Teatime in meiner Horrorbibliothek

Von Dirk C. Fleck.

Ein Tag im November, nachmittags 14 Uhr. In den Wohnzimmern gegenüber brennt Licht. Die Stadt zieht die Schultern ein im Regenstaub. Novembertage sind wie Ertrinkende: kaum dass sie sich ans Licht erheben, versagen ihre Kräfte. Sie tauchen aus Nacht und Dämmerung, tropfend, besudelt und klamm. Legen sich auf die Gesichter der Menschen. Stumpfe Masken in gezähmter Hysterie. Sie schlurfen durch den Gestank, den der Nebel bindet. Man muss in die Offensive gehen, um ihre schreckliche Macht zu brechen, von der sie keine Ahnung haben. Jemand nach der Uhrzeit fragen, zum Beispiel. Oder mit einer heißen Tasse Tee in der Hand wieder einmal seine Bücher aufsuchen, ein wenig herum stöbern.

Der Zyklus der Stunden. Die Lemuren jammern in mitternächtlicher Klage. Ein Uhr früh: Zorn wird Elend. Zwei Uhr früh: Elend wird Panik. Ebbe und Nadir der Hoffnung (Fußpunkt gegenüber dem Zenit) ungefähr von zwei bis vier Uhr früh. Magische Euphorie steigt in den Stunden von vier bis sechs Uhr früh auf – das fruchtbringende „Alles Klar“: Friede und Sicherheit kommen aus der Verzweiflung“.

Die Passage stammt aus dem Buch „Das Grab ohne Frieden“ von Palinurus. In der griechischen Mythologie ist Palinurus der umsichtige Steuermann des Aeneas auf dessen Irrfahrt vom zerstörten Troja nach Italien. Palinurus steht aber auch für Cyril Vernon Connolly (1903 – 1974), einem englischen Literaturkritiker der ganz scharfen Zunge. Connolly war Herausgeber der maßgeblichen Literaturzeitschrift Horizon und wurde von den Sprachverdrehern, die sich Schriftsteller nennen, extrem gefürchtet.

Der Text, den ich zitiert habe, beschreibt einen Zustand, der uns allen mehr oder weniger vertraut ist und den ich selbst vor ein paar Tagen auf ähnliche Weise zu ertragen hatte. Denn was sich zur Zeit vor unser aller Augen so unverblümt abspielt, von der Vorbereitung eines Atomkrieges bis hin zum nahenden Ökozid, kann einen schon zur Verzweiflung treiben. Dann muss man sich fallen lassen, sich den Depressionsschüben hingeben, in der Hoffnung, dass die leichte Woge der Lebensfreude einen wieder einmal ans rettende Ufer spült. Palinurus kennt da einen Trick: „Durch künstliche Stimulation des Gehirns (was meint er wohl damit?) können die Gedanken veranlasst werden, sich Freiheiten herauszunehmen. Die Hirnrinde ist eine Gedankenmaschine. Sie kann aufgeputscht, verlangsamt, gehemmt werden, man kann ihr verschiedene Arten Brennstoff zuführen, je nach den Ideen, die sie hervorbringen soll“.

Während ich im Geiste sofort sämtliche mir bekannten Stimulanzen bis hin zu den klassischen Psychedelika wie Mescalin oder Ayuhuasca durchchecke, entdecke ich eine Stelle in dem Buch, in der Cyril Connolly ganz andere „Werkzeuge“ auflistet, mit denen er seine Gedankenmaschine in Bewegung zu setzen pflegte. Stimulierende Berghöhen zum Beispiel, nasses Wasser (!) die Südwest-Stürme, Fenster, die auf Häfen hinausgehen, Schnee, Frost, die elektrische Glocke nachts vor einem Kino.  Ich mag den Mann, dessen messerscharfer Verstand immer vom Herzen gesteuert wurde und der so fürchterlich unter seinen Fettsucht gelitten hat, was seinen Zynismus teilweise erklärt. Wobei man eigentlich noch viel härter formulieren sollte. Es sind immerhin vierzig Jahre auf dem Irrweg vergangen, den die Menschheit so blind beschreitet. Hier einige Sätze von Palinurus, die den Zyklus der Stunden, in dem Cyril Connolly gefangen war, verständlich macht:

Das Elend der Menschheit ist vielfältig und brütet überall Verzweiflung, Furcht, Hass und Zerstörung aus; so wird unser Frieden vom Krebs befallen. Die Natur hat keinen Platz in unserer Kultur, der Rhythmus der Jahreszeiten ist gestört, die Früchte der Erde verloren ihren Duft, die Tiere, Miterben unseres Planeten, wurden mutwillig ausgerottet. Wir haben den Gott in uns und in der Welt verleugnet. Weisheit und Gelassenheit werden Schätze, die man verbergen muss, und Glück ist eine verloren gegangene Kunst. Das Ressentiment triumphiert. Man kann schon die nahende Weltneurose erkennen, die Neurose einer Welt, in der absterbende Instinkte (mit Ausnahme des Instinkts für Massengemetzel), Missbrauch des Intellekts und Perversion des Herzens unsere Kenntnis vom Lebensziel zerstören werden: die Menschheit wird an ihrer eigenen Galle ersticken“.

Hat noch jemand etwas hinzuzufügen? Nein? Dann lasse ich den russischen Schriftsteller Alexander Kuprin (1870 – 1938) sprechen, dessen „Sündiges Viertel“ mir eben in die Hände fiel. Bitte sehr: „Mir wird übel von diesen Lügnern, Feiglingen und Fresssäcken! Diese Elenden! Der Mensch ist für große Freude geboren, für ständiges Schöpfertum, in dem er sich als Gott beweist, für freie, durch nichts eingeengte Liebe zu allem: zu Baum und Strauch, zum Himmel, zum Menschen, zum Hund, zur lieben, wundermilden, herrlichen Erde, ja, besonders zur Erde mit ihrer gesegneten Mütterlichkeit, mit ihren Morgen und Nächten, mit ihren tagtäglichen Wundern. Und der Mensch hat sich so erniedrigt. Sich selbst so verdorben durch Lügen und Bettelei. Ach, es ist so traurig!“

Wenn ich mich hier schon fleißig bei anderen bediene, so sollte ich mich zumindest einmal selbst zitieren. Der folgende Abschnitt stammt aus Maevas Rede (enthalten in dem Roman „Das Südsee-Virus“, dem zweiten Band meiner Maeva Trilogie). Sie hält diese Rede anlässlich ihrer Wahl zur Vorsitzenden der URP (United Regions of the Planet). In dieser Rede sagt sie:

„Von allen Gefahren, die uns heute drohen, ist keine so groß, wie die weltweite Verdrängung. Ich verstehe dieses Bedürfnis. Einzeln fühlen wir uns angesichts der Wahrheiten, die es heute zu konfrontieren gilt, so klein und zerbrechlich, dass wir glauben, es würde uns in Stücke reißen, sobald wir uns erlaubten, unsere Gefühle über den Zustand der Welt zuzulassen. Wir befürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt empfinden, unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn jedoch akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann merken wir, dass er weit hinaus geht über unser kleines Ego, dann erfahren wir durch ihn eine größere Identität, dann wird er zum lebendigen Beweis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Unser Schmerz um den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt sind untrennbar miteinander verbunden, sie sind zwei Seiten derselben Medaille.“

Als Schriftsteller hat man es einfach, da kann man sich gelegentlich am Schopfe seiner eigenen  Romanhelden aus dem Sumpf ziehen. Dabei werfen wir natürlich weiterhin schaudernd einen schüchternen Blick auf die Zeichen, welche seit langer Zeit an der Wand prangen (Its written on the wall!). Aldous Huxley (1894 – 1963) sticht mir in die Augen. Zufall? „Bereits in der nächsten Generation werden die Herrschenden der Welt feststellen, dass frühkindliche Konditionierung und Narkohypnose als Herrschaftsinstrumente sehr viel effizienter sind als Schlagstöcke und Gefängnisse, und dass Machthunger sich nicht nur dann befriedigen lässt, wenn man die Leute zum Gehorsam prügelt, sondern ebenso gut, wenn man sie mittels Suggestion dazu bringt, ihr Sklavendasein zu lieben”.

Oh,oh,oh … hab ich denn nichts positives im Regal? Ach doch, Carl Amery (1922 – 2005), schrieb „Die ökologische Chance“, klingt doch gut. Was ist sein Fazit?  „Wenn wir zum Abschluss unserer schmerzlichen Bilanz eine neue ethische Orientierung der Menschheit, zumindest ihres aktivsten und aggressivsten Teils, fordern, dann haben wir von der Tatsache auszugehen, dass noch nie die moralischen und ethischen Werte der Zeitgenossen so weit von den objektiven Anforderungen ihrer Epoche entfernt waren wie heute.“

Nö, ich mag nicht mehr. Aber bevor ich nicht einen von Grund auf beseelten und positiven Text gefunden habe, gehe ich nicht raus aus dieser Horrorbibliothek.  Mal sehen, was haben wir denn da? Eine Frau vielleicht. Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) ist nie verkehrt:  “Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelheit der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen”. 

So ist es, Ingeborg, aber wahrhaft tröstlich ist das nicht. Aber da wäre ja noch der fabelhafte US-amerikanische Schriftsteller  Henry David Thoreau (1817 – 1862), der in den Wäldern bei Concord einer alternativen Lebensgemeinschaft angehörte, in der man sich frei wähnte vom verhassten System. Er hat mich bisher nie enttäuscht.  “Wir wollen uns die Ärmel aufkrempeln,” lese ich, “und unseren Weg bahnen durch den Dreck und Schlamm von Meinung, Vorurteil, Tradition, Blendung und Schein, die den Erdball überschwemmen, durch Paris und New York, durch Kirche und Staat, durch Dichtung, Philosophie und Religion, bis wir auf festen Grund und solide Felsen stoßen. Diesen Ort können wir Wirklichkeit nennen und sagen: Das IST, einen Irrtum gibt es nicht. Und dann beginne ein Realometer einzurammen, damit künftige Zeiten erfahren, wie hoch die Wellen von Trug und Schein zeitweilig schlugen”.  

Großartig, nicht wahr? Aber das ist es nicht, wonach ich suche. Ich suche, wie soll ich sagen, nach etwas, das außerhalb der Analyse liegt, die ja doch nur schrecklich ausfallen kann. Nach einem wahren Mutmacher. Hermann Hesse (1877 – 1962)! Hesse ist immer gut: „Die Welt zu durchschauen, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können“.

Na bitte. Der Tee ist kalt. Licht aus. Alles wieder in Balance in meiner Bibliothek, wäre ja auch gelacht …

Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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