Tagesdosis 4.1.2020 – Geschichte als Waffe

Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Alles kann zur Waffe gemacht werden. Selbst so harmlose Dinge wie das Wetter, unser Wasser oder was auch immer. Und so soll es auch nicht verwundern, wenn die Erzählung über das was vor uns passiert ist, ebenfalls missbraucht werden kann als tödliche Waffe in der Vorbereitung neuer Kriege. Geschichte wird immer wieder als Waffe eingesetzt. Wir können unsere Zeitgenossen willig machen, in einen Krieg zu gehen, wenn wir ihnen erzählen, unsere Nachbarn seien schon immer aggressive gefährliche Schurken gewesen. Sie wissen schon was ich meine: unsere aktuelle Erzählung über unsere östlichen Nachbarn, die Russen.

Es interessiert nicht länger, dass von deutschem Boden aus vor über acht Jahrzehnten ein Feldzug mit dem Ziel der Vernichtung aller Völker der Sowjetunion ausgegangen ist, bei dem immerhin bereits bis Ende des Zweiten Weltkrieges ein Achtel der Sowjetbevölkerung, nämlich 28 Millionen Menschen, auf bestialische Weise ermordet wurde.

So spricht eine Entschließung des Europa-Parlaments am 19. September letzten Jahres davon, dass der Nichtangriffspakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion im Sommer 1939 den Weg geebnet habe für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Diese EU-Parlamentsentschließung spricht von der Bedrohung für den Frieden, der auch nach dem Ende der Kampfhandlungen von faschistischen und kommunistischen Regimen ausgegangen sei. Das ist angesichts der gigantischen Opfer, die die Völker der Sowjetunion gebracht haben, um den Hitler-Faschismus niederzuringen, mit Verlaub gesagt ganz schön anmaßend und menschenverachtend. Auch bekennt sich das Europa-Parlament zu einer Renaissance jener unsäglichen Totalitarismustheorie, die die Blaupause für den Kalten Krieg abgab: Kommunismus und Naziterror sind identisch. Nachdem die westliche Wertegemeinschaft den Hitler-Terror niedergerungen hatte, war es also jetzt moralisch gerechtfertigt, ja geradezu moralisch geboten, Krieg gegen die Sowjetunion zu führen. So lieferten und liefern jetzt erneut Seilschaften von kriegsfreudigen Akademikern die fragwürdige Rechtfertigung für einen erneuten Angriffskrieg gen Osten.

Das hat mehr als ein Geschmäckle. Denn es ist ja unverkennbar, dass die Europäische Union zusammen mit der NATO den Kern der westlichen „Sicherheits“architektur gegen einen neu definierten Todfeind im Osten bildet. Zum anderen ist die Darstellung der Ursachen des Zweiten Weltkriegs stark verkürzt. Denn dem Nichtangriffspakt der Sowjetunion mit dem Erzfeind Nazideutschland gingen Ereignisse voraus, die die Geschichtserzähler des Europa-Parlaments geflissentlich ausblenden. Diese Kunst der Ausblendung wichtiger Fakten veranlasste den russischen Präsidenten Wladimir Putin, eine Sitzung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), zu der Weißrussland und einige ehemalige Sowjetrepubliken Zentralasiens angehören, für eine Gegendarstellung zu nutzen. Die Rote Armee hatte nach der Kapitulation Deutschlands Dokumente der Nazi-Regierung beschlagnahmt, auf die Putin nun zurückgreift.

Zunächst einmal begibt sich Putin auf sehr dünnes Eis wenn er behauptet, die Rote Armee habe sich beim Überfall auf Polen, das man als Beute aufgeteilt hatte, vornehm zurückgehalten und gar die jüdische Bevölkerung beschützt. Es ist nicht zu bestreiten, dass Stalin seinem Gegenüber Hitler den Westen Polens als Beute überlassen hatte, um dann sukzessive den Osten Polens und die baltischen Republiken in sein Reich einzuverleiben. Auch das Massaker an polnischen Offizieren in Katyn ist nicht zu bestreiten, worüber Putin kein Wort verliert. Und dass Putin ausgerechnet den Kriegshetzer und Russlandhasser Winston Churchill in seiner Erzählung gut wegkommen lässt, ist befremdlich. Denn es war Churchill, der tatkräftig verhinderte, dass die Westmächte durch eine Offensive von Frankreich aus die arg gebeutelte Rote Armee entlastete – was vielen sowjetischen Soldaten das Leben geschenkt hätte. Und es war Churchill, der vorhatte, in der Operation Unthinkable gleich nach der Kapitulation Deutschlands mit Hilfe von Wehrmachts- und SS-Soldaten die ausgehungerte und zutiefst erschöpfte Sowjetunion militärisch anzugreifen.

Jedoch stünde es den Historikern der westlichen Wertegemeinschaft gut zu Gesicht, wenn sie einmal zur Kenntnis nehmen würden, dass der Zweite Weltkrieg wesentlich früher als im Jahre 1939 bereits massiv vorbereitet wurde. Allein die Tatsache, dass die Aufrüstung Nazideutschlands mit erheblichen Investitionen aus den USA, Großbritannien und Frankreich vorangetrieben wurde, wäre wohl eine Erwähnung wert. General Motors kaufte die Adam Opel AG, um die Autofabrik in den Jahren 1939 und 1940 mit über 100 Millionen Dollar aus eigener Tasche zu einer Rüstungsschmiede umzubauen. Der Chemieriese IG Farben wurde mit US-Investitionen zu einem kriegswichtigen Unternehmen aufgeplustert. Neunzig Prozent aller Ölunternehmen in Deutschland wurden seit der Machtergreifung Hitlers von angloamerikanisch-britisch-niederländischen Konzernen beherrscht. Und die neu gegründete Bank für Internationalen Zahlungsausgleich garantierte allen Teilnehmerstaaten des Zweiten Weltkriegs mit Ausnahme der Sowjetunion die ständige Zufuhr von frischen Geldmitteln, damit der Krieg nicht abgebrochen werden musste wegen der Zahlungsunfähigkeit einiger Kombattanten – so wie es im Ersten Weltkrieg kurzfristig der Fall war. 

Und so ist es auch alles andere als unerheblich, dass nach der Machtergreifung Hitlers ein Staatenbündnis geschmiedet wurde, dem das Deutsche Reich, Großbritannien, Frankreich und das faschistisch unterdrückte Italien angehörten. Und sozusagen mit Beobachterstatus war diesem Bündnis die Republik Polen angegliedert. Die graue Eminenz in Polen war Marschall Josef Pilsudski. Und Pilsudski träumte von einem starken antisowjetischen Staatenbund mit Namen Intermarium: um Polen herum sollten die Baltischen Staaten, die Ukraine, Rumänien und Bulgarien kreisen. Eine Konzeption, die jetzt aktuell gerade wieder erneut aktiviert wird. Die Republik Polen fühlte sich in ihrem antirussischen Sentiment Nazideutschland sehr verbunden. Und so verwundert es nicht, dass bereits bei dem berüchtigten Münchner Abkommen von 1938 nicht nur Deutschland das zur Tschechoslowakei gehörige Sudetenland von Großbritannien, Frankreich und Italien zugeteilt bekam. Sondern auch Polen richtete seinerseits ein Ultimatum an die bedrängte Tschechoslowakei und annektierte sodann den tschechischen Ort Teschen. Ungarn bekam ebenfalls ein Stück der Tschechoslowakei spendiert. Und all diese Akte der Piraterie stellten nichts weniger als eine geostrategische Flurbereinigung im geplanten Krieg gegen die Sowjetunion dar. 

Insofern ist es ein längst überfälliger Nachhilfeunterricht für ignorante NATO-Historiker, wenn der russische Präsident Putin darauf aufmerksam macht, dass Hitlerdeutschland und die Republik Polen bereits 1934 den Pilsudski-Hitler-Pakt abgeschlossen hatten. Aus dem anderen von Putin präsentierten Protokoll eines Gespräches Hitlers mit dem polnischen Außenminister Beck am 5. Januar 1939 geht zudem hervor, dass Hitler die Annexion Teschens durch Polen energisch befürwortet hatte, weil er die polnischen Streitkräfte an der sowjetischen Grenze als Vorposten der deutschen Wehrmacht sehr schätzte: „Die Divisionen, die Polen an der russischen Grenze unterhält, ersparen Deutschland zusätzliche militärische Ausgaben.“ Dass Pilsudskis Intermarium-Konzept von den Nazis als integraler Bestandteil ihrer eigenen antisowjetischen Ambitionen zu betrachten ist, bestätigt einen Tag später der deutsche Außenminister Joachim Ribbentrop im Gespräch mit dem polnischen Außenminister Beck. Es sei „Polens Privileg“, die Ukraine, die ja immerhin Teil der Sowjetunion war, als ihre legitime Interessenzone in Besitz zu nehmen. Das versichert Beck seinem deutschen Kollegen Ribbentrop: „Die Polen haben sich zu Kiew bekannt, und diese Pläne sind unstreitig auch heute noch aktuell.“ Und der polnische Botschafter in Berlin, Josef Lipski, berichtete seinem Vorgesetzten Beck am 20. September 1938 von einem Gespräch mit Hitler: man werde in Warschau ein schönes Denkmal für Hitler aufstellen, wenn es diesem gelänge, die Juden aus Europa zu vertreiben.

Weshalb also kam es im Sommer 1939 dennoch zum Blitzüberfall auf Polen durch die deutsche Wehrmacht und Waffen-SS und zur Einigung der Nazis mit Stalin? Diese Abweichung vom Drehbuch ergab sich, weil die Nazis all die unvorstellbaren Geldspritzen, die sie von der westlichen Wertegemeinschaft erhalten hatten, hemmungslos vergeudeten und Hitler am 7. Januar 1939, also just zu jener Zeit, als er mit dem polnischen Außenminister Beck so einvernehmlich konferierte, einen unerfreulichen Brief bekam. Der stammte vom Vorstand der Deutschen Reichsbank unter Leitung von dessen Präsidenten Hjalmar Schacht. Inhalt: mein Führer, wir sind pleite. Wir können keine weiteren Kriegsvorbereitungen mehr treffen. Hitler musste sich nun entscheiden, ob er Selbstmord begehen sollte oder sich für einen Bankraub entschied. Hitler beschloss, die polnischen Goldvorräte durch seinen Blitzüberfall auf Polen für sich zu erbeuten. Dazu musste er vorübergehend einen Pakt mit der Sowjetunion abschließen, den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt, der dann den Weg freimachte für den Überfall auf Polen.

Das sind Zusammenhänge, die man berücksichtigen sollte, wenn man isoliert diesen Hitler-Stalin-Pakt als alleinige Ursache des Zweiten Weltkrieges betrachtet. Russlands Präsident Putin hatte sich erlaubt, mit seiner Dokumentenauswahl das einseitige Narrativ des Westens ein wenig zu relativieren. Es ist leider zu erwarten, dass der selbstgerechte Wertewesten, der in diesem Jahr mit dem Großmanöver Defender 2020 ganz handfest den Krieg gegen Russland im deutschen und polnisch-baltischen Gelände in einer Generalprobe übt, auch weiterhin die Geschichtsschreibung als Gefechtsfeld gegen Russland missbrauchen wird. 

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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Bildhinweis: Grisha Bruev / Shutterstock

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