Tagesdosis 25.2.2020 – Westlessness

Ein Kommentar von Dirk Pohlmann.

Die Münchner Sicherheitskonferenz 2020 hatte ein Oberthema ausgegeben: Westlessness. Ein frisch erfundener Begriff, den man mit Westlosigkeit übersetzen kann. Er sollte auf Wunsch der Veranstalter unter verschiedenen Aspekten diskutiert werden. 

Die Münchner Sicherheitskonferenz, sonst eine Art NATO-Party, bei der die US-Regierung die Marschrichtung vorgibt, im Wortsinn, bei der die Vasallen dem Hegemon huldigen und ihm ewige Treue versichern, wollte sich diesmal auf die Couch legen, man hatte sich eine Gesprächstherapie verordnet. 

Der Westen sieht sich selbst offenbar als den kranken Mann der Welt. Die USA sind zunehmend mit sich selbst beschäftigt, während ihr Stern sinkt, Europa treibt mit Schlagseite zwischen den schmelzenden Eisbergen dahin, das Ausscheiden Großbritanniens ist keine Erfolgsstory. Ist das die Götterdämmerung für den Westen?

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz ging es also um das Selbstbewusstsein des Westens, in beiden Bedeutungen des Wortes. Zum einen: weiß der Westen, was er ist, welche Werte er hat, was ihn ausmacht? Zum anderen: Hat der Westen Lebenswillen, den Willen zur Macht, hat er ein Sendungsbewusstsein?

Und, mit melodramatischem Anschwellen eines imaginären Symphonie-Filmorchesters, stellten sich die NATO Staaten die Frage, ob der Westen der Bedrohung durch den brutalen Russen und den hinterhältigen Chinesen gewachsen sei. Ob man vielleicht doch ordentlich aufrüsten muss? Eine rhetorische Frage.

Man reibt sich die Augen. Wie war das vor 31 Jahren? 1989 begannen mit dem Mauerfall, vielleicht auch vorher, die Planungen für das neue amerikanische Jahrhundert. Der Triumph im Kalten Krieg sollte die Vorherrschaft der einzigen Supermacht bringen, in Ewigkeit, Amen. Francis Fukuyama hatte unter dem verhaltenen Beifall der westlichen Systemakademiker sogar das Ende der Geschichte ausgerufen. Liberale Demokratie und Kapitalismus, zwei Seiten einer Medaille, die angeblich untrennbar miteinander verbunden sind, hatten triumphiert, der Westen würde nach dem großen Sieg die Welt noch einmal feucht durchwischen, und dann würde ein Gottesdienst nach dem anderen für den Gott Mammon abgehalten. Um deren Gestaltung und Finanzierung sich die Tributpflichtigen schlagen würden.

Das Geheimnis des Erfolges: die westlichen Werte. Wir alle kennen sie. Sie sind die Grundlage unserer Zivilisation, ach was, jeder Zivilisation. Es sind —- Moment, ich komme gleich drauf. Liegt mir auf der Zunge. Irgendwas mit Demokratie. Und Freiheit. Sekunde, ich weiß es doch. Ach, es ist wie mit Pornographie. Die kann ich auch nicht definieren, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe.

Man kann ja mal schnell auf einem Spickzettel nachschauen. Hier zum Beispiel: Artikel 2 des EU Vertrages lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Genau! So steht es in Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union.

Und dann noch: „Die EU verpflichtet sich zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“

Also auch zur Einhaltung des Gewaltverbots? Artikel 2 Der UN Charta? Der da lautet: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Und was war das dann in Jugoslawien? Im Irak? In Libyen? In Syrien?

Was antwortet der Westen auf diese Fragen? Das hier: „OK, wir haben behauptet, dass das unsere ehernen Grundsätze sind. Die westlichen Werte, festgeschrieben in der UN Charta. Aber da haben wir halt gelogen.“

Tja, man traut sich kaum noch, solche Sätze auszusprechen, wie sie in Artikel 2 des EU Vertrages oder der UN Charta stehen. Sofort erscheint der innere Ossi im Gewissen und sagt mit sarkastischem Unterton: Ich weiß zwar nicht, was der Westen ist, aber ich rieche Propaganda 10 Kilometer gegen den Wind. Um das mal klarzustellen, Genosse: Nicht mit mir. Nicht schon wieder. Habe ich auch alles mal geglaubt. Passiert mir nicht wieder. Wenn Du mich einmal verarscht, ist es Deine Schuld, dann bist Du der Böse. Wenn Du mich das zweite mal verarscht, bin ich selbst schuld. Dann bin ich ein Depp.

Leider ist es nicht nur der innere Ossi, der so redet. Es ist auch der realexistierende Russe. Der hat das mit den Versprechungen „nicht ein Zentimeter Richtung Osten“ und der Osterweiterung der NATO nicht vergessen. Und der Chinese sowieso. Der denkt an Libyen, an die Flugverbotszone, zur humanitären Errettung der Libyer, die dann zum längst geplanten Regime Change wurde. Der Chinese redet selten, noch seltener laut, aber er äußert sich immer öfter mit die Behauptung, dass der Westen bewiesen habe, dass er nicht geeignet sei, die Welt anzuführen. Der Iraner verweist auf die Verträge, die der Wertewesten abschließt, um sich damit kurz darauf den Allerwertesten zu säubern. Und dann sind es die Malayen, die Indonesier, die Inder, die Südafrikaner, die dem auch noch zustimmen. Na gut, eigentlich fast alle. Und, der Wahrheit die Ehre, ich selbst gehöre auch dazu.

Ich frage mich auch: Sind Präsidenten wie Jair Bolsonaro, Donald Trump und Boris Johnson der historische Beweis für den Sieg der Guten über das Böse, für die Selbstreinigungskraft und die kulturelle Vitalität der Demokratie, sind sie ein Beleg für das Ende der Geschichte in der besten aller möglichen Welten?

Was ist eigentlich mit den ewigen westlichen Werten? 1964 wurde in den USA die Apartheid abgeschafft und Schwarze durften erstmals auf den gleichen Wegen wie Weiße gehen, auf den gleichen Bänken sitzen und sogar studieren. Erst 1965 wurde in den USA die Rassendiskriminierung bei Wahlen illegal. Bis 1989 unterstützten die USA Südafrika, wo es bis 1994 Apartheid gab. Und jetzt unterstützen die USA Apartheid-Israel. Dort wurden in den letzten Tagen riesige Plakatwände aufgehängt, auf denen der palästinensische Ministerpräsident Ismael Haniyyah und Palästinenserführer Mahmud Abbas abgebildet sind. Auf den Knien, in den Trümmern einer zerstörten Stadt, mit verbundenen Augen, Hanniyyah in Handschellen, Abbas mit erhobenen Händen, über den beiden kreisen israelische Kampfhubschrauber in einem brandgeschwängerten Himmel. Auf den Plakatwänden steht: „Frieden schließ man nur mit besiegten Feinden“. Das ist ganz im Sinne Benjamin Netanyahus, der im August 2018 sagte: „Es gibt keinen Platz für die Schwachen. Die Schwachen kollabieren, werden geschlachtet, ausradiert aus der Geschichte; und die Starken, im Guten wie im Schlechten, überleben. Die Starken werden respektiert, die Starken gelangen in Bündnisse, und letztlich schaffen die Starken den Frieden.“ Wenn das jetzt die Araber plakatieren und sagen würden, wäre das nicht ein klein wenig, sagen wir – antisemitisch? Ich frage ja nur. 

Das ist also der Frieden, für den der Westen mit seiner Militärmacht steht. Trump sagte 2019, dass er der großartigste Präsident aller Zeiten und der Welt nicht nur für Amerika, sondern auch für die Juden und Israel sei und die Israelis ihn liebten wie die zweite Wiederkehr Gottes.

In anderen Teilen der Welt werden solche Aussagen nicht so begeistert rezipiert wie in Teilen Israels und der USA. Vor allem von Personen, die das mit den westlichen Werten besser verstanden haben als Trump und Netanyahu.

Der Westen redet viel von Humanität, wenn er Länder in die Steinzeit zurück bombardiert. Wie in Libyen, das bis 2011 unter dem furchtbaren Diktator Muammar al Gaddhafi das afrikanische Land mit dem höchsten Lebensstandard in Afrika war, mit kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung, auch für Frauen. Bis der Wertewesten die Libyer von ihrem Wohlstand befreite und ihnen die Freiheit brachte, von mindestens zwei Regierungen kein Wasser und keine Elektrizität zu erhalten, dafür aber immer öfter die Gelegenheit zu haben, auf der Straße von einer Soldateska erschossen zu werden. 

Trotz dieser großartigen Leistung des Wertewestens sind die Libyer nicht begeistert und fliehen nach Europa. Wie undankbar kann man sein?

Wer Wertewesten führte in Gestalt seiner Führungsmacht USA die Folter wieder ein, er ist dabei, einen politischen Gefangenen, Julian Assange, mit psychologischer Folter zu ermorden. Er verfolgt Chelsea Manning und Edward Snowden. Der musste vor den Regime-Schergen Obamas und Trumps nach Moskau fliehen. Ein Amerikaner flieht nach Moskau. Verkehrte Welt? Nein, die Phänomenologie des Freien Westens.

Die USA wollen das Recht haben, Journalisten für die wahrheitsgemäße Berichterstattung über Kriegsverbrechen zu Tode zu foltern. Falls sie das ein klein wenig totalitär finden, seien sie vorsichtig, wem sie das im demokratischen, freiheitlichen Westen sagen, der von der NSA totalüberwacht wird. So wie die ganze Welt. Ich habe sie gewarnt. Die Konsequenzen müssen sie selbst tragen.

Möglicherweise könnte Julian Assange zu einer Diskussion über Westlessness wichtige Argumente beitragen. Leider verhindert seine Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis jede Meinungsäußerung.

Worum ging es bei der Westlessness Konfrenz in München noch mal? Richtig, vor allem um die Gefahr durch das Telekommunikationsunternehmen Huawei. 

Meine lieben Landsleute, die USA meinen es gut mit ihnen! Sie wollen Sie vor den G5 Todesstrahlen bewahren. Wer weiß schon, was G5 für böse Wirkungen hat! Na ja, also gut, die USA wollen sie nur vor chinesischen Todesstrahlen schützen. Falls es US Unternehmen gäbe, die G5 „Freedom Phone“ Netzwerke herstellen könnten, würden sie sich von denen grillen lassen müssen. Aber die gibt es nicht, weil die USA nur noch Waffen produzieren können. Und das mit einer geradezu sowjetisch-korrupten Misswirtschaft, zu astronomischen Preisen. Während die Russen und Chinesen den USA in vielen Bereichen technisch so überlegen sind, dass sich der Westen nur noch mit Handelsembargos behelfen kann. Seit die Chinesen beweisen, dass Kapitalismus im Sozialismus besser funktioniert, als in der Demokratie, gibt es Argumentationsprobleme im Wertewesten. Selbst beim freiesten Freihandel des freien Westens, einstmals unverzichtbarer Wert des Westens, gibt es neuerdings Gegenargumente. Seit andere besser und billiger produzieren und die Gewinne einfahren.

Im Zweifelsfall sind alle diese Fehlentwicklungen der Wirtschaft auf den Einfluss der Hacker von Wladimir Putin zurückzuführen, genau wie alle falschen Wahlergebnisse, die dann mit Regime Changes des Wertewestens berichtigt werden müssen, wie in Bolivien. Oder Venezuela.

In Sachen Patente haben die Chinesen die USA mittlerweile weit, man könnte sagen sehr weit, oder auch total super weit überholt, sie haben außerdem 8 mal so viele Uni Absolventen in den MINT Fächern, sie sind mittlerweile für etwa 130 Länder der wichtigste Handelspartner. Die Entwicklungsrichtung ist klar. Völlige Westlessness. Wo der Westen weiterhin führt: Die USA haben in 149 Ländern Special Forces im Einsatz, aber nur in 144 Ländern einen Botschafter. Na gut, Diplomatie ist nicht ihre Stärke und nicht ihr Anliegen.

Ich hätte da mal eine Frage. Könnte jemand bei der Sicherheitskonferenz anrufen und den Regierungschefs verraten, dass der Westen, tja, wie soll man es höflich ausdrücken? – sagen wir: es völlig verkackt hat – weil er seine eigenen Werte seit Jahrzehnten verrät, dass die Heide weint?

Weil, es könnte ja sein, dass es der Westen noch gar nicht gemerkt hat, dass er sich vom Marktplatz des antiken Athens, der Agora, so weit entfernt hat, dass man diese Wiege des Westens überhaupt nicht mehr erkennen kann. Und die USA sind auch nicht mehr das, was Kalifornien Mitte der 70er Jahre mal war: eine vibrierende Verheißung eines freien Lebens. 

Bei diesen Visionen steht jetzt das Belmarsh Hochsicherheitsgefängnis als Hindernis in der Sichtachse. 

Mal im Ernst: wenn sie Chinese oder Russe wären, wollten sie, so wie 1970, unbedingt Teil des Westens werden? Oder hielten sie Westlessness für die gesündere Alternative?

Ebenfalls im Ernst: was verbindet die Europäer mit dem großen Bruder hinter tausenden Kilometern Meer? Die Werte der Aufklärung und die französische Revolution? Die Unterstützung Frankreichs für die USA auf diesem Weg? 

Oder: Der zweite Weltkrieg? Na gut, die Briten vielleicht, und die Polen, die Dänen und Niederländer. Aber glauben sie wirklich, dass die derzeit sehr kriegslüsternen USA darauf brennen, die Nachkommen der Holocaustmörder in Deutschland vor dem nuklearen Flammentod zu bewahren? 

Wäre es nicht für Deutschland klüger, ein neutraler Staat zu werden und sich vor allem mit den neuen Mächten Eurasiens gut zu verstehen? Bei ihnen und allen anderen Nachbarn einen Ruf als wahrer Hüter der Athener westlichen Werte zu erwerben, als ehrlicher Vermittler in der Tradition Dag Hammarskjölds (unter Mithilfe des Wertewestens ermordet) oder Olof Palmes (unter Mithilfe des Wertewestens ermordet) oder Aldo Moros (unter Mithilfe des Wertewestens ermordet).

Auch das Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts, und allemal Preußen könnte als Vorbild dienen. Sogar Bismarck ist in Sachen Russland kein schlechter Ratgeber. 

Man kann ja durchaus auch das bewundernswerte amerikanische Erbe von John F. Kennedy, Robert Kennedy, Martin Luther King und Malcolm X antreten. (Allesamt unter Mithilfe des Wertewestens ermordet.) Auch mit US Regierungen kann man wieder reden, sobald sie sich der historischen Wahrheit stellen und reinen Tisch bei JFK und wohl auch 911 machen. Mit einem Präsidenten Bernie Sanders oder Tulsie Gabbard wäre das vielleicht  möglich. 

Aber das werden wir nicht erleben. Bevor die gewinnen, wird in den USA die Wahl gefälscht und der Betrug Putin in die Schuhe geschoben.

Ich schlage als Motto der nächsten Münchner Sicherheitskonferenz deshalb die tiefe Weisheit der Bremer Stadtmusikanten vor, die zum Thema Westlessness sagten: Der freie Westen? Nix wie weg! „Etwas besseres als den Tod finden wir überall!“

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Maxx-Studio / Shutterstock

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