Tagesdosis 5.9.2019 – Randbewegungen im Spiegel der Zeit (Podcast)

Ein Kommentar von Bernhard Loyen.

Ein vermeintlicher Schock durchläuft das Land. Der Osten hat gewählt, also zwei Bundesländer davon. Eigenständig und nicht nach den medialen Vorgaben der letzten Wochen und Monate. Entsetzen macht sich breit. Warum konnte dieses Ergebnis nicht verhindert werden? Warum konnte die AFD fulminant zulegen, verlor Die Linke existentiell und warum fiel der Höhenflug der Grünen eher flach aus?

Annähernd durchgehende Gewissheit bei den meisten Kommentatoren und Analysen, der Osten ist jetzt brauner, also fast schon finsterbraun.

Mehrheitlicher Grund die AFD zur zweitstärksten politischen Gruppierung in Brandenburg und Sachsen zu küren, wäre der Hass auf Ausländer und ein subtiler Ärger auf die etablierten Parteien, zu finden bei einem vermeintlichen Großteil der Bevölkerung in Brandenburg und Sachsen. Die AFD sei jetzt die Protestpartei des Ostens, hätte die Linkspartei endgültig abgelöst.

Nun gibt es Meinungen, Kommentare, Einschätzungen und – Zahlen. Die erstgenannten sind meist subjektiver Natur. Die Zahlen sind dagegen die verwertbare Realität, sie spiegeln die nüchternen Fakten.

Ein Großteil der Gesellschaft diskutiert über das Wahl-Endergebnis der AFD. 27.5% in Sachsen (bei 66,6% Wahlbeteiligung) und 23,5% in Brandenburg (bei 61,3% Wahlbeteiligung). Mich interessieren jedoch die eigentlichen Realzahlen (1), nämlich jene, unter Berücksichtigung der größten Wählergruppe – den Nichtwählern. Betrachten wir nun die Ergebnisse am Beispiel von Sachsen, dem momentanen Dunkeldeutschland (2).

Ausgehend von 100% kämen wir in Sachsen auf folgendes Endergebnis:

  • Platz 1: Die Nichtwähler mit 33,4%
  • Platz 2: Die CDU mit 21,4%
  • Platz 3: Die AFD mit 18,6%
  • Platz 4: Die Linke mit 6,9%
  • Platz 5: Die Grünen mit 5,7%
  • und die SPD am Ende der Realität mit beeindruckenden 5,1%

Diese Täuschung bestimmt die momentane Diskussion in diesem Land. Nicht zum ersten Mal, aber immer wiederkehrend negiert und vorenthalten. Die AfD wurde also nicht von mehr als einem Viertel der Wähler, sondern von weniger als jedem fünften Sachsen gewählt (1). Anders formuliert, knappe 80% der Sachsen können anscheinend mit den Inhalten und Zielen der AFD nicht konform gehen, bzw. nichts anfangen. Ja, natürlich weiß man nicht, ob sich bei den 33,4% der Nichtwähler nicht doch noch ein paar AFD-Sympathisanten verstecken, aber lassen wir das.

Diese Zahlen sollen über die klassischen Medien so nicht vermittelt werden. Der Osten Deutschlands ist und bleibt tendenziell finsterbraun. Der Spiegel verkauft das seinen Lesern so, Zitat: Das Wahlergebnis vom Sonntag ist in vielerlei Hinsicht trügerisch. Denn eines weiß man jetzt, nach den Erfolgen der AfD in Brandenburg und Sachsen: Wer weit rechts steht, wer mit dem Rechtsextremismus verstrickt ist, der kann damit in Ostdeutschland ein Viertel der Stimmen gewinnen. Es beruhigt viele Politiker und Kommentatoren, weil die schlimmsten Erwartungen nicht eingetroffen sind: Die AfD wurde nirgendwo stärkste Partei. Aber sie hat in beiden Ländern rund ein Viertel der Stimmen geholt(…). Bis vor einigen Jahren wäre das undenkbar gewesen. Deutschland sieht anders aus seit Sonntag (3).

Die Zeitung Die Zeit sieht vor lauter braun nur noch schwarz, Zitat: Mit dieser Art des Umgangs mit Neonazismus sind die Demokraten dieses Landes verloren(…) Es geht hier 70 Jahre nach einer Diktatur (und für manche 30 Jahre nach einer zweiten) erneut um eine tiefe Sehnsucht nach einem starken Führer. Jede Stimme für die AfD ist ein Einspruch gegen die westdeutsch geprägte Demokratie mit ihrem Pluralismus und ihrem Streben nach Minderheitenrechten (4).

Deutschland sieht anders aus seit Sonntag? Ist dem so? Sachsen war in seiner Historie schon immer konservativ geprägt. Bisher war es bloß die Monopolstellung der CDU, inklusive aller Skandale (Stichwort: Sachsensumpf (5)). Schauen sie sich dagegen die verlinkten Wahlergebnisse aus Bayern des Jahres 2018 an. Sie werden diverse Regionen finden mit stabilen AFD Ergebnissen von 12 bis 17% (6).

Könnte es an den wahren Zahlen liegen, dass es in Sachsen weder zu Fackelaufzügen, Hetzjagden, noch zu Straßenschlachten zwischen jeweiligen Wählergruppen kam?

Betrachten wir die Gewinne der AFD, woher kamen ihre schon beeindruckenden Zuwächse, die Wählerwanderung. Nun liest und hört man, die Linkspartei sei als die ehemalige Ostpartei endgültig abgewählt worden. Bezogen auf die Wahlen der letzten dreißig Jahre entspricht dies schonmal nicht der Realität. Anhand der zurückliegenden Wahlergebnisse müsste es eigentlich heißen, die CDU für Sachsen und die SPD für Brandenburg sind, jüngst knapp aber weiterhin die jeweiligen „Ostfavoriten“ (7).

Was gemeint ist und war, die Linke, ehemals PDS, hat den Ostdeutschen, den Menschen mit DDR Biografien eine Stimme gegeben. Hat den irritierten bis desinteressierten Westdeutschen Ängste, Enttäuschungen und entsprechende Wut zu vermitteln versucht. Bewirkt hat es, anhand der jüngsten westdeutsch geprägten Reaktionen, nichts.

Das westdeutsche Unverständnis bleibt, wechselt aber die Empörungsfarbe. War es einst die Unbelehrbaren-Rote-Socken (8)-DDR-Empörung gegenüber den PDS/Linke Wählern, ist es nun die verortete DDR-Folgen-Diktatur-Sucht bei den AFD-Wählern.

Die AFD in Sachsen bekam am letzten Wochenende 27000 Stimmen von ehemaligen Linke-Wählern, 84000 von der CDU, den jedoch größten Zuspruch durch ehemalige Nichtwähler, 246000 Stimmen (9). Auch in Brandenburg ein ähnliches Bild. 12000 von der Linken, immerhin 14000 von der SPD, 29000 von der CDU und 115000 ehemalige Nichtwähler (10).

In Sachsen haben 33% der männlichen Wähler die AfD gewählt, in Brandenburg 30%. In Sachsen wählten die meisten Frauen (35%) die CDU, 22% wählten die AfD. Frauen wählten in Brandenburg mit 28% vor allem die SPD, 18% der Frauen wählten die AfD (11).

Interessant die Altersstruktur der AFD Wählerschaft. Bei den 18-24 jährigen waren die AFD mit den Grünen gleichauf in der Beliebtheit, 20%, Die Linke mit 11%, hinter der CDU mit 13%. Von den 24-34jährigen bekam die AFD 26%, die CDU 19%, die Grünen 15% und Die Linke 10% der Stimmen. Bei den 35 bis 60 jährigen liegen AFD und CDU knapp um die 30% nebeneinander. Die Grünen und die Linken beide um 10%. Bei den Ü60 SeniorInnen übernimmt die CDU mit 41% das Ruder (AFD 24%) (12).

Diese ganzen Zahlen zeigen, im Vorjahr des 30. Jubiläumsjahres der Deutschen Wiedervereinigung, die Gründe müssen in der Gegenwart zu finden sein. Dass die AFD in ihrem kurzen Dasein diese  Ergebnisse, in den jeweiligen Altersstrukturen, erreichen konnte. Es zeigt vor allem, die Nach-Wende-Ostdeutschen verlieren das Vertrauen in die etablierten Parteien. Das einzige Direktmandat der Grünen in Brandenburg wurde in Potsdam geholt, einem von westdeutschen dominierten Randbezirk zu Berlin. Sozusagen der Prenzlauer Berg Brandenburgs, elitär aber noch eine Gehaltsstufe höher. Die Gewinnern stammt eigentlich aus Niedersachsen.

Nein, die AFD ist und bleibt kein rein ostdeutsches Phänomen, auch wenn das viele so ersehnen. Die wiederkehrende altbekannte Diskussion dreht sich doch um die einzig relevante Frage, verändert sich das Wahlvolk oder forciert, provoziert eine entsprechende Politik? Mit Sicherheit das Zweitgenannte.

Nun wundern sich wiedermals Politiker und ein Großteil der Medien, dass die Wähler aufgrund dieser Tatsache, ihre Chance tatsächlich wahrnehmen, über entsprechende Möglichkeiten der Abwahl, des Wechsels salopp zu formulieren, zu vermitteln, pardon: eure Politik kotzt uns an.

Sahra Wagenknecht formulierte das gestern wieder mal sehr vortrefflich so, Zitat: Die Linke hat sich zu weit von Problemen & Alltagssprache der Arbeitnehmer entfernt. Wenn wir Menschen jenseits hipper Großstadtmilieus erreichen wollen, müssen wir deren Sicht der Dinge ernst nehmen, statt sie zu belehren, wie sie zu reden & zu denken haben (13). Gute Frau, falsche Partei. Doch in welcher käme sie zur Ruhe, zur Entfaltung ihrer Qualitäten?

Das vortreffliche, dieser Satz könnte als Stempel, im jeweiligen Austausch der Zugehörigkeit, in die Parteibücher der CDU, der SPD, der FDP. Die Grünen würden wahrscheinlich konstatieren, wieso, hippe Großstadtmilieus, genau unsere Klientel. Hat doch gut funktioniert in Potsdam. Ja, richtig, aber deswegen sind die Grünen auch ansonsten, trotz medialem manipulativen Rückenwind schneller wieder auf dem Boden der Realität gelandet, als ihnen das lieb war. Zumindest im Osten, weiterhin unbedeutend. Keine Reisser-Partei.

Ist die AFD nun die historische Brücke zur Weimarer Zeit? Die Wiederkehr der knallenden Stiefel auf deutschem Boden. Natürlich nicht. Hat sie die Chance, ihre aktuelle Märtyrer-Rolle weiter auszubauen? Dies wird sich an zwei Punkten recht schnell herauskristallisieren:

Erstens: wie wird sich rückblickend in den nächsten Monaten und Jahren ihre Politik, die Umsetzung der markigen Ankündigungen in der realen Alltagsarbeit darstellen? Was hat sie ihren Wählern im Alltagsgeschäft wirklich zu bieten? Wird sich die AFD von alleine entzaubern oder ihre Sympathisanten überzeugen?

Zweitens: Die Altparteien hätten die Chance ihre fatale, katastrophale, „An den Menschen vorbei Politik“ zu korrigieren. Zu zeigen, okay, wir haben verstanden, es liegt an uns, was wir aus der neuen Situation machen.

Sie erinnern sich: Deutschland sieht anders aus seit Sonntag.

Abschließend historische Magazinzitate. Überschriften und Titel von vor dreißig Jahren. Gefunden in einem Magazin, das den Ruf hatte die journalistische Opposition im grauen, festgefahrenen Westdeutschland darzustellen. Aus den August und September Spiegel-Ausgaben des Jahres 1989. Amüsant bis irritierend, hinsichtlich der Parallelen zur Gegenwart, Originalzitate, keine Fantasie oder Satire:

  • Siegen oder sterben. Die Sozialdemokraten haben das Sommertheater gepachtet und stellen zur Schau, wie zerstritten sie ins Wahljahr 1990 gehen.
  • Doppelt gefährdet. Alkoholismus im Parlament. Brauchen die Bonner Abgeordneten einen Suchtberater?
  • Auf der Schokoladenseite. Zwangsunterkünfte für asylsuchende Flüchtlinge passen nicht zur deutschen Wohnidylle; entschied der Verwaltungsgerichtshof.

Die folgenden drei Absätze aus einem Artikel:

  • Viele Flüchtlinge fordern Ärzte oder Therapeuten nach dem blutigen Amoklauf eines abgelehnten liberischen Asylbewerbers mit einem Bajonett. Brauchen bessere psychologische Betreuung.
  • Das Stuttgarter Blutbad hat neue Forderungen provoziert, die Asylgesetze zu verschärfen.
  • Die spektakuläre Tat, so fürchten die Stuttgarter Grünen, werde von den rechtsextremen Republikanern und christdemokratischen Scharfmachern dazu benutzt, daraus Kapital für die Kommunalwahl im Oktober zu schlagen.
  • Brauner Stamm. Vor der Landtagswahl ist der niedersächsische Landesverband der rechtsextremen Republikaner zerstritten
  • Die CDU/CSU fürchtet die Republikaner.
  • Trotz eines Machtwortes vom Kanzler: Wie soll die CDU/CSU es mit den Republikanern halten – umarmen oder ausgrenzen?
  • Bonn hat ein neues Reizwort: Öko-Steuer; bald sechs Mark pro Liter Benzin?
  • Fünf vor zwölf. Die BRD will den tropischen Regenwald schützen. Viele deutsche Firmen und Entwicklungsprogramme tragen zu seiner Vernichtung bei
  • Streitobjekt Plastikgeschirr. Deutsche Studenten geben sich gern umweltbewusst, sind es aber nicht. Kritiker bescheinigen allgemeine Gleichgültigkeit
  • Urängste werden wach. Mit zweistelligen Raten steigen in Großstädten die Mieten, für viele Mieter mit niedrigem Einkommens ist die Wohnung unbezahlbar geworden
  • Irgendwo sind wir alle DDR-geschädigt

Beeindruckend nicht wahr. Resümierend. Die DDR verschwand, heißt jetzt Dunkeldeutschland. Helmut Kohl verschwand, Angela Merkel noch da. Die Republikaner verschwanden, die AFD im Hoch. Die SPD arbeitet weiterhin konsequent an der Selbstauflösung. Asylproblematik, nichts dazu gelernt. Der Alkohol ist bestimmt noch da, aber jetzt erweitert durch synthetische Drogen in Berlin. Es gibt neue Steuer-Reizworte, der Amazonas brennt. Plastikgeschirr heißt jetzt To Go und unbezahlbare Wohnungen, ein Gegenwartsphänomen.

Wir Menschen, schon komische Ventrikel der Evolution.

Quellen:

  1. https://www.merkur.de/politik/wahlen-sachsen-brandenburg-waere-ehrliche-wahlergebnis-zr-12965473.html
  2. https://www.sueddeutsche.de/politik/bundespraesident-joachim-gauck-die-ossis-und-dunkeldeutschland-1.2622780
  3. https://www.spiegel.de/plus/nach-den-landtagswahlen-in-sachsen-und-brandenburg-die-wahlkatastrophe-a-24125f32-ea8b-47cf-a2fa-4f1bb66f4006
  4. https://www.zeit.de/kultur/2019-09/landtagswahlen-fernsehberichterstattung-afd-rechtsextremismus-demokratie´
  5. https://www.lvz.de/Region/Mitteldeutschland/Sachsensumpf-Prozess-Schwere-Vorwuerfe-gegen-Richter
  6. https://www.merkur.de/politik/landtagswahl-2018-in-bayern-ergebnisse-aus-stimmkreisen-zr-10299668.html
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Ergebnisse_der_Landtagswahlen_in_der_Bundesrepublik_Deutschland#Linke
  8. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/rote-socken-kampagne-pastor-hintze-uebernehmen-sie-a-138434.html
  9. https://www.welt.de/politik/deutschland/article199149035/Sachsen-Wahl-2019-Wahlergebnisse-und-Grafiken-im-Ueberblick.html
  10. https://www.rbb24.de/politik/wahl/Landtagswahl/beitraege/landtagswahl-brandenburg-waehlerwanderung-nichtwaehler-analyse.html
  11. https://www.merkur.de/politik/wahl-in-sachsen-brandenburg-frauen-und-maenner-waehlten-ganz-unterschiedlich-zr-12964766.html
  12. https://www.mdr.de/sachsen/politik/wahlen/landtagswahl/wahlverhalten-waehler-sachsen-100.html
  13. https://twitter.com/SWagenknecht/status/1169176612690116609

Bildhinweis:  Jarretera/shutterstock

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