Tagesdosis 24.11.2017 – Wenn schon Parlament, dann richtig

Ein Kommentar von Pedram Shahyar.

Deutschland galt in den letzten Jahrzehnten als Hort der politischen Stabilität und Muster der liberalen parlamentarischen Demokratie. Das Scheitern der Regierungsbildung nach den letzten Wahlen ist ein geschichtliches Novum, ein Anzeichen, dass die alte politische Ordnung sich verabschiedet und eine neue Phase von Instabilität, aber auch Dynamik und schneller Wandel vor uns steht.

Es ist schon bemerkenswert, dass die CDU als größte Partei im neuen Parlament keine Mehrheit bilden kann. Das zeigt erstens, dass die alten Lager vollkommen durcheinander gewürfelt sind und die große stabile Mitte der Vergangenheit anzugehören scheint. Zweitens ist interessant, dass keine Partei bereit ist mit der CDU zu regieren, weil sie, vielleicht mit Ausnahme der Grünen, alle damit rechnen, durch Regierungsbeteiligung zu verlieren. Dieses Phänomen, dass so viele politische Kräfte durch das Regieren zu verlieren drohen, weist auf ein grundsätzliches Problem der parlamentarischen Demokratie hin: Die Gestaltungsmöglichkeiten scheinen im parlamentarischen System immer geringer zu werden, weil immer mehr die Entscheidungen von großen Lobbys oder elitären Interessengruppen bestimmt sind. Der geringe Gestaltungsraum verstärkt sich dadurch, dass das politische Spektrum im Bundestag immer stärker zerfranst ist.

Währen das alte Establishment der SPD wieder zu einer großen Koalition drängt, rufen andere nach Neuwahlen. Doch sind das beides keine wirklich produktiven Lösungen. Eine Fortführung der GroKo würde die SPD endgültig den Charakter einer Großpartei kosten. Es ist sicher, dass sie weiter massiv verlieren, und dann in derselben Liga wie die anderen vier kleineren Parteien spielen. Werden die Oligarchen der SPD wegen vier Jahren Ministerialjobs die älteste Partei Deutschlands in die 2. Liga der Politik schießen? Es ist Ihnen sicher zuzutrauen.

Neuwahlen wären das Beste, was man machen kann, um die Politikverdrossenheit in diesem Lande noch ein gutes Stück voranzutreiben. Nochmal inhaltsleere Plakate und nochmal dieselbe Leier der Politiker, deren Glaubwürdigkeit sowieso stark gesunken ist. Enormer Einsatz von Ressourcen und Aufmerksamkeit für was? Was haben die Parteien Neues zu sagen, Neues anzubieten? Warum müsste irgendwer irgendwas anderes wählen als noch vor zwei Monaten? Die Konstellation im Bundestag würde sich durch Neuwahlen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ändern: Entweder Große Koalition oder 3er Bündnis.

Was übrig bleibt, ist eine Minderheitsregierung, also die Kanzlerschaft und Regierungsbildung der CDU (vielleicht mit den Grünen zusammen), die um ihre Gesetzesvorhaben im Bundestag jedesmal um neue Mehrheiten ringen müsste. Was auf den ersten Blick sehr anstrengend erscheint, hat auch Potenzial parlamentarische Debatten und Politik wieder zu beleben. Die Große Koalition konnte lange Zeit alles einfach durchziehen, sie brauchte kaum die Ausschüsse des Parlaments ernst zu nehmen. Die kleine Opposition meckerte, aber wirklich was zu bestimmen hatte das Parlament sehr selten. Eine Minderheitsregierung wäre gezwungen, ständig neue Koalitionen zu sondieren, fachliche Debatten hätten einen realen Sinn darin rauszufinden, wer mit wem was kann. Es ist vielleicht an der Zeit, sich von alten bequemen Gewohnheiten des politischen Betriebs zu verabschieden. Diese gehören Zeiten an, die für immer vergangen sind. Es gilt die Chancen im Neuen zu suchen, eine Belebung der Demokratie, eine neue Debattenkultur und eine dynamische Bildung von wechselnden Mehrheiten. Vieles in diesem Lande liegt im Argen und muss dringend angegangen werden: Soziale Sicherung, Altersarmut, ökologische Wandel, digitale Erneuerung. Der politische Betrieb sollte sich weniger um Machterhalt sondern mehr um sachliche Lösungen kümmern. Eine Minderheitenregierung scheint unter den gegebenen Umständen das Beste zu sein, um das Pendel etwas in dieser Richtung zu verschieben.

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