Tagesdosis 29.1.2018 – Teufelsaustreibung mit dem Beelzebub

Ein Kommentar Susan Bonath.

Morgens sehe ich bleiche Gesichter, die artig zur Arbeit hetzen. Gehorsam schieben sie Überstunden, damit ihr Ausbeuter noch mehr Mehrwert von ihrer Arbeitskraft in seine eigene Tasche abzweigen kann. Es sind dieselben Gesichter, die ich abends und an Wochenenden tratschen und schreien höre. Ihr Abendland ist in Gefahr. Keine Gelegenheit lassen sie aus, das hysterisch zu betonen. Sie machen mir Angst.

Ihre Feinde sind zum Beispiel zwei syrische Kriegsflüchtlinge, über die Bild und Co berichteten. Sie sollen ihre Zweitfrauen nach Deutschland holen, damit die Kinder ihre Mutter wieder haben. Das ist Thema, in den Kneipen, auf den Straße, in Kommentarspalten. Wer die Aufgebrachten beruhigen will, bekommt den Mob zu spüren. Ich solle mir eine Burka anziehen und mich verpissen, heißt es. Einer wünscht mir, vergewaltigt und in den Straßengraben geworfen zu werden. Ich mache mich vom Acker, denn ich bin kein Psychiater.

In meiner Kleinstadt kursierte kürzlich ein Gerücht: Ein Polizeihubschrauber, der über selbiger kreiste, habe »zwei Asylanten« gesucht, die »Autos demoliert und wer weiß was noch« getan hätten. Auf der Straße, bei Facebook und in der Verwaltung verbreitet sich die Story rasant, Hass und diffuse Rachegelüste inklusive. Ich rufe bei der Polizei an. Nein, es gibt weder kaputte Autos noch Vorfälle mit Asylbewerbern, sagt mir der Sprecher. Der Hubschrauber habe eine vom Ehemann vermisst gemeldete Frau gesucht – und gefunden. Wie bekommt man zur »Wahrheit« mutierte Lügen nun wieder aus den Köpfen? Ich stelle fest: Gar nicht.

Im südpfälzischen Kandel skandiert eine Masse am Sonntag immer wieder »Lügenpresse!« und »wir sind das Volk!«. Ein Gedenken an das Ende Dezember grausam durch ihren afghanischen Ex-Freund ermordete 15jährige Mädchen sähe anders aus. Das Verbrechen wird politisiert, weil der Täter Afghane war. Rund 1.000 Leute fordern geschlossene Grenzen und Ordnung. Kein Wort fällt über die imperialistischen Kriegstreiber, die das Chaos in der Welt verursachen und gestörte Menschen hinterlassen. »Lüge, Hetze und Betrug, Bürger haben jetzt genug!«, ruft ein selbst erklärtes Frauenbündnis. Und: »Sicherheit für Frau und Land, dafür gehen wir Hand in Hand!«

Vor meinem inneren Auge schwebt das Ergebnis ihrer Forderungen: Ein Polizeistaat mit uniformierten Waffenträger mit unbegrenzten Befugnissen. Jedem, der irgendwie aus dem Rahmen fällt, drohen Lagerhaft, vielleicht Erschießung. Je nachdem, wie weit der deutsche Bürger gehen will. Ich frage mich, warum der brutale Sexualmord an der chinesischen Studentin Yangjie Li im Mai 2016 in Dessau nicht ansatzweise ähnliche Tumulte veranlasst hatte. Ich weiß es: Der Täter war Sohn hochrangiger deutscher Polizeibeamter.

Vor Monaten ging eine Story von angeblich südländisch aussehenden Männern durch die Medien, die eine junge Frau sexuell bedrängt haben sollen. Inzwischen weiß man: Die Geschichte war erfunden, eine Finte. Damals antwortete ich aufgebrachten Männern, die Sicherheit für Frauen forderten, ich sei unbedingt dafür. Dann sei es aber besser, alle Männer präventiv einzusperren. Also alle, egal, woher sie stammen. Wie man schließlich wissen könne, wird die übergroße Masse der Gewalttaten von Männern begangen.

Die Angesprochenen fanden meine Überspitzung nicht lustig. Ich würde pauschalisieren und sei doch nicht ganz normal, tobten sie. Ich zucke die Schultern. Säßen alle Männer präventiv im Knast, mahnte ich an, wäre ich immerhin nicht als Kind misshandelt, niemals von Polizeibeamten krankenhausreif geschlagen und nicht x-mal sexuell und körperlich bedrängt worden. Dann könnte ich ohne Pfefferspray und Angst durch dunkle Gassen gehen. Betrunkene aufdringliche Fußballfans in Zügen, die gerne auch mal grabschen, wären Geschichte. Die widerwärtigen Beleidigungen, die mir deutsche Männer auf meine »Vorschläge« hin entgegen schleuderten, will ich jetzt nicht wiedergeben.

Insgesamt musste ich mir schon vieles anhören. Manche Bemerkungen notiere ich mir. Einmal, als ich angemahnt hatte, dass man doch mal den mörderischen plündernden Kapitalismus, seine Profiteure und seine Handlanger in der Politik anprangern müsse, nannte man mich »dummes Stimmvieh linksgrün versiffter Altparteien«. Ich sei ein »Feind von Ruhe und Ordnung«. Vergangenen Donnerstag beim Anhören der ARD-Sendung Panorama fiel mir eine schauerliche Ähnlichkeit auf – mit früheren NSDAP-Wählern.

Unter dem Titel: »Preisausschreiben: Warum sind Sie in der NSDAP?« zitierten Theaterleute darin aus alten Dokumenten, in denen Nazis 1934 ihre Mitläuferschaft begründeten. Die kann man dort auch herunterladen. Danach wollten die NSDAP-Mitglieder damals etwa »dafür sorgen, daß in unserem Vaterland wieder Ruhe und Ordnung einkehrt«. Sie fühlten sich von »Volksvergiftern« als »Stimmvieh« missbraucht und jammerten über die Presse, die »Hitler und seine Bewegung so fürchterlich herunterreißt«. Heute heißt das Lügenpresse und AfD-Bashing. Ansonsten ist die Wortwahl ziemlich gleich.

Das macht mir Angst. Offensichtlich verdrängt die Masse die Globalität unseres verbrecherischen Systems. Ich kann nicht aufrüsten, Kriege anzetteln, ganze Länder ökonomisch ausplündern und dann darauf hoffen, dass keine Scharen mittelloser Menschen in die Länder strömen, wo die verursachenden Kapitalisten und ihre Propaganda- und Exekutivapparate zu Hause sind. Kann man es verdrängen, dass der dritte Weltkrieg längst im Gange und mit Stacheldraht und Schießbefehl nicht aufzuhalten ist? Ist der Blick auf die Verursacher, die milliardenschweren Profiteure, so getrübt? Wann werde ich im Faschismus aufwachen? Wann ist die richtige Zeit, davor zu fliehen? Vor allem: Wohin kann man überhaupt noch fliehen?

Ja, ich habe Angst vor dem drohenden Faschismus, in Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten. Es spricht vieles dafür, dass ein Teil des nationalen Großkapitals alles daran setzt, einen solchen zu errichten. Das Stadium des Kapitalismus ist ein ähnliches, wie 1930: Die Monopolisierung der Wirtschaft ist weit fortgeschritten. Es haben sich, im Verbund damit, Imperien herausgebildet, die brutal gegeneinander konkurrieren. Riesige Megakonzerne als Beherrscher des Weltmarktes bedrohen nicht nur immer mehr Menschen überall auf der Welt, sondern auch das nationale Großkapital. Die Verschärfung der Ausbeutung durch Schaffung von Niedriglohnsektoren und die Einführung von faktischer Zwangsarbeit mittels Hartz IV reicht als Gegenstrategie nicht mehr aus. Zumal das alles zu Frust unter den Lohnabhängigen führt.

Den Regierungen, auch der deutschen, gelingt es immer weniger, die systemischen Widersprüche zu beherrschen. Die bekannten zyklischen Krisen des Kapitalismus überschlagen sich und sind kaum noch zu bändigen. Die Regierungen stecken selbst in der Krise. Die Politik scheitert, Strukturen zerbrechen. So war es 1930, so ist es heute. Das ist der Nährboden für Faschismus.

Faschismus braucht eine reaktionäre Massenbasis, eine Bewegung, die den Klasseninteressen interessierter reaktionärer Kapitalkräfte entspricht. Niemand würde eine solche Bewegung so nennen. In der Weimarer Republik waren das die Freikorps, später die SA. Die Demagogie bestand darin, den Arbeitern zu suggerieren, mit der NSDAP für Sicherheit und Ordnung sorgen zu können. Deren faschistische Ideologie basierte auf antikommunistischen, sozialchauvinistischen, rassistischen, teils irrationalen Theorien, die zugleich jede Klassensolidarität verhindern sollten. Die faschistische Massenbewegung war nicht zuletzt ein Produkt des Verrats und Zerfalls der Sozialdemokratie. Was damals niemand wahrnehmen wollte: Die NSDAP wurde massiv gesponsert von Teilen des interessierten Großkapitals.

Wahrlich: Die Parallelen zu heute sind erschreckend. Es scheint, als wolle eine Masse erneut den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Ich habe Angst, vor Krieg, Faschismus und einer blinden, aufgehetzten Masse. Kürzlich etwa träumte ich von mordenden Zombies mit bleichen Gesichtern. Wieder einmal. Nein, ich schaue keine Horrorfilme. Ich bin unendlich müde vom ewigen Konkurrenzkampf. Manchmal ertappe ich mich bei einem mitleidvollen Blick in die Augen kleiner Kinder auf der Straße. Werden sie stark genug dafür sein? Oder werden sie daran zerbrechen? Dann fällt mir auf, wie mein Schritt schneller und schneller wird. Ich habe diesen Monat noch nicht genug Geld verdient, um alle Rechnungen zu bezahlen. Das Hamsterrad dreht. Und mir ist klar: Alleine komme ich aus diesem Wahnsinn nicht heraus.

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