Ein Kommentar von Ernst Wolff.
In der vergangenen Woche schien es, als ob die Finanzmärkte verrückt spielten. An den Aktienbörsen gab es trotz gewaltiger Kursverluste Rekordsprünge nach oben, an den Anleihenmärkten kam es trotz immer geringerer Renditen zu einer riesigen Kaufwelle und der Goldpreis erlebte einen gewaltigen Aufschwung, obwohl er mehrmals von Großinvestoren attackiert wurde.
Was bei oberflächlicher Betrachtung wie ein unerklärliches Chaos wirkte, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als logische Folge einer historisch einmaligen Situation: Noch nie in der gesamten Geschichte der Menschheit hat ein einzelnes Ereignis die Weltwirtschaft so stark in Mitleidenschaft gezogen wie die Corona-Pandemie.
Die rasante Verbreitung des Virus sorgt dafür, dass in immer mehr Ländern Produktionsstätten stillgelegt und Lieferketten unterbrochen werden. Da gleichzeitig auch Absatzmärkte wegfallen, ist sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite betroffen – ein Phänomen, das es in diesem Ausmaß bisher nicht gegeben hat.
Trotzdem haben die Finanzmärkte das Problem zunächst ignoriert – in der Hoffnung, dass die Pandemie gestoppt werden und die Welt zur Normalität zurückkehren könnte. In der vergangenen Woche aber haben sie offenbar eingesehen, dass ihr Hoffen vergebens war und plötzlich sehr heftig reagiert. Den Verantwortlichen in den Zentralbanken, der Politik und den Vorstandsetagen der Finanzinstitute dürfte daraufhin ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen sein, und das aus zwei Gründen:
Zum einen, weil die Turbulenzen die für sie äußerst ernüchternde Erkenntnis brachten, dass die Mittel, mit denen das globale Finanzsystem seit 2007/08 am Leben erhalten worden ist, nicht mehr wirken.
So hat die US-Zentralbank Federal Reserve am Mittwoch in einer überhasteten Notaktion den Leitzins um 0,5 Prozent gesenkt – um doppelt so viel Basispunkte wie bei den letzten Zinssenkungen im vergangenen Jahr. Zugleich wurden am Repo-Markt allein am Dienstag und am Mittwoch 200 Milliarden Dollar an frischem Geld an die Wall Street vergeben.
Doch obwohl damit die seit langem schärfsten Geschütze der FED aufgefahren wurden, blieb der Effekt aus: Die Aktienkurse fielen weiter, Investoren flohen in Anleihen und Gold.
Warum?
Weil Zinssenkungen und Geldinjektionen nichts daran ändern, dass das Corona-Virus die ohnehin einsetzende weltweite Rezession in nie dagewesener Weise verschärft. Der Ölpreis fällt immer schneller, die Container-Schifffahrt und die Logistik zu Lande erleben gewaltige Einbrüche, mittelständische Unternehmen taumeln zu Hunderttausenden, die Zahl der Kreditausfälle wächst stündlich.
Und das ist noch nicht alles. Das Corona-Virus hat auch die Lebensgewohnheiten der Mehrheit der Menschen drastisch verändert. Hotellerie, Gastronomie und Touristik erleben nie gekannte Ausfälle, erste Fluglinien und Reedereien gehen in Konkurs. Und die Aussichten sind düster, denn die zunehmende Zahl an Infektionsfällen wird alle bereits bestehenden Probleme in den kommenden Wochen weiter verschärfen.
Zum anderen aber gibt es noch einen zusätzlichen Brandherd, der von seinem Ausmaß her alle anderen Probleme in den Schatten stellt: Den Derivate-Sektor des globalen Finanzsystems.
Dieser mit Abstand größte Bereich hat das System bereits zweimal, nämlich 1998 und 2007/08, an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, ist aber trotzdem nicht eingegrenzt oder reguliert worden, weil es sich bei ihm um eine der Haupteinnahmequelle von Banken und Hedgefonds handelt.
Derivate sind nichts anderes als Wetten auf zukünftige Preise, Kurse oder Zinssätze. Sie werden aber nicht nur zur Spekulation eingesetzt, sondern dienen auch der Absicherung von Risiken. Diese Risiken verschwinden allerdings nicht, sondern werden nur gegen Zahlung eines bestimmten Betrages von einer Partei auf eine andere Partei übertragen.
Unter normalen Marktbedingungen wäre das kein Problem. Seitdem Regierungen und Zentralbanken die großen Finanzinstitute aber 2007/08 für „too big to fail“ erklärt haben, hat sich die Situation grundlegend geändert: Seitdem gehen die Parteien nämlich immer höhere Risiken ein, weil sie ja davon ausgehen, dass sie im Notfall als „too big to fail“ vom Staat gerettet werden.
Da die Mehrheit der Derivate nicht in den Büchern der Unternehmen auftauchen muss, kann ihr Umfang heute nur annähernd geschätzt werden. Insider gehen von einem derzeitigen Volumen von ca. 1,25 Billiarden US-Dollar aus.
Da bei dieser kaum vorstellbaren Summe jeder größere Einbruch fatale Folgen hätte, muss von Seiten der Zentralbanken absolut alles getan werden, um die Finanzmärkte einigermaßen stabil zu halten. Aus genau diesem Grund haben sie in den vergangenen 12 Jahren immer wieder Geld ins System gespeist und die Zinsen ein ums andere Mal gesenkt – und das sogar mit Erfolg: Wir haben von 2008 bis Anfang 2020 mit kleinen Unterbrechungen einen durchgehenden Aufwärtstrend an den Finanzmärkten erlebt.
Damit aber ist es nun vorbei. Die Erschütterungen der Märkte durch das Corona-Virus sind bereits jetzt so heftig, dass das Wasser einigen großen Finanzinstituten wegen fälliger Zahlungen im Derivate-Bereich bis zum Hals steht.
Die kräftigen Kurseinbrüche der Aktien der großen Wall Street Banken, die in der vergangenen Woche weit über die Verluste anderer Branchen hinausgingen, zeigen, dass diese Probleme den großen Investoren nicht entgangen sind. Die fallenden Aktienkurse aber bedeuten für die betroffenen Institute nichts anderes, als dass ihre Situation sich wegen des schwindenden Vertrauens noch weiter verschlimmert.
Wir stehen also vor folgender Situation: Zentralbanken und Regierungen werden in den kommenden Tagen jedes erdenkliche Mittel einsetzen müssen, um die Situation zu stabilisieren. Zunächst dürfte es in den USA zu einer weiteren Zinssenkung der FED (möglicherweise bis in den Minus-Bereich) und zu weiteren, noch größeren Geldinjektionen über den Repo-Markt kommen.
Beides aber wird bei den Investoren höchstens kurzfristige Strohfeuer auslösen, der Effekt wird wie beim letzten Mal rasch verpuffen. Dann aber bleiben nur noch zwei Optionen: Die von den Derivate-Schäden betroffenen Institute per Bail-in oder Bail-out zu retten.
Das heißt: Entweder die Anteilseigner, Anleger und Sparer von Banken werden teilenteignet oder die notleidenden Institute werden mit Steuergeldern gerettet. Das bedeutet: Auch diesmal wird man wie in der Vergangenheit versuchen, die Schäden im Finanzsektor auf die steuerzahlende Bevölkerung abzuwälzen.
Das aber müsste bei den Summen, um die es diesmal geht, in einem nie dagewesenen Umfang geschehen, so dass man jetzt schon sagen kann: Eine Rettung des Systems durch Bail-ins und Bail-outs wie 2007/08 ist 2020 überaus fraglich, wir stehen möglicherweise schon in den kommenden Tagen vor dem Kollaps des Systems.
Das alles klingt erschreckend und deutet darauf hin, dass vor uns eine der unruhigsten Perioden in der jüngeren Geschichte liegt. Doch so düster dieses Szenario auch wirkt, es birgt auch eine historische Chance: Ein Zusammenbruch würde Millionen von Menschen in einen direkten Konflikt mit diesem System führen, sie seine Auswirkungen am eigenen Leib spüren lassen und sie daher für eine Aufklärung über seinen zerstörerischen Charakter empfänglich machen.
Der Kollaps könnte somit die Grundlage für eine seit langem überfällige breite Diskussion über die Abschaffung des globalen Finanzcasinos und seine Ersetzung durch ein demokratisches Geldsystem schaffen – vorausgesetzt, dass möglichst viele Menschen, die das System bereits durchschauen oder zumindest in Ansätzen verstehen, sich an einer dringend notwendigen Aufklärungs-Offensive beteiligen.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: bluebay / Shutterstock
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