Tagesdosis 29.6.2019 – Das amerikanische Trauma (Podcast)

Eine Erklärung des Russiagate-Narrativs aus psychologischer Perspektive.

Von Caitlin Johnstone.

Das Interview, das Aaron Maté von The Grayzone unter dem Titel „America in denial: Gabor Maté on the psychology of Russiagate“ (auf Deutsch etwa: „Amerika verschließt sich der Wahrheit: Gabor Maté über die Psychologie hinter Russiagate“; Anmerkung der Übersetzerin) mit seinem Vater geführt hat, ist das beste und aufschlussreichste politische Video, das ich je gesehen habe. In 27 Minuten beschreibt es im Grunde die fundamentalen Probleme unserer Zeit, nicht nur in Bezug auf Russiagate, sondern auf die gesamte Weltpolitik, vom übergreifenden Verhalten der Mächte, die den Planeten dominieren, bis zu der Art und Weise, wie unser inneres Widerstreben, der Realität objektiv gegenüber zu treten, diese Mächte unterstützt. Daher verdient das Video seinen eigenen Artikel.

Als ich erfuhr, dass Gabor Aarons Vater ist, war mein erster Gedanke: „Das passt ja haargenau.“ Aarons Beiträge schlugen in die Russiagate-Debatte scheinbar wie aus dem Nichts ein; er wurde schnell zur gründlichsten und klarsten Stimme zu diesem Thema. Dabei hielt er sich strikt an das Prinzip der Auswertung von Fakten und Beweisen, anstatt dem aggressiven Anpassungsdruck seiner Medienkollegen und autoritativen Behauptungen von Regierungsbehörden nachzugeben.

Gabor war mir seit Jahren für den großen Respekt bekannt, den ihm andere Kreise, in denen ich mich bewege, für seine tiefe Einsicht in die menschliche Psyche entgegenbringen. Es leuchtet also unmittelbar ein, dass jemand wie Aaron mit der moralischen Stärke, gegen den Strom des Gruppendenkens zu schwimmen und dem Willen, um jeden Preis die Wahrheit zu sagen, von einem Menschen wie Gabor persönlich geprägt wurde.

Ich würde jedem ans Herz legen, sich das ganze Interview anzusehen, doch ich weiß, dass viele meiner Leser Videos nicht besonders viel abgewinnen können. Daher fasse ich hier mit Auszügen aus dem Grayzone-Transkript meine persönlichen Höhepunkte zusammen — denn ich halte dieses Interview wirklich für ausgesprochen gut und wichtig.

Emotionale Beteiligung

Der ältere Maté sprach über die öffentliche Unterstützung für das Russiagate-Narrativ und die unvermeidbare Enttäuschung, die folgte, nachdem Robert Mueller keinerlei Beweise für eine Zusammenarbeit zwischen der russischen Regierung und dem Trump-Wahlkampfteam von 2016 vorbringen konnte. Sowohl die Unterstützung als auch die Enttäuschung seien das Ergebnis emotionaler Beteiligung.

„Enttäuschung bedeutet, dass man etwas erwartet hat und gehofft hat, dass es passiert, und es ist nicht passiert“, sagte Maté. „Einige Menschen wollten also, dass Mueller Beweise für eine Zusammenarbeit findet, was bedeutet, dass sie emotional involviert waren. Sie wollten also nicht einfach nur die Wahrheit wissen. Sie wollten eine bestimmte Art von Wahrheit. Und wann immer wir eine bestimmte Art von Wahrheit wollen, dann rührt das von unseren emotionalen Bedürfnissen her und nicht einfach nur von einem reinen Interesse an der Realität.“

Gabor erklärte, diese emotionale Beteiligung habe ihren Anfangspunkt in dem Trauma, das Trumps Wahlsieg darstelle. Die Menschen konnten sich ihre Gefühle von Schmerz und Angst damals entweder bewusst machen und dann die Faktoren ernsthaft prüfen, die zu Trumps Wahlsieg geführt hatten, oder aber sie konnten ein ausländisches Schreckgespenst dafür verantwortlich machen und so diese Selbstkonfrontation vollständig vermeiden.

„Man kann sich dem stellen“, erklärte Maté. „Oder man kann sich sagen, dass ein Teufel hinter dem Ganzen stecken muss, und dieser Teufel ist eine ausländische Macht, und sein Name ist Putin, und sein Land ist Russland. Damit hat man eine einfache Erklärung, die es nicht erforderlich macht, dass man sich mit seinem eigenen Schmerz und seiner eigenen Angst und seinem eigenen Trauma beschäftigt.“

„Ich glaube wirklich, dass dieses Russiagate-Narrativ für viele Menschen ein Zeichen echter Beunruhigung über etwas echt Beunruhigendes war“, führte Maté weiter aus. „Doch anstatt sich damit auseinanderzusetzen, war es einfacher, diese Energie in eine Art glaubhafte und beruhigende Geschichte umzulenken. Es ist wesentlich beruhigender zu glauben, dass uns das von einem Feind angetan wird, anstatt sich anzusehen, was es über uns als Gesellschaft aussagt.“

Verweigerte Auseinandersetzung

Als nächstes sprach Maté darüber, dass Trump nicht nur traumatisierend, sondern zugleich selbst traumatisiert sei. Er sei jemand, der seine inneren Konflikte auf zutiefst unbewusste Weise nach außen in die Welt trage:

„Donald Trump ist das offensichtlichste Beispiel eines traumatisierten Politikers, das man je erleben konnte. Er verleugnet unaufhörlich die Realität. Er ist selbstverherrlichend. Sein grundlegendes Selbstbild ist das eines Niemands. Also muss er sich ständig selbst groß und bedeutungsvoll machen und beweisen, wie mächtig und schlau er ist, welche akademischen Abschlüsse er hat und wie intelligent er ist. Dadurch will er sein furchtbares Selbstbild kompensieren. Er kann seine Aufmerksamkeit auf nichts konzentrieren. Das heißt, in seinem Kopf geht es so wirr zu, da es zu schmerzhaft für ihn war, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten.“

„Worauf läuft all das hinaus? Wir wissen, dass er seine Kindheit unter einem diktatorischen Vater verbracht hat, der seine Kinder gnadenlos erniedrigte. Einer von Trumps Brüdern hat sich zu Tode getrunken. Und Trump kompensiert das alles, indem er versucht, sich so groß und stark und erfolgreich wie möglich zu machen. Und natürlich kompensiert er die Wut auf seine Mutter, die ihn nicht beschützt hat, indem er Frauen angreift, ausnutzt und öffentlich damit prahlt. Er ist ganz offensichtlich traumatisiert. Ich sage das nicht, um Sympathien für Trumps Politik zu wecken.Ich beschreibe einfach nur, was für ein Mann das ist.“

Maté brachte seine Beobachtungen über die Weigerungen der Russiagate-Verfechter und auch Trumps, sich mit ihren jeweiligen inneren Traumata auseinanderzusetzen, in Verbindung mit dem Verhalten der gesamten amerikanischen Bevölkerung. Diese verweigert eine Konfrontation mit den Schrecken, die ihr eigenes Land über die Welt verbreitet hat und die selbst das Schlimmste in den Schatten stellen, was die russische Regierung Amerika angeblich angetan haben soll.

„Niemand, der sich ernsthaft mit Geschichte befasst, kann verleugnen, dass sich die USA in die inneren Angelegenheiten beinahe jeder Nation der Erde eingemischt haben“, sagte Maté und fügte hinzu, dass diese Einmischung oft in Massenmord bestand. „Nehmen wir Chile als Beispiel: Dort gab es eine gewählte Regierung, die Amerika ganz vergnügt gestürzt und dann auch noch damit geprahlt hat. Von der gegenwärtigen Einmischung in Venezuela und seine Innenpolitik ganz zu schweigen.

Ganz zu schweigen auch davon, dass — wie du und viele andere angemerkt haben und womit die Times auf ihrem Titelblatt prahlte — die Vereinigten Staaten Boris Jelzin zu seinem Wahlsieg verholfen haben. Selbst wenn die schlimmsten Dinge, die über Russland behauptet werden, wahr sein sollten, wiegen diese kaum einen Bruchteil dessen auf, was Amerika laut öffentlichem Bekenntnis überall auf der ganzen Welt getan hat und tut.“

Opfer oder Täter

Maté brachte zur Sprache:

„Es ist immer einfacher, uns selbst als Opfer statt als Täter zu sehen. Ob es nun Großbritannien oder Frankreich sind, mit ihren riesigen Kolonialreichen, sie sind immer die Opfer aller anderen. Die Vereinigten Staaten sind immer das Opfer aller anderen. All dieser Feinde, die uns bedrohen. Wir sprechen hier von der mächtigsten Nation der Welt, einer Nation, die die Erde mit den ihr zur Verfügung stehenden Waffen im Alleingang eine Milliarde Mal zerstören könnte — und sie ist immer das Opfer.“

„Diese Opferrolle hat etwas Beruhigendes, denn sie erlaubt uns erneut, den Blick nicht auf uns selbst zu richten“, erklärte Maté. „Und ich glaube, die Einnahme einer Opferrolle hat einen großen Beitrag zu diesem Russiagate-Narrativ geleistet.“

Maté sprach davon, wie Mueller, trotz seiner schrecklichen Vorgeschichte — er unterstützte die Lüge über die Massenvernichtungswaffen vor dem Einmarsch in den Irak —, zu einem Helden hochstilisiert wurde. Hollywood hat die Psyche der Öffentlichkeit darauf trainiert, in jeder Extremsituation die „Guten“ und die „Bösen“ zu suchen. Dadurch wurde Putin als übermächtiger Superschurke gemalt, der fähig sei, in die höchsten Kreise der US-Regierung einzudringen, und Mueller wurde zum Ritter in glänzender Rüstung, der uns alle retten würde.

Das wahre Problem

„Wir haben nicht gesagt ‚Okay, hier gibt es ein großes Problem. Wir haben einen zutiefst traumatisierten, großspurigen, intellektuell und emotional instabilen, frauenverachtenden Selbstverherrlicher an die Macht gebracht. Etwas in unserer Gesellschaft hat dazu geführt. Lasst uns mal sehen, was das gewesen ist. Und lasst uns diese Dinge klären, wenn wir können. Und lasst uns einen Blick auf die Liberalen werfen, die, anstatt all diese Dinge zu hinterfragen, all ihre Energie in diese Erklärung einer ausländischen Verschwörung investiert haben.‘ Denn diese Dinge zu hinterfragen hätte bedeutet, dass sie sich mit ihrer eigenen Politik hätten beschäftigen müssen, die genau in die gleiche Richtung ging.“

„Man setzt sich nicht damit auseinander, wie unter Clinton hunderttausende Menschen ins Gefängnis gesteckt wurden, die nie hätten verhaftet werden sollen. Man sieht sich nicht an, wie es unter den Bushs und unter Obama zu dieser enormen Umschichtung von Vermögen zugunsten der oberen Bevölkerungsschichten kam. Man fragt nicht, warum Barack Obama für eine einstündige Rede vor der Wall Street 400.000 Dollar bekommt — was bedeutet, dass unser Glaube an die Funktionsweise unseres Systems vielleicht etwas erschüttert werden müsste, damit wir sehen können, was wirklich vor sich geht. Anstatt das alles zu tun, lasst uns unsere Aufmerksamkeit lieber wieder auf einen fremden Teufel lenken.“

Maté erklärte, dass Obama, obwohl ein Kriegstreiber wie die anderen US-Präsidenten, in den Köpfen der Menschen ein schönes Ideal darstellte, und dass der Kontrast zwischen diesem Ideal und Trump dessen Wahlsieg zu einer besonders traumatischen Erfahrung machte. Das machte die Menschen unwillig, die tatsächlichen Gründe für Hillary Clintons Niederlage zu betrachten, die zusammengenommen eine viel größere Bedrohung für die Demokratie darstellen als alles, was Russland vorgeworfen wird — selbst wenn diese Vorwürfe zu hundert Prozent zutreffen sollten.

Positive Desillusionierung

Zum Abschluss fragte der jüngere Maté seinen Vater nach einem Rat, was die Menschen tun könnten, um in Zukunft die Fehler zu vermeiden, die zu Trumps Wahlsieg und der anschließenden jahrelangen Russland-Hysterie geführt haben, oder um mit ähnlichen Herausforderungen auf reifere Art und Weise umzugehen.

„Nun, zuerst gebe ich den Menschen einen Rat, den zu befolgen ich selbst schwer finde, doch ich glaube, dass er wesentlich ist“, antwortete der ältere Maté. „Es ist der folgende: Wenn du schwierige Gefühle hast, nimm sie an. Nimm an, dass du verletzt bist. Nimm an, dass du verwirrt bist. Nimm es einfach an. Sage, ich bin verletzt, ich bin verwirrt, ich habe Angst. Und anstatt sofort nach einer Erklärung zu suchen, nimm das Gefühl einfach an. Und erst wenn du bereit bist, dann kannst du fragen: Was ist hier passiert? Was ist hier tatsächlich passiert? Was sind die Fakten? Welches Verhalten oder welche Vorstellungen meinerseits könnten zu dieser Situation beigetragen haben? Also sei neugierig. Sei wirklich neugierig.“

Was die Presse angeht, empfahl Gabor, den staatlichen Stellen, die Amerika mit solcher Regelmäßigkeit zu Kriegen verleitet haben, objektiv und skeptisch gegenüberzutreten:

„Sei objektiv. Spring nicht sofort auf den Zug auf. Glaube nicht sofort, dass ein bestimmter Satz, der von nahezu allen Medien verbreitet und verkündet wird, die Realität wiedergibt. Lerne aus der Geschichte. Lerne aus dieser Angelegenheit. Lerne aus dieser Russiagate-Sache, von der sie alle seit Jahren behauptet haben, sie sei eine Tatsache. Doch plötzlich stellt sich heraus, dass sie keine Tatsache ist. Also glaube ihnen beim nächsten Mal nicht mehr so schnell.“

Trotz all der Anstrengungen, die Menschen unternähmen, um eine innere Konfrontation zu vermeiden, die notwendigerweise mit Desillusionierung einhergeht, merkte Gabor an, dass es wesentlich besser sei, desillusioniert zu sein als Illusionen zu hegen.

„Würdest du lieber an etwas Falsches, also an eine Illusion glauben? Oder wärst du lieber desillusioniert?“, fragte Maté. „In anderen Worten, würdest du lieber die Wahrheit erfahren?

Ich denke, wir sollten froh sein, desillusioniert zu sein. Russiagate und das unwürdige Ende dieses Narrativs stellt für viele Menschen eine Desillusionierung dar, doch das ist prima. Nun können sie sich sagen: Okay, ich hatte diese Illusion, aber jetzt nicht mehr: ich bin nun also desillusioniert und kann endlich die Wahrheit sehen. Deshalb ist es gut, desillusioniert zu sein.“

„Das könnte also für viele Menschen ein neuer Anfang sein, wenn sie die richtige Einstellung annehmen“, schloss Maté.

Das kann man wirklich nur hoffen.

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Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

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Dieser Beitrag erschien am 25.06.2019 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

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