Tagesdosis 7.1.2019 – Die bösen Anderen

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Viele können trefflich darüber debattieren, welches Land oder welchen Diktator uns die Politik gerade wieder als besonders bösen Teufel verkauft. Sie wittern Kriegspropaganda, in der Regel nicht zu unrecht. Doch sobald politisch geschürte Feindbildprojektionen den eigenen kleinen Lebenskreis berühren, versagen solche Einsichten regelmäßig und gruppendynamisch. Dieser massenpsychologischen Erkenntnis folgt die Agenda der Herrschenden namens „teile und herrsche“ seit Ewigkeiten. Das junge Jahr 2019 lieferte dafür bereits zahlreiche Beispiele. Hier seien nur zwei genannt.

Der erste Blick geht ins bayrische Amberg. Kurz vor Silvester hatten dort vier stark betrunkene jugendliche Asylbewerber Passanten gewalttätig attackiert. Es kam, wie es kommen musste: Der um Zustimmung buhlende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) schlachtet die Tat sorgsam für die Zwecke seiner Auftraggeber aus. Einmal mehr warf er das Triggerwort fürs Volk schlechthin in die Pressegrube: „Migrationspolitik“. „Asylrechtsverschärfungen!“, forderte er lauthals und verlangte: Die Bundesrepublik müsse die Abschiebehaft ausbauen. Ein entsprechendes Gesetzespaket habe er bereits schnüren lassen.

Wohlgemerkt: Dabei geht es nicht um das Wegsperren von Straftätern, sondern von Menschen aus prekärsten Lagen, denen weder Asyl noch subsidiärer Schutz gewährt wurde. Das sind die meisten der hier Ankommenden. Deren befristete Duldung kann jederzeit widerrufen werden. Vor allem Afghanen sind derzeit davon bedroht.Obwohl jeder weiß: Der Krieg in  Afghanistan ist nicht vorbei. Fast wöchentlich gibt es dort Anschläge mit vielen Toten. Seehofer und seine Kumpels setzen jedoch auf immer schärfere Entrechtung.

Psychologisch unumstritten ist indes: Mehr Repressionen erzeugen mehr Angst. Mehr Angst erzeugt mehr Aggressionen. Aggressionen führen zu Gewalt. Das wiederum schürt immer mehr Hass auf der anderen Seite. Seehofer weiß das alles. Es kümmert ihn so wenig, wie ihn in Wahrheit einheimische Verletzte kümmern. Und etwas anderes weiß er auch: Ausländer eignen sich, neben einheimischen Obdachlosen, Drogensüchtigen und Hartz-IV-Beziehern,  bestens zur Aggressionsabfuhr für frustrierte deutsche Statusakrobaten. Irgendwer muss ja Schuld sein.

Anders sieht es im umgekehrten Fall aus. Der Blick geht nach Bottrop. Der 50jährige Andreas N. fuhr am frühen Neujahrsmorgen mit dem Auto in eine Gruppe Ausländer. Mehrere Menschen – Syrer, Afghanen, ein Türke – wurden schwer verletzt, darunter auch Frauen und Kinder. Rassistische Parolen habe er gebrüllt, auch später bei der Vernehmung. Die Polizei konstatierte ausländerfeindliche Motive. Doch während die Polizei bei islamistischen Attentätern regelmäßig Pässe findet, findet sie bei Deutschen ein Attest.

Der Mann sei psychisch krank, hieß es. Darum habe er sich in seinen Hass hinein gesteigert und mehrere Anschläge verübt. Sofort plädierte eine Masse an Kommentatoren für Rehabilitation. Das Motto: Kann ja einem derart Traumatisierten mal passieren. Und klar, auch daran sei letztlich Merkels „Migrationspolitik“ Schuld. Die perfekte Täter-Opfer-Umkehr. Und Achtung, Ironie: Deutsche Waffen und imperialistische Plünderungen durch deutsche Konzerne traumatisieren natürlich nie!

Doch es geht weiter: Selbst dieses Attentat nutzte das Redaktionsnetzwerk Deutschland für das Schüren von Feindbild Nummer zwei: Hartz-IV-Bezieher. So titelte es am 2. Januar: „Hass, Schizophrenie und Hartz IV: Das ist über den Attentäter in Bottrop bekannt“. Schwupps ist die Verbindung im Oberstübchen hergestellt: Hartzer seien nicht nur „dumm“ und „faul“, sondern gerne psychisch gestört. Da darf auch das Triggerzentrum auf der Kleinhirnrinde des bürgerlichen Linken mitblinken: Arm ist gleich moralisch verwahrlost und gewalttätig, ist gleich Rassist, ist gleich Nazi. Die Faschisten in Nadelstreifen sind fein raus. Berühmte Pressefotos von heruntergekommenen Besoffenen, die den rechten Arm recken, lassen grüßen.

Das Einteilen der unteren Schichten in „wir, die Guten“ und „die bösen anderen“ war immer Bestandteil jeder Herrschaftsordnung. Aus psychoanalytischer Sicht ergibt das Sinn: Wächst ein Mensch unter Bedingungen auf, in denen er sich ständig einer – heute nicht einmal personell greifbaren – Herrschaftsgewalt unterwerfen muss, staut er Aggressionen an. Wie das funktioniert, beschrieb der Psychologe Peter Brückner bereits in den 1970er Jahren in seinem Werk „Sozialpsychologie des Kapitalismus“: Zur Aggressionsabfuhr, so Brückner, entwickelten viele Menschen unter diesen Bedingungen mangels eindeutiger Feindidentifikation pathologische Abwehr-Mechanismen: Sie projizieren.

Der Psychoanalytiker Thomas Auchter nannte dies 2010 in einem Artikel „zwanghafte Externalisierung“. Das heißt: Der kapitalistische Kleinbürger ist im gegenwärtigen System gezwungen, amoralische Dinge zu tun. Dies, so Auchter, erzeuge in ihm einen als ausweglos empfundenen Konflikt. Um ihn zu lösen, verbannt er alle „bösen“ Verhaltensweisen und Eigenschaften aus dem eigenen Ich und „seiner Gruppe“. Er lastet sie „den Anderen“ an. Auchter spricht vom Rückfall in die kindliche Schwarz-Weiß-Lösungsstrategie. Diese Projektion wirke entlastend, werde kollektiv bestärkt und gesteigert.

Ob bewusst oder unbewusst getrieben von eigenen neurotischen Abwehrmechanismen: Die deutsche Politik dreht permanent an dieser Spirale – immer mit dem Fokus auf unten. Dort lauere der Feind, suggerierte zum Beispiel am 2. Januar der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger, einmal mehr gegenüber der Springer-Presse. Er wetterte: Fast eine Million Asylbewerber seien inzwischen in Hartz IV gelandet. Er impliziert: Dort, wo die „Schmarotzer“ herumhängen. Und wie Steiger beispielsweise vor einiger Zeit unter Verweis auf die „Selbst-Schuld-Theorie“ verlangt hatte, dürfe man denen ruhig das Essen weg sanktionieren, wenn sie nicht gehorchen.

So glühen die Triggerzentren in den Hirnen fleißiger Statusakrobaten: Asylbewerber wollten sie nur abzocken und den „schönen deutschen Sozialstaat“ zerstören. Jeder kann zwar wissen, dass dies schon vor, aber vor allem durch die Agenda 2010 vorangetrieben wurde – Stichworte: Massenhafter Zwang durch Hungersanktionen in den Niedriglohnsektor, massive Rentenkürzungen, Ausbau der Leiharbeit, Abbau von Arbeitsrechten und so weiter. Doch ist der Hass auf die Unterschicht, in der niemand landen will, aber fast jeder landen könnte, schier unendlich. Wie gesagt: Die Anderen müssen Schuld sein am Übel, wenn die Abzocker nicht in den Fokus geraten wollen.

Apropos Faulheitstheorie: Zweifelsohne könnte sich nun beispielsweise der Volkswagen-Beschäftigte fragen, ob es für den Planeten sinnvoller ist, mit dem Existenzminimum in einer sogenannten „sozialen Hängematte“ (Achtung: Schröder-Alarm!) herum zu liegen, als den Rohstoffräubern – hier die Automobilkonzerne – mit seiner Arbeitskraft die Stange zu halten und Zeug zu produzieren, von dem ein wachsender Anteil ungenutzt auf der Müllhalde landet und vorher – wie aktuell etwa auf dem nie fertig werdenden Flughafen BER – en masse vor sich hin verrottet.

Die gleiche Frage darf an jeden Bankangestellten gehen, an jeden Beschäftigten in der Bürokratie-Maschine dieses imperialistischen Staates, an jeden Mitarbeiter eines beliebigen Energiekonzerns und überhaupt: An jeden Mitwirkenden in dem globalen Getriebe der Umwelt zerstörenden Massenproduktion von irgendwas.

Mal ehrlich: Richten jene, die am Existenzminimum herumkrebsen und laut gewisser Vorurteile alle bis mittags im Bett bleiben, nicht tatsächlich viel weniger Schaden an, als die so Fleißigen, die täglich brav zur Arbeit rennen, unbezahlte Überstunden schrubben und dafür sorgen, dass steinreiche Großaktionäre durch Nichtstun immer reicher werden? Wer hält die Tretmühle des globalen Arbeitshauses und Abzocker-Casinos inklusive Rohstoffkriege tatsächlich am Laufen? Nun, da kommt es wohl auf die Perspektive an.

Zum Weitblick würde die Erkenntnis gehören, dass Krieg, Elend und Flucht immer traumatisieren, und das Traumata nun einmal psychosoziale Folgen haben – bei vielen ehemaligen Soldaten genauso wie bei den Opfern der Ressourcenkämpfe. Dazu gehört auch die Einsicht, dass Gewalt immer zunimmt, wo die soziale Lage sich verschärft. Und dass sich diese verschärft, weil sich die Vermögen auf Grund des Zwangs zur Profitmaximierung oben konzentrieren und nicht wegen Flucht und Migration. Dass letzteres im Gegenteil eine Folge dieses kapitalistischen Prinzips ist. Dass Menschen nicht waghalsig mit Kind und Kegel in Schlepperboote steigen, weil sie mal eben im kalten Europa Urlaub machen wollten. Und dass sich ausgegrenzte Menschen gar nicht integrieren können.

Doch das gekränkte Ego tritt nach unten. Die Projektionsspirale läuft, die Kapitalmaschine auch. Und die Herrschenden samt ihrer Propagandisten aus Politik und Staatsapparat reiben sich die Hände. Solange niemand auf den wachsenden Reichtum ihrer Auftraggeber sowie ihre eigenen dicken Gehälter, Diäten und Pensionen schaut, ist alles in Butter. Man klaut dem einen die Peanuts und beschuldigt den anderen. Man versetzt alle Gruppen in Angst und lässt sie aufeinander losgehen.

Derweil schuftet das Gros der Untertanen weiter für ihre geringen Anteile am Profit ihrer Herren. So sammeln sich in deren Händen, geschützt von der Staatsgewalt, die Vermögen exponentiell. Und der Ökokollaps rückt in greifbare Nähe. Jeder weiß, dass ewiges Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten genau dahin führen muss. Ein Ausbruch aus diesem Wahnsinn ist weiterhin nicht in Sicht. Die meisten Empörten bleiben im Kleinklein stecken. Schuld sind ja die bösen Anderen irgendwo da unten. In dieser Matrix kommen die Verursacher nicht vor. Willkommen im Jahr 2019.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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