraten und schon ein Funken die Welt zerstören. Sein eigenes Unternehmen Rostec profitiere zwar von steigenden Rüstungsausgaben, allerdings gibt er zu bedenken:

„Unsere Aufgabe als Unternehmen ist es, den Anteil ziviler Produkte auf 50 Prozent anzuheben. Das müssen wir so rasch wie möglich schaffen, damit auch bei einem Rückgang der Rüstungsbestellungen das Unternehmen stabil bleibt. Wir können dann die zivile Produktion ausweiten und Militärtechnik durch zivile Artikel ersetzen. Wenn also der politische Entspannungsprozess beginnt, hoffen wir, unsere Firma nicht schließen zu müssen, sondern zivile Güter zu bauen.“

Dieser verhalten, optimistische Blick in die Zukunft und überhaupt die Vorstellungskraft, eine Abrüstung im großen Stil für möglich zu halten und anzustreben, scheint bei westlichen Eliten weitgehend abhanden gekommen zu sein. Hier regiert stattdessen weiter der Wahn, sich „rüsten“ zu müssen, „recht“ zu haben und „siegen“ zu können. In einer multipolaren Welt kommt solches Denken einem Realitätsverlust gleich.

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