Tyrannische Denkfaulheit | Von Matthias Rohl

Beim Versuch, „Verschwörungstheorien“ abzukanzeln, versteigt sich der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl selbst in wirre Theorien.

Ein Standpunkt von Matthias Rohl.

Erschütternd, was sich seit Monaten vor unseren Augen abspielt: Immer tiefer gerät die Exekutive eines nervösen Staates in die selbstgestellte Autoritätsfalle. Die Verstetigung des Ausnahmezustands kann dabei die eklatanten Widersprüche einer evidenzlosen Maßnahmenpolitik kaum noch verdecken. Der Staat spielt Krieg im Frieden — gegen die eigenen Bürger; denunziert wird, wer Fragen stellt. Jetzt hat auch der renommierte Literaturwissenschaftler Joseph Vogl in einem Interview pauschal jede Demonstration gegen diese Maßnahmenpolitik in das imaginierte Reich des Postfaktischen verbannt. Was geht hier vor? Und wie sähe eine intelligente Alternative aus?

„Wenn man die Demokratie erst mal schützen muss, ist sie schon keine mehr“ — Elfriede Jelinek (Babel, 2004).

„Jedes Spiel hat seine Regeln. Wir müssen nur lernen, sie zu brechen“ — Westworld (HBO, dritte Staffel, Episode zwei, 2020).

Fritz Lang zeigt in seinem expressionistischen Meisterwerk Metropolis (1927) jene dystopische Welt des New Dark Age (1) — ein dunkles Zeitalter, das seine visionären Schatten weit in unsere Gegenwart hineinwirft. Im Fluchtpunkt einer cineastisch inspirierten Lagebildforschung lässt sich zudem jener sozialutopische Impuls in den unzähligen Motiven des teuersten Films der Weimarer Republik erkennen: Aufstand, Ausbeutung, Automation, Doppelgänger, Eifersucht, Entfremdung, Familienkonflikt, Maschinenmacht, Rache, Reichtum (2). Virtuos überblendet Lang demnach dystopische und utopische Bildkosmen — das Lichtspiel erscheint als paradoxal-philosophische Kollektivierung der Träume (3).

Während die Reichen und Mächtigen in der Oberstadt ihrem Luxusleben frönen, fristen die Arbeitssklaven in den Tiefen der Erde ihr unausweichliches Elend. Oberausbeuter Joh Fredersen sieht in den Arbeitern nichts als niedere Abhängige, schließlich folgt der Massenaufstand. In einer Schlüsselszene heißt es:

„Joh Fredersen will, dass die in der Tiefe sich durch Gewalttat ins Unrecht setzen, damit er das Recht zur Gewalt gegen sie bekommt.“

Man ist versucht, dies als die perfekte metaphorische Beschreibung der aktuellen Verstetigung des Ausnahmezustands durch die Exekutive zu lesen, die der empirisch unhaltbaren, zudem verfassungswidrigen Logik (4) einer PCR-testinduzierten (5) Pandemie-Fiktion (6) folgt — inzwischen sogar orchestriert durch perfide Methoden digitaler Demagogie, Manipulation und Zensur (7).

Ausnahmezustand im nervösen Staat

Die destruktive Entkopplung der Exekutive von jeder demokratischen Kontrolle ist indes kein wirklich neues Phänomen — was wir gegenwärtig erleben, ist allenfalls die radikalisierte Beschleunigung, der Drift in die Antizipationsfalle, in die sich der nervöse Staat manövriert hat.

Der Philosoph Giorgio Agamben hat hierfür — vor dem Hintergrund der 9/11-Erfahrung — den juristischen Begriff des Ausnahmezustands durch rhapsodisch arrangierte Lektüren kanonischer Texte von Carl Schmitt, Walter Benjamin und Michel Foucault revitalisiert und revidiert (8).

Für Agamben ist die Gewalt der Ausnahme rechtsvorenthaltende Gewalt — zeitlich im Ausnahmezustand und räumlich in der Ausnahme des nackten Lebens:

„In diesem Brennpunkt der beiden Logiken der Ausnahme ergibt sich für Agamben nun eine katastrophale Latenz, nämlich die Möglichkeit der zeitlichen Verstetigung des Ausnahmezustands und der räumlichen Ausweitung der Exklusion von nacktem Leben“ (9).

Im Deutungshorizont dieser doppelt zugespitzten Ausnahmelogik avanciert das (Internierungs-)Lager gar zum Nomos der Moderne (10). Doch was ist der nervöse Staat? Der Rechtswissenschaftler Tristan Barczak resümiert in seiner bahnbrechenden Habilitation:

„Nervös ist ein Staat, der die Logik der Wirklichkeit durch die Logik der Möglichkeit ersetzt, der aus ständiger Angst, den kritischen Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, schon in der Normallage so handelt, als befinde er sich im Ausnahmezustand, der unentwegt nach Gefahrenquellen und potentiellen Feinden Ausschau hält, der Gefahren beseitigt, bevor sie entstehen, der vorsorglich agiert, statt abzuwarten, der bekämpft, statt abzuwehren, der im Frieden Krieg spielt. Nervös ist ein Staat, der sich in einem Zustand ständiger Wachsamkeit befindet, der seine Burg verlässt, weil er ihren Mauern nicht vertraut. Ein Staat, der nie ruht, ist ein nervöser Staat“ (11).

Inwieweit sich dieser nervöse Staat des methodischen Repertoires militärisch inspirierter Aufstandsbekämpfung, geheimdienstlich koordinierter Ausspähung sowie polizeigesetzlich flankierter Aufrüstung bedient, ist inzwischen differenziert erforscht (12).

Getöse im Debattenraum

Bedenken und Zweifel mit Blick auf die Anti-Corona-Maßnahmen der Exekutive lassen sich demnach — medizinisch, ökonomisch, juristisch — nicht einfach verdrängen. Was wäre der kritischen Faktenfülle noch hinzuzufügen, die sich rasch im digitalen Äther hierzu abrufen lässt (13)? Genau deshalb formiert sich ja seit Monaten an breiter Front zunehmend Widerstand in vielfältiger Form. Und wie reagiert Joseph Vogl, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, in einem aktuellen Interview? Ich transkribiere so präzise und wortgetreu wie möglich:

„Wie geht man mit Sachverhalten um wie diesem eigentümlichen Novum des öffentlichen Dissidententums wie beispielsweise Anti-Corona-Demonstrationen? Interessant ist ja, dass sich hier auf der einen Seite die Radikalisierung des Meinungshaften im Zeichen von Verschwörungstheorien mit einer Radikalisierung des Postfaktischen, das heißt also, ich demonstriere gegen die Existenz einer Seuche, dass sich diese Dinge in einer eigentümlichen Weise miteinander verknüpfen — und ich würde behaupten, dass sich hier auch in diesem politischen Spektrum, das sich dort versammelt, eine eigentümliche Resilienz gegenüber gegenwärtigen Informationsökonomien gebildet hat.

Das heißt also: Ich spiele mit. Ich bin präsent. Ich äußere mich öffentlich. Und ich radikalisiere einen entscheidenden Punkt des gegenwärtigen Systems, nämlich die Reduktion der eigenen Position auf das schlicht Meinungshafte, auf etwas, das ich nicht begründen muss, auf etwas, das ich vom anderen nicht widerlegt haben will — und auf etwas, was sich durch das Recht des Nicht-Recht-haben-Könnens in irgendeiner Weise auszeichnet. Das, was hier zirkuliert, eigentlich Infopinion genannt werden müsste, also eine eigentümliche Vermischung zwischen Meinung und Information.

Wir leben letztlich in einer Gesellschaft der Meinungsmärkte. Ich bilde mir meine Meinung und ich bestehe darauf. Die Meinungsfreiheit von den Vereinigten Staaten (First Amendment) hat sich gewissermaßen zu einem Weltprinzip entwickelt. Und das ist das Recht, in letzter Konsequenz erstens keine Gründe anführen zu müssen und zweitens das Recht, nicht Recht haben zu dürfen, wird damit eingeschlossen. Und ich denke, dass Resilienz in diesem Zusammenhang bedeutet, im Zweifelsfall den Rückzug auf die eigene Meinung als Strategie des Ausstiegs wie der Teilhabe in diesem System gleichermaßen zu begreifen. Das heißt also in der Immunisierung gegen Legitimitätsbegründungsfragen, wenn man so will, auch in der Immunität gegenüber Fragen der Haftung, dessen, was man äußert, zeigt sich die Resilienz, das heißt die Anpassungsfähigkeit an das gegenwärtige Informationsregime“ (14).

Es ist zutiefst erschütternd, sehen zu müssen, wie sich Vogl hier vor laufender Kamera in wenigen Minuten selbst diskrediert — und nicht zuletzt den diskursiven Höchststandard seiner eigenen Monographien konsequent unterläuft (15). Ironisch könnte man noch pointieren:

Hätte er hier, statt von Demonstrationen, vom Agieren der Exekutive gesprochen — es wäre fast eine originelle Beschreibung der Demokratie zerstörenden Entwicklungen der letzten Monate und das Interview gerettet gewesen.

So jedoch ist buchstäblich jede Silbe schief und falsch: Die Demonstrationen und Widerstände richten sich nicht gegen „Corona“, sondern gegen die Maßnahmen, die jede evidenzbasierte Plausibilität sprengen (16).

Der Rest ist folgerichtig nur noch rhetorisches Getöse, weil schon die Intentionen des Adressaten dieser Fundamentalkritik völlig falsch beschrieben sind. Wer hat wann und wo genau in den letzten Monaten jemals gegen die Existenz einer Seuche demonstriert? Und warum spricht Vogl von Seuche, wenn der offizielle Terminus doch Pandemie (17) lautet? Kennt er den Unterschied nicht? Gibt es einen? Wer reduziert seine Position auf das schlicht Meinungshafte? Warum nennt Vogl in dieser Interview-Passage nie konkrete Namen oder Beispiele — anders als etwa sein Fachkollege Slavoj Žižek, der ja mit Namen und Beispielen niemals geizt?

Auf welche Quellen beruft sich Vogl bei seinem Pauschalangriff? Oder bezieht er sein politisches Weltwissen etwa leichtsinnig nur aus überregionalen Tageszeitungen? Kennt er überhaupt die zahlreichen Gegeninitiativen, die sich im Netz professionell formieren, gerade weil etablierte Medien ihnen keinerlei angemessenen Diskurs- und Debattenräume mehr eröffnen (18)?

Es wäre wirklich interessant, zu erfahren, aus welchen valide überprüfbaren Quellen Joseph Vogl sein Wissen schöpft — man kann nur hoffen, dass sein neues Buch hierzu seriös recherchierte Fakten benennt (19). Unweigerlich sei vorerst an jenes berühmte Diktum von Pierre Bourdieu erinnert: Wenn man sich politisch engagiert und dabei anfängt, Unsinn zu erzählen, ist man nicht länger ein Intellektueller.

Dialektik als humoristisches Weltprinzip

Besonders frappierend ist jedoch, dass Vogl, der in seinen bisherigen Forschungen stets jede seiner Thesen und Ideen äußerst minutiös und präzise belegt, in diesem Interview jeden Minimalstandard seriöser Geistes- und Sozialwissenschaft unterminiert. Hätte er bei seinem Fachkollegen Peter Zima nachgeschlagen, wüsste er, dass sich, stark vereinfacht, mindestens zwei unhintergehbare Gütekriterien guter geistes- und sozialwissenschaftlicher Theorie angeben lassen: Dialektik und Dialog — also Widerstreit und Verständigung (20)!

Man könnte hier erinnern an Goethes Maxime: „Das Gleiche läßt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“ Auch die berühmte diskursethische Formel vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments von Jürgen Habermas hat hierin ihren Ursprung. Nicht zuletzt ließe sich denken an Niklas Luhmanns lakonische Bemerkung, in der Wissenschaft gebe es ohnehin nur semantische Festlegungen auf Widerruf.

Wollte man den eindimensionalen Sichtachsen unserer „bleiernen Zeit“ (Hölderlin) entfliehen, wäre das Abtauchen in die komplexen Untiefen der Philosophie Hegels zudem aktueller denn je. Warum? Weil sie uns, wie bereits Bertolt Brecht betonte, Dialektik als humoristisches Weltprinzip offenbart (21).

Oder, wie der Schwabe Georg Wilhelm Friedrich Hegel nicht selten genüsslich bemerkte: „So isch no au wieder!“ (22). Das soll heißen: Jede Sicht auf die Welt ist perspektivisch und konkret — und gerade nicht absolut.

Der Philosoph Günter Zöller bilanziert: „Wir Späteren können von Hegel lernen, dass man schwierigen und schwer überschaubaren Lagen und Situationen nicht mit Vereinfachungen und Einseitigkeiten begegnet, sondern mit der gründlichen Kenntnis der Vorgänge und Zusammenhänge und mit der vernünftigen Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen.“ (23)

Hegelianisch betrachtet, ist demnach das substanzlose Gefasel über Verschwörungstheorien schon deshalb kognitiv kastriert, weil hierbei bereits der Begriff Theorie, im Sinne des skizzierten komplexen Zusammenspiels aus Widerstreit und Verständigung, völlig falsch — oder gar nicht — verstanden wird und zudem „schlichte Arroganz oder das Unvermögen, ein klares Gegenargument zu benennen“ (24) in den Lichtkegel kooperativer Erkenntnis tritt (25).

Man könnte dies auch denunziatorische Tyrannei der Denkfaulheit nennen — und die Frage drängt sich auf, ob man sich diese Faulheit angesichts der gegenwärtigen Weltlage noch erlauben kann.

Wir sollten immer bedenken: Wer seinen Mitmenschen jede dialogische Dialektik verweigert, läuft stets Gefahr, seine eigene Menschlichkeit zu verlieren (26). Jeder Schritt in diese Richtung ist einer zuviel. Eigentlich erbärmlich, dass man daran überhaupt erinnern muss.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Die Bücher „Die feinen Unterschiede“ und „Über den Staat“ von Pierre Bourdieu werden in diesem Zusammenhang empfohlen.

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Dieser Beitrag erschien am 16.12.2020 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse

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Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

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Bildquelle: Dusan Petkovic / shutterstock

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