Tagesdosis 23.4.2018 – Widersprüche gehören hinterfragt (Podcast)

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Kein Journalist kann alles wissen. Es ist sein Beruf, Ereignisse zu hinterfragen. Ein guter Reporter spricht dafür mit allen, die der Wahrheit auf die Sprünge helfen können. Auch mit der politischen Gegenseite. Wie sonst sollte er auch Motivationen erfahren? Wie sonst könnten Leser und Zuhörer verstehen? Doch was ist, wenn ein Interview-Partner ganz offen Märchen verbreitet oder, mehr oder weniger versteckt, Hetze betreibt? Kein Journalist sollte dies so im Raum stehen lassen. Interviewer müssen hinterfragen.

Im Fall des bei KenFM interviewten AfD-Abgeordneten Christian Blex, veröffentlicht am 12. April, blieb so manches im Raum stehen – vielleicht unbedacht, womöglich unbemerkt. Auf jeden Fall fand es Anklang in jenem Lager, das seit Monaten oder gar Jahren bei KenFM herumpöbelt, wie »linksversifft« das Portal doch sei. Auf jeden Fall zog es zurecht den Zorn so mancher nach sich. Nicht wegen des Interviewten an sich, sondern wegen der Lügen, die stehen blieben. Ich gebe zwei Beispiele.

Blex behauptete an einer Stelle sinngemäß, die türkischen Gastarbeiter seien in den 1960er Jahren allein auf Wunsch der USA in die Bundesrepublik gekommen. Der Hörer konnte den Eindruck einer geheimen »Migrationskampagne« dunkler Mächte bekommen. Kein kritisches Nachhaken an dieser Stelle. Auch wenn es fast gänzlich ausgemachter Blödsinn war.

Warum also holte die Bundesrepublik viele Tausend türkische Gastarbeiter ins Land? Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich die alte BRD noch im Stadium des Wiederaufbaus. Viele Menschen hatten alles verloren. Massenproduktion war das Gebot der Stunde, um die Bürger zu befrieden mit Wohnraum, Gütern, Lebensmitteln, Freizeitangeboten und so weiter.

Gleichwohl herrschte kriegsbedingt Männermangel. Erinnert sei daran, dass damals eine Frau in der rückständigen BRD nicht ohne Einverständnis ihres Ehemannes oder Vormundes arbeiten durfte. Sie war nicht einfach verfügbar für den Produktionsprozess. Es herrschte Aufschwung, und der drohte am Mangel an Arbeitern zu scheitern. Akut wurde das Problem nach dem Mauerbau der DDR. Bis dahin nämlich war es Gang und Gäbe, dort ausgebildete Arbeitskräfte mit tollen Versprechen abzuwerben. Das war passé.

Die türkischen Gastarbeiter waren schlicht die heutigen Ein-Euro-Jobber, Leiharbeiter, osteuropäische Hungerlohn-Pflegekräfte. Man brauchte sie als Truppe für die Arbeit, die niemand sonst für Dumpinglöhne ausführen wollte. Sie waren die Reservearmee für körperlich schwere, manchmal gefährliche Arbeiten, das »niedere Proletariat«. Dank ihrer billigen Arbeitsleistung stieg die BRD zum europäischen Wirtschaftsführer auf. Das deutsche Großkapital verdiente sich eine goldene Nase.

An einer zweiten Stelle pauschalisierte Blex Muslime als »ungebildet«. Woher er diese »Weisheit« hat, kam nicht zur Debatte. Dabei findet sich in Deutschland zum Beispiel kaum ein Krankenhaus, in dem kein muslimischer Arzt arbeitet. Genauso könnte man behaupten, alle deutschen Fußballfans würden saufen, prollen, prahlen, pöbeln und Frauen begrapschen. Wer als Frau schon mal in einem Zug mit männlichen Fans gefahren ist, weiß, was ich meine.

Man könnte auch daran erinnern, dass die Bibel sogar noch brutaler ist, als der Koran. Dass es in Deutschland Netzwerke fundamentalistischer Christen gibt, die nicht besonders menschenfreundlich agieren und tief in einigen Parteien, auch der AfD, verwoben sind. Ja, es gibt sie sogar noch im holden Deutschland, die praktizierenden Exorzisten. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche beschäftigt mehr als hundert Militärpfarrer, die gern auch Waffen und Soldaten segnen. Und ferner: Religionen haben nun einmal allesamt nicht viel mit Wissen zu tun.

Man muss also davon ausgehen, dass es sich um plumpe Hetze gegen eine Minderheit handelt, statt um eine fundierte Kritik. Das ist ähnlich wie bei den Lügenstorys von den »faulen« Hartzern oder »faulen Griechen«. Eins bewirkt so etwas auf keinen Fall: Frieden.

Man muss auch anmerken, dass kein einziger Widerspruch zwischen dem, was Blex sagte und dem Programm seiner Partei angesprochen wurde. Dort ist so manches nachzulesen. Zum Beispiel, dass die NATO gebraucht werde, um deutsche Wirtschaftsinteressen durchzusetzen.

Der AfD-Abgeordnete Jan Ralf Nolte kennt diesen Programmpunkt hingegen offenbar sehr gut. Am Donnerstag verteidigte er den Bundeswehreinsatz gemeinsam mit der NATO in Somalia unter Beifall von CDU, CSU und FDP. Die sogenannte »Atalanta«-Mission sei dringend notwendig für die deutsche Exportwirtschaft. Man müsse gegen die Piraterie vorgehen, um Seehandelswege im Interesse deutscher Staatsbürger freizuhalten sowie Millionen Afrikaner davon abbringen, nach Europa zu kommen, erklärte er im Bundestag. Was das bedeutet? Raub der Fischbestände, Hunger und Perspektivlosigkeit für die Somalis. Der Neokolonialismus lässt grüßen.

Die AfD will auch reiche Unternehmenserben gar nicht mehr besteuern. Also nichts, niente, nada, ein Reichen-Schonprogramm vom Feinsten. Vor einer Weile erinnerte ihr Parlamentarier Albrecht Glaser daran. Bezüglich eines Antrags der Linksfraktion, für hohe Vermögen eine jährliche Miniabgabe von fünf Prozent zu verlangen, warnte er vor »Sozialismus«.

Auch Hartz-IV-Bezieher will die AfD zur Pflichtarbeit zwingen, um überhaupt die Grundsicherung zu erhalten. Die Sanktionen, mit denen Erwerbslose in den Niedriglohnsektor gezwungen und dieser ständig erweitert wird, hält sie für richtig. Atomkraft inklusive Müll findet sie nicht weiter schlimm. Eine bis an die Zähne bewaffnete, mit allerlei Selbstermächtigungsbefugnissen ausgestattete Polizei sei notwendig sowie hochgerüstetes Militär alternativlos. Um so etwas zu erfahren, kann man Wahlprogramme lesen und Bundestagsdebatten hören. Tut aber fast niemand.

Ein gutes Interview zeichnet sich eben nicht nur dadurch aus, Andersdenkenden ein Forum zu geben. Es gewinnt vielmehr nur dadurch Wert, wenn Floskeln hinterfragt und Unwahrheiten aufgedeckt werden. Erst, wenn der Gesprächspartner mit seinen Widersprüchen konfrontiert wird, erhält er die Chance, sie auszuräumen. Das ist jedenfalls in diesem Interview nicht geschehen.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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