Tagesdosis 25.9.2017 – Stockholm-Syndrom

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Deutschland hat gewählt. Die alten und neuen Verwalter der BRD des Jahres 2017 drängen um die Fresstöpfe im Berliner Glaspalast. Eine Lösung für die Krise eines Systems, das an seinen ökonomischen Widersprüchen global zu kollabieren und in die absolute Barbarei zu verfallen droht, ist so fern wie ehedem. Aber das Bewusstsein der Masse liegt auf dem Tablett. Die Herrschenden lachen sich kaputt.

Das Zeichen ist deutlich: Eine von Abstiegsängsten geplagte Gesellschaft hat sich – wieder einmal – mehrheitlich dafür entschieden, nach unten zu treten. Nach unten treten ist das Grundprinzip im marktkonformen Wettbewerb. Es gilt, schwächere Konkurrenten auszuschalten. Mit allen Mitteln. Ganz so, wie Großkonzerne um Märkte und Profite konkurrieren, konkurriert der kapitalistische Mensch um Posten, Lohnarbeitsplätze, Wohnungen, sozialen Habitus.

Wankt der soziale Habitus, endet für viele die Suche nach einer Identifikation bei der Nation. Mensch will sich anerkannt fühlen. Er ignoriert, dass die Apparate der Nationalstaaten überhaupt nur existieren, um die Ausbeutung der Mehrheit zugunsten der besitzenden Profiteure effektiv zu managen. Es ist wie ein ewiges Stockholm-Syndrom: Geiseln solidarisieren sich mit ihrem Peiniger. »Der Sklave will nicht frei werden. Er will Sklavenaufseher werden«, sagte schon der polnische Journalist und Satiriker Gabriel Laub.

Laub war wohl nie im sächsischen Osterzgebirge. Der ländliche Kreis hätte sein Paradebeispiel werden können. Er ist geprägt von hoher Erwerbslosigkeit, wachsender Altersarmut und einem ausufernden Niedriglohnsektor. Rund ein Zehntel aller Menschen lebt dort auf dem Niveau der Grundsicherung. Mehr als ein Drittel der abhängig Beschäftigten arbeitet für Mindestlohn.

Und doch: 70 Prozent der Urnengänger haben im Osterzgebirge ausgerechnet die Parteien gewählt, die am stärksten auf sozialdarwinistische Aus- und Abgrenzung setzen und am frenetischsten den kapitalistischen Konkurrenzkampf feiern: AfD, CDU und FDP. Sie haben die neoliberale Avantgarde gewählt, die für Imperialismus, Krieg, Aufrüstung, mehr Repressionen und den weiteren Abbau sozialer Grundrechte steht.

Dass die AfD im Osterzgebirge mit 35,5 Prozent der Stimmen Platz eins ergattern konnte, hat eine Ursache: Mit Millionen-Spenden aus der Wirtschaft hat sich die Partei, die sich funktional aus Ex-CDU-Kadern, Unternehmern, erzkonservativem und fundamental-christlichem alten Adel und reaktionären bürgerlichen Möchtegern-Mitspielern rekrutiert, erfolgreich als »Opposition gegen Merkel« verkauft. Scheinbar hat sie die seit Jahrzehnten nicht nur in Sachsen politikbestimmende CDU besiegt. Tatsächlich verkörpert die AfD nur eine andere Kapitalfraktion, die sich nicht mehr von Merkels russlandfeindlicher Politik vertreten sah.

Der Vorwurf, AfD-, CDU- und FDP-Wähler aus eher abgehängten Schichten hätten nur das Programm nicht gelesen, greift zu kurz. Die kapitalistische Gesellschaft des Wettbewerbs »jeder gegen jeden« ist auch eine Gesellschaft der Glaubenssätze und Hierarchien. Der Mythos »Freiheit« hängt der FDP so unerschütterlich an, wie jener Mythos, die CDU sei wirtschaftlich irgendwie kompetent. Beide machen seit Ewigkeiten hauptsächlich begünstigten Konzernen und sich selbst die Taschen voll. Vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet, ist das tatsächlich kompetent. Warum soll es der Wähler anders sehen?

Die AfD hatte dazu noch keine Gelegenheit. Damit sie nun mitmachen darf, wurde und wird sie satt gesponsert. So ist dem reiche Unternehmer vereinenden »Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten« nichts zu teuer für seine Favoriten. Doch das Kalkül des ostdeutschen Geringverdieners ist wohl ein anderes: Er klammert sich vermutlich an die Vorstellung, mittels ethnischer Homogenität und subjektiver Aufwertung seiner eigenen Identifikationsgruppe seine angeschlagene wirtschaftliche Stellung in der Gesellschaft kompensieren zu können.

Wenn die Lebenswelt ins Wanken gerät, beginnt der Run um den Status. Sündenböcke am unteren Ende der Hierarchie sind schnell ausgemacht und leichter zu bekämpfen als ein komplexes System. Irgendwo muss die Wut ja hin. Ethnische Säuberungen, wie sie CDU und SPD längst versteckt betreiben, werden aber die globale Krise des Systems nicht stoppen. Auch die stärkste Armee der Welt und die sichersten Grenzen werden nicht reichen, dauerhaft Milliarden Opfer der Barbarei aus- oder einzusperren. Der Krieg der Systemprofiteure in der Krise macht vor den imperialistischen Zentren nicht halt.

Wer gestern den Kapitalismus gewählt hat, ob in Form von CDU, CSU, FDP, SPD, den Grünen oder der AfD, kann sich eins ins Notizbuch schreiben: Er hat sich für die Fortsetzung des imperialistischen Krieges von deutschem Boden aus entschieden. Es ist das Votum einer Mehrheit, die gern selbst Sklavenaufseher wäre. »Jede Religion misst die Glaubensstärke ihrer Anhänger an der Bereitschaft, Holz für den Scheiterhaufen herbeizuschleppen« – sagte Gabriel Laub.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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