Tagesdosis 5.2.2018 – Disziplinieren mit Hungerstrafen (Podcast)

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Schwarz-blau-gelber Block für härteste Hartz-IV-Sanktionen. SPD macht mit.

4,3 Millionen Erwachsene, zwei Millionen Kinder: Die Zahl der Menschen, die von Hartz IV leben müssen, stagniert seit Jahren. Neben Mietzuschüssen in einer Höhe, für die es kaum noch Wohnungen gibt, erhalten sie das Existenzminimum. Das liegt aktuell, je nach Alter und Familienstand, zwischen 237 und 416 Euro. Nur gut ein Drittel der erwachsenen Hartz-IV-Bezieher zählt die Bundesagentur für Arbeit als arbeitslos, der Rest hat einen Job, leistet eine Maßnahme oder ist krank. Doch jedem, der eine einzige Auflage des Amtes nicht ausreichend erfüllt, können Jobcenter das gesamte Budget, einschließlich Wohnkosten, bis auf Null kürzen. Bei den unter 25jährigen schlägt das Gesetz besonders hart zu: Ein »Vergehen« – Regelsatz weg.

Allein die Möglichkeit, sanktioniert zu werden, wirke wie in Damoklesschwert auf die Psyche der Menschen, sagt die Linke-Abgeordnete Katja Kipping am Freitag im Bundestag. Mehr noch: Das gesamte Hartz-IV-System, zu dem nur Zugang hat, wer nichts mehr hat, diszipliniere auch die Arbeiter. Freiwillig akzeptierten diese schlechteste Bedingungen und mieseste Löhne, um nur nicht ganz unten zu enden. So habe die Politik einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen, Menschen enteignet, Gewerkschaften entmachtet.

Dass es genauso beabsichtigt war, weiß man seit de Wirtschaftsgipfel 2003 in Davos. Altkanzler Gerhard Schröder von der SPD legte diese Ziele damals ausführlich unter dem Beifall der Kapitalelite dar. Seine Partei boxte das Konzept zusammen mit der Union, der FDP und den Grünen durch. Inzwischen peilen Österreich und Frankreich ein ähnliches Modell an. Nach 13 Jahren Hartz IV in Deutschland lebt ein Sechstel der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze. Rund eine Million Menschen haben keine Wohnung. Doch Kipping erntet am Freitag wie gewohnt Hohn und Spott.

Matthias Zimmer, CDU, nennt den Antrag der Linken auf Abschaffung der Sanktionen und Einhaltung der Grundrechte auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit einen »parlamentarischen Dauerbrenner«. Wolle ein Erwerbsloser, dass die Gesellschaft sein Leben erhalte, müsse er dafür schon etwas tun. »Das ist ein Naturrecht«, höhnt er ins Mikrofon und ergänzt: »Für die Fleißigen«.

Die von Zimmer dann eingeläutete Faulheitsdebatte greift Jörg Schneider von der AfD dankbar auf. Die Linke stehe auf der Seite derer, »die gar nicht arbeiten wollen«, ätzt er und findet: Wer nicht willig sei, müsse eben sanktioniert werden. Dann vergleicht der AfD-Mann: »Genauso geht es ja auch Steuerhinterziehern.« Dass jene, die nennenswerte Summen an Steuern hinterziehen, in der Regel Millionäre oder Milliardäre sind, lässt er weg und jammert: Die Linken wollten immer nur die Unternehmer zur Kasse bitten.

FDP-Mann Pascal Kober reiht sich nahtlos in den neoliberalen Slang von Schwarz-Blau ein. Die Linken wollten Hartz-IV-Bezieher von der Arbeitspflicht befreien, wettert er. Den Antrag nennt er einen »Angriff auf das Solidaritätsprinzip«. Immerhin würden nur drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher sanktioniert, schwadroniert Kober. Damit wiederholt er eine Lüge, die in allen Parteien, selbst der Linken, kursiert.

Zwar verzeichnet die Bundesagentur monatlich rund 140.000 Betroffene, darunter etwa 7.500 vollständig Sanktionierte. Das sind tatsächlich 3,2 Prozent der 4,3 Millionen als erwerbsfähig Erfassten. Allerdings: Im zuletzt bemessenen Jahreszeitrum sanktionierten die Jobcenter insgesamt 430.000 Menschen fast eine Million mal für jeweils drei Monate. Es trifft in Wahrheit also zehn Prozent – pro Jahr und teils mehrfach.

Als Friedrich Straetmanns von der Linken mahnt, Betroffene würden regelmäßig obdachlos und könnten sich nicht mehr angemessen ernähren, ficht das auch Jana Schimke von der CDU und den CSU-Abgeordneten Max Straubinger nicht an. Sie plädieren für autoritäre Erziehung, bezeichnen den Entzug der existenziellen Grundlagen als »nötige Konsequenz« – »ganz besonders für Jugendliche«.

Die SPD-Politiker Matthias Bartke und Michael Gerdes weisen mühsam den Vorwurf von links zurück, sich um mehr als sechs Millionen Hartz-IV-Beziehern in den Koalitionsverhandlungen nicht zu scheren. Man wolle, aber könne leider nicht, so die beiden. Nur der Grünen-Politiker Sven Lehmann schlägt sich auf die Seite der Antragsteller. Er betont: Jedem Menschen müsse das Minimum garantiert werden.

Richtig, es geht um ein Minimum, das jedem Schwerstverbrecher im Gefängnis zusteht. Von Bürokratie und Konkurrenzgesellschaft meistens völlig Überforderte, teils minderjährig, auch viele Eltern kleiner Kinder darunter, sollen nicht in Mülltonnen nach Essbarem wühlen müssen und nicht unter Brücken verwahrlosen. Hunderte Jobcenter-Mitarbeiter sollen nicht fürs Spionieren und Berechnen von Hungerstrafen bezahlt werden. Am Ende steht die Frage: Welches Leben definieren wir als unwert? Wie weit soll das gehen?

Erst zwei Wochen zuvor fielen die striktesten Verteidiger der Hartz-IV-Sanktionen als Verfechter des umfangreichen bundesdeutschen Reichenschonprogrammes auf. Vermögenssteuer für Millionäre, wie die Linken es gefordert hatten? Nie und nimmer!, rief es unisono aus der neoliberalen schwarz-blau-gelben Einheitsfront. CDU-Politiker und Geburts-Adliger Christian Freiherr von Stetten fürchtete eine drohende Enteignung der Vermögenden. AfD-Mann Albrecht Glaser sprach von »Neidgefühlen gegen Reiche« und »Gruppendiskriminierung«. FDP und CSU verfielen in dieselbe Hysterie. Und alle gemeinsam warnten sie: Vor angeblichen Sozialismus-Gelüsten, vor Gleichmacherei und vermeintlichem Jobabbau. Man kennt das.

Die SPD gab sich zwar nicht abgeneigt. Doch man weiß ja inzwischen, was von ihren Reden zu halten ist: Augen zu und jede Schweinerei mitmachen. Sie kam in den aktuellen Verhandlungen mit der Union nicht mal damit durch, den Spitzensteuersatz für Hochverdiener von 42 auf 45 Prozent zu erhöhen und zugleich die Bemessungsgrenze anzuheben. Denn heute müssen schon Beschäftigte ab einem Monatsbrutto von 4.670 Euro den Spitzensteuersatz genauso zahlen, wie Empfänger von sechs- bis achtstelligen Jahresgehältern.

Das Ding ist: Es ist gar nicht im Interesse der neoliberalen Kapitalismusverwalter, die Armut abzuschaffen. Die Journalistin Kathrin Hartmann sagte kürzlich in Wien: »Für Reiche ist Armut die wertvollste nachwachsende Ressource.« Recht hat sie; Armut erfüllt mehrere Aufgaben: Sie stellt ein Heer an Mittellosen zur gnadenlosen Ausbeutung bereit. Und sie dient der Abschreckung. Wer will schon landen, wo die Abgehängten sind? Verarmte, diffamiert als Faule, lenken wunderbar die Aufmerksamkeit von den Verursachern ab. Sie dienen als willkommenes Feindbild. Ihr Elend diszipliniert eine ganze Gesellschaft.

+++

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

+++

Alle weiteren Beiträge aus der Rubrik „Tagesdosis“ findest Du auf unserer Homepage: hier und auf unserer KenFM App.

+++

Dir gefällt unser Programm? Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten hier: https://kenfm.de/support/kenfm-unterstuetzen/


Auch interessant...

Kommentare (0)

Hinterlassen Sie eine Antwort