Ein Kommentar von Klaus Hartmann.
Die eigentliche Sensation des Wahlabends am 01.09.2019 schien für manche weniger die Wahlergebnisse der Landtagswahl in Brandenburg und Sachsen, als vielmehr die Wahlberichterstattung gewesen zu sein. Für die Sensation hatte die MDR-Moderatorin Wiebke Binder gesorgt, als sie im ARD-Wahlstudio ihren Interview-Gast, den sächsische Abgeordneten Marco Wanderwitz (CDU) zu einer Koalitionsaussage verleiten wollte: „Eine stabile Zweierkoalition, eine bürgerliche, wäre ja theoretisch mit der AfD möglich.“ „Eine Koalition mit der AfD wäre keine bürgerliche Koalition“, so die wanderwitzige Antwort.
Wie von unsichtbarer Hand gesteuert, sprangen sofort die Empörungsautomaten an, zuerst mittels „Wirbel im Netz“ über das „Debakel“, dann bettelte der MDR um mildernde Umstände, wegen „Stress“, „Missverständnissen“, „Unschärfen“. Schließlich meinte MDR-Chefredakteur Torsten Peuker, es sei ein „Versprecher“ gewesen, „für den wir uns entschuldigen“.
Die CDU mit der AfD sei „eine bürgerliche Koalition“? Gott-sei-bei-uns! Das ist ja ein Verstoß gegen die von der CDU-Zentrale verordnete Sprachregelung, dass es rechts von der Union keine bürgerliche Kraft mehr geben darf oder soll. Aber ist die Moderatorin arbeitsvertraglich auf den CDU-Sprech verpflichtet? Möglicherweise hat sie aber das ARD-„Wording“ nicht korrekt befolgt, auf das Herr Dr. Gniffke (bis August Tagesschau-Chef) bekanntermaßen größten Wert legt, und damit ggf. zugleich das Framing-Manual nicht hinreichend beachtet, für das die Anstalt ja viel Zuschauer-Geld zum Fenster rausgeschmissen hat.
Welche Gründe wurden für die Aufregung geltend gemacht? Verblüffend – keine! Der Herr ist angeblich Dein Hirte (wenn Du ein Schaf bist), aber der Hirte, Christian ist Ostbeauftragter der Bundesregierung und CDU-Mitglied. Er sprach von einer „ungeschickten und total unpassenden Bemerkung“. Der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil wusste sicher: „Das geht auf gar keinen Fall“, meinte damit aber nicht das Wahlergebnis seiner Partei, sondern besagte Moderatorin. Damit hatten sie ihr Pulver verschossen, Argumente hatten sie beide nicht, Große Koalition auch hier.
Solch eine Erregungs-Inszenierung – das ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Zumindest die Träume der AfD-Wahlkämpfer. Denn einziger Nutznießer ist die AfD. Sie kann wieder die verfolgte Unschuld spielen, Sympathiepunkte sammeln, und ihre Rolle als „Funktionspartei“ bekommt sie nochmals beglaubigt: Mit der Stimme für die AfD kann man die anderen maximal ärgern. Zweck der Übung erfüllt, man könnte meinen, die AfD selbst habe die Aufregung über die Moderation von Wiebke Binder höchst selbst lanciert, von langer Hand verdeckt vorbereitet.
Frei Haus wird ihnen das Beispiel geliefert, wie eng der Meinungsfreiheits-Korridor in den Staatsmedien ist und wie die geringste Überschreitung hysterisch angeprangert wird. Angeprangert –kommt vom Pranger des Mittelalters, als die Übeltäter auf dem Marktplatz öffentlich zur Schau gestellt wurden. Der moderne Medienpranger ist dem voraus, er kommt in alle Haushalte, und die zur Schau gestellten können von Glück sagen, wenn sie danach vergessen, und nicht aus der Stadt bzw. heute aus dem Sender gejagt werden, wie weiland Ken Jebsen beim RBB.
Was soll also „bürgerlich“ sein? Knigges Benimmregeln verinnerlicht, Tanzschule besucht, mit Messer und Gabel essen, Abitur? Eine ARD-Korrespondentin wusste in diesem Sinne zu ergänzen, „nicht jeder, der sich ein Jackett anzieht, ist bürgerlich“. Womit wir bei der Stilberatung angekommen sind, und unwillkürlich an den Parteivorsitzenden Gauland denken müssen, der in seinem ewigkarierten Sakko aber doch geradezu den Inbegriff von Spießbürgerlichkeit repräsentiert.
Doch dieser Gauland ist nicht nur wegen seiner Garderobe lehrreich. Auch seine Vergangenheit hat es in sich. Er entstammt der CDU, und zwar nicht irgendeiner, sondern dem strammrechten Flügel der hessischen Partei, die dafür den Namen Stahlhelm-Fraktion bekam: Die CDU Alfred Dreggers, für den Hitlers Überfall auf die Sowjetunion „nicht grundsätzlich falsch“ gewesen sei, sowie Roland Kochs, der mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eine Landtagswahl gewann. Bei dieser CDU kamen die medialen Sprachpolizisten nie auf die Idee, ihr das „Bürgerliche“ abzusprechen. Mit liberal im Sinne bürgerlicher Freiheitsrechte hatte dieser Verein noch nie was am Hut, aber will man uns etwa weismachen, dass es nicht auch diese strikt autoritäre Ausgabe von Bürgerlichkeit gibt?
Was „bürgerlich“ tatsächlich ist, das haben die Bürgerlichen anscheinend vergessen. Im Spiegel wird orakelt, dass „Mäßigung kennzeichnend“ sei, aber nicht verraten, ob beim Alkohol, Sex oder bei der intellektuellen Leistung. Die ARD verspürt Unbehagen und lässt ihren „Faktenfinder“ Gensing ausschwärmen, um zu klären: „was soll das eigentlich genau bedeuten?“ Erst aufregen, dann die Erklärung dafür suchen? Leider findet der Faktenfinder: „Eine eindeutige Definitionen findet sich dafür nicht.“ Er gräbt bei der Bundeszentrale für Politische Bildung nach, stößt auf den Bürger des Mittelalters, und dass „heute oft von einer Bürger- oder Zivilgesellschaft die Rede“ sei. Die Rede – aha.
Dann geht es zu politisch-gefühligen Zuschreibungen über, zu „bürgerlichen Werten“ wie „Selbständigkeit, Kritik, Leistungsorientierung“, und zum Schluss verkündet ein Soziologe (im Deutschlandfunk), „die Grünen seien heute die wahre bürgerliche Partei“ – Begründung: die „gute berufliche Position“, „ein gewisses Bildungsniveau“ etc., die Kriegsbefürwortung wird nicht erwähnt. Wo die konsistente Definition fehlt, beginnt die Willkür und die Beliebigkeit, „ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“.
Früher war nicht alles besser, aber vieles klarer. Freidenker waren jene, die nicht an religiöse Dogmen glaubten, heute kann sich jeder Abweichler von einer x-beliebigen Parteilinie mit dem Titel schmücken. Bürgerliche gehörten nicht zum Adel oder zum Klerus, sie waren aber auch keine Arbeiter oder Bauern.
Sie wurden auch „der 3. Stand“ genannt. Sie waren die aufstrebende Klasse, in ihren Händen befanden sich die wichtiger werdenden, produktivsten Produktionsmittel, die beginnende Industrialisierung mehrte ihren Reichtum. Deshalb strebten sie auch nach der politisch führenden Rolle, es begann die Zeit der bürgerlichen Revolutionen, in Frankreich unter der Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ erfolgreich. Doch kaum an die Macht gekommen, musste das Bürgertum (= die Bourgeoisie) ihre Herrschaft und ihr Eigentum gegen andere Unterprivilegierte verteidigen: die anstürmende Arbeiterklasse (damals stürmte sie noch). Dazu musste die Bourgeoisie ideologisch umschalten, den Rückwärtsgang einlegen, das Gleichheitsversprechen als Illusion beerdigen, sie wurde von einer revolutionären zu einer reaktionären Klasse. Das ihren Bedürfnissen gemäße philosophische Denken nennt man „spätbürgerliches Denken“, die Ungleichheit musste theoretisch begründet werden, aus dem Darwinismus wurde der Sozialdarwinismus entwickelt, die Lehre vom Herrenmenschen, vom Weltuntergang (heute Club of Rome) oder vom Ende der Geschichte. Die Literatur dazu füllt Bibliotheken.
Im Alltagsgebrauch aber herrscht die Rede von Großbürgern, Besitzbürgern, Bildungsbürgern, Kleinbürgern, Spießbürgern – aber eher nicht vom Bourgeois, vielleicht weil es französisch ist, wahrscheinlich, weil es so marxistisch klingt. Die Franzosen haben (sprachlich) den Vorteil, dass sie außer dem Bourgeois als Angehörigem der besitzenden Klasse noch einen anderen Typ Bürger kennen: den Citoyen – das ist der Staatsbürger, der Träger von Bürgerrechten. Da diese scharfe Scheidung in der deutschen Sprache nicht existiert, öffnet es der Manipulation die Tür – wie gerade aktuell zu besichtigen.
Nach dem Kurzausflug in die Geschichte zurück in die deutsche Gegenwart: Das Kapital in Deutschland, besonders das große, das seine Profite mit der sogenannten „Exportorientierung“ macht, braucht im Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt günstige Wettbewerbsbedingungen. Das unschuldige Wort steht für Kapitalverwertungsbedingungen, die die Kosten für Arbeitskräfte und Soziales weiter drücken. Diese gegen die Bevölkerungsmehrheit gerichteten Interessen sind am einfachsten politisch durchzusetzen, wenn man die Mehrheit dazu bringen kann, diesem Kurs zuzustimmen. Dafür werden zwar nicht Himmel und Hölle, aber Zeitungen und Fernsehen in Bewegung gesetzt.
Die Auswahl an Parteien, die für die Absicherung der Kapitalinteressen stehen, ist groß: Grüne und FDP, CDU/CSU – und die AfD: sie bilden den bürgerlichen Parteienblock. Und alle diese Rechten wollen „Mitte“ sein, keiner mehr rechts oder links. Deshalb wird inzwischen „Mitte“ und „bürgerlich“ medial oft synonym gebraucht – aber nicht erklärt. Nicht als rechts oder links gelten zu wollen ist für die Anwälte des Großkapitals ein verständliches Verlangen. Wenn „die 99%“ das sagen, ist es eher Ergebnis der medialen Gehirnwäsche und des damit verbundenen Verlusts von historischem und Klassenbewusstsein.
Ein Sonderfall ist die SPD, aus historischen Gründen: Sie zählt traditionell nicht zu den „Bürgerlichen“. Als Arbeiterpartei gegründet, stand sie zunächst gegen die Kapitalinteressen, doch schon mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 entfernte sie sich von ihren Ursprüngen, bis sie mit dem Godesberger Programm 1959 endgültig dem Klassenkampf abschwor, und nicht mehr Arbeiter- sondern Volkspartei sein wollte. Das brachte die Schröder-SPD mit ihrer Agenda 2010 konsequent zu Ende, verbunden mit der Proklamation „Wir sind die Neue Mitte“. Im Verbund mit der Ruinierung der britischen Labour Party durch Tony Blairs „New Labour“ markiert diese Entwicklung den endgültigen Sieg der „neoliberal“ genannten Ideologie.
Die darauf basierende Wirtschaftspolitik nennt sich „angebotsorientiert“, weil die Kapitalisten günstiger anbieten können, um ihre Profite zu erhöhen, während sie ihre Kosten (dazu zählen in ihrem Weltbild auch Arbeitskräfte) senken. Die darauf unvermeidlich folgende verschärfte soziale Ungleichheit gefährdet freilich den „sozialen Konsens“, wie die Zustimmung der Deklassierten zu einer Politik gegen ihre Interessen genannt wird. Der wachsenden Zahl der Unzufriedenen muss nun einerseits ein Ventil angeboten werden, zugleich dürfen sie das System nicht in Frage stellen, sie müssen auf die Kapitalinteressen festgenagelt bleiben.
Damit schlägt die Stunde einer systemkonformen Oppositionspartei, die zwar Aufmüpfigkeit markiert, aber die Grundlagen der Profitmaximierung nicht in Frage stellt. Die AfD ist durch und durch eine neoliberale Partei, wie die CDU/CSU, aber auch die Grünen und die FDP, und die Agenda 2010-SPD nicht minder. Und die Liebich-Lederer-Linke ist auch schon auf dem Weg. Die wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik der AfD ist gegen die große Mehrheit ihrer Wähler gerichtet. Sie war gegen gesetzliche Mindestlöhne. Prof. Meuthen will die von Arbeitnehmern wie Unternehmen paritätisch finanzierte gesetzliche Rente abschaffen; die soll durch eine steuerfinanzierte Minirente auf Grundsicherungsniveau ersetzt werden, ergänzt um – jetzt kommt’s, sensationell: „private Vorsorge“. Ein Bereicherungsprogramm für die Finanzindustrie, von einer lupenreinen Partei der Besserverdienenden.
„Alternativ“ bei der AfD ist bloß: man merkt es ihr nicht an, niemand will es wissen, sie pflegt den Ruf der „Anti-Establishment-Partei“. Als Partei der Eliten lebt sie vom Gerücht, „anti-elitär“ zu sein– eine reife Leistung. Das ist nicht ihre Leistung allein, denn dabei hat sie Helfer, die künstlich Erregten nach dem Spruch der Moderatorin Wiebke Binder über die bürgerliche AfD gehören dazu. Ein Blick ins Wahlprogramm hingegen, was wohl die Mehrheit der AfD-Wähler auch noch nicht gesehen hat, würde zeigen: mit dieser „Alternative“ kommt man vom Regen in die Gülle.
Was aber tun unsere „Qualitätsmedien“? Sie pflegen den Nimbus der AfD, „anders“ zu sein, und treiben ihr damit nur noch mehr Wähler zu. Man fragt sich: Aus Dummheit oder aus Berechnung?
Immer wieder wird die Nazi-Keule geschwungen, was nachgewiesener Weise ihre Wähler nicht beeindruckt. „Gegen rechts“ wird argumentfrei schwadroniert, aber mit leeren Worthülsen richtet man nichts aus, insbesondere wird nichts geklärt. Aufklärung würde erfordern, die Inhalte rechter Politik offenzulegen und beim Namen zu nennen. Das wäre freilich sehr riskant: dann würde sichtbar, für welche rechten Positionen die anderen bürgerlichen Parteien stehen. Z. B. für einen Kurs auf noch festere Verankerung in der NATO, auf stärkere Aufrüstung – welche Partei ist dagegen, bitte melden! Die AfD wird sich nicht melden, NATO stärken und aufrüsten hat sie im Programm.
Aber Abrüsten und armutsfeste Löhne und Renten – da könnte man noch zugreifen. Daran kann die AfD nicht interessiert sein, weil sie sich damit ihre Wählerbasis abgraben würde, und auch keine der anderen bürgerlichen Blockparteien, in welcher bourgeoisen Koalition auch immer.
Bildhinweis: Paul Velasco/shutterstock
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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