Tagesdosis 23.3.2019 – Herrscher und Untertanen, Täter und Opfer

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Sie sind arm. Sie schuften für Billiglöhne oder sind arbeitslos. Manche haben keine Wohnung, viele eine Bruchbude, fast keiner hat eine Perspektive. Doch die Bewohner der Banlieues von Paris nehmen das nicht so still hin wie ihre deutschen Nachbarn. Gewalt!, schreit Frankreichs Präsident Macron, seit sie sich gelbe Westen anziehen und dagegen wehren. Damit meint er nicht seine prügelnden, mit Gummigeschossen ballernden und Tränengasgranaten feuernden Polizisten, die schon Tausende verletzt und Dutzenden Augen aus- und Hände abgeschossen haben. Damit nicht genug: Macron hat angekündigt, ab diesem Wochenende zusätzlich Elitesoldaten auf die Demonstranten zu hetzen. Wenn das Volk nicht spurt, bekommt es Krieg.

Dass der Staat die Herrschaft der Herrschenden letzten Endes mit roher Gewalt durchsetzt, ausgeübt von uniformierten, privilegierten Untertanen, weiß nicht nur der französische Arbeiter. Doch der geht damit in der Regel anders um als der deutsche. Nur ein Beispiel: Während hierzulande ein Wutmob, vor allem bestehend aus älteren Männern, über die freitags streikenden Schüler – besonders Schülerinnen – herfällt und meist vom gemütlichen Sofa aus seinen Hass in die Kommentarspalten verspritzt, haben sich die Gelbwesten längst mit den „Fridays for Future“-Kids solidarisiert.

Klar, ganz tief im Inneren wissen es wohl auch deutsche Malocher: Die Herrschenden werden jede Gegenwehr brutal bekämpfen. Doch die Reaktion ähnelt einem Stockholm-Syndrom: Noch schneller im Hamsterrad treten. Noch eifriger jeden Mitbewerber nieder konkurrieren. Noch lauter nach Recht und Ordnung brüllen. Noch eindringlicher die Klassenunterschiede ignorieren. Und offensichtlich angefüllt mit Aggressionen, lenken viele ihre Wut auf ihnen vorgesetzte Feindbilder: Geflüchtete oder Muslime, Hartz-IV-Bezieher, unliebsame Journalistinnen und nun sogar auch auf Kinder und Jugendliche.

Die einen sind angeblich alle kriminell, die anderen faul. Schreiberlinge, die unerwünschte Dinge aussprechen, titulieren besorgte Bürger gerne als „Systemlinge“. Sind die Journalisten weiblich, geht es nicht selten weit unter die Gürtellinie. Das Patriarchat lässt grüßen. Und streikende Kinder diskreditiert der Wutbürger einfach mal als dumm, zur Not mit zusammengebastelten Fake-Fotos, wie es die AfD nun tat.

Doch an einer Stelle hält sich der Zorn der besorgten Bürger in engen Grenzen: Kindesmissbrauch und Kinderpornografie. Kein Verbrechen wächst in Deutschland seit Jahren stärker an und hat gleichwohl eine so hohe Dunkelziffer. Alleine im Jahr 2017 wurden der Polizei in Deutschland laut Bundeskriminalamt mehr als 12.000 Fälle von Kindesmissbrauch und – zusätzlich! – fast 8.000 Fälle von Kinderpornografie bekannt, was ersteres beinhaltet. Das sind 55 Fälle pro Tag. Die Zahl der einzelnen Opfer ist nicht bekannt. Und die Täter stammen, ebenfalls laut BKA, fast immer aus ihrer Familie oder ihrem ganz persönlichen Umfeld.

Der Kreis der Täter reicht hinein in jedes Milieu. Es sind vor allem weiße Männer. Weiße Männer aus allen Schichten bis ganz nach oben missbrauchen, verkaufen und konsumieren Kinder wie Vieh. Mitten in Deutschland. Und kaum jemanden scheint es zu stören. Es ist verdächtig ruhig. Besorgte Bürger schweigen.

Der Kinderpornoskandal im nordrhein-westfälischen Lügde macht dieser Tage immer neue Schlagzeilen. Polizisten, Jugendamt, mehrere Eltern sind offenbar tief verstrickt. Was man mittlerweile weiß: Gegen 15 Beamte der NRW-Polizei wurde wegen Kindesmissbrauchs und Verbreitung von Kinderpornografie in der Vergangenheit ermittelt. Einer von ihnen ist noch im Dienst – genau dort, wo alles auf dem Campingplatz über viele Jahre geschehen konnte. Ein Jugendamt, dass trotz zig Hinweisen nicht ermittelte. Eine Polizei, die weggesehen hat und selbst mehr als ein Dutzend Kinderschänder beschäftigt hat. Sind sie auch in diesen Fall verwickelt? Man kann es nur vermuten. Immerhin verschwand wichtiges Beweismaterial. Und mindestens zwei Eltern sollen ihre Kinder regelrecht zum Missbrauch verkauft haben.

In Würzburg ein weiterer Fall: Am Donnerstag nahm die Polizei zwei Männer fest. Einer arbeitet in einer Kindertagesstätte, der andere ist sein Freund. Der Vorwurf: Sie sollen kleine Kinder vor der Kamera vergewaltigt und das Material im Darknet angeboten haben. Auch hier weiß noch niemand, wie viele Opfer es waren. Und diese Männer sind längst nicht die einzigen Täter im Freistaat Bayern. Vergangenes Jahr ermittelte die Polizei in mehr als 700 weiteren Fällen mit einer unbekannten Zahl von Opfern.

Warum stelle ich die Gewalt der französischen Exekutive jener der hiesigen Kinderschänder gegenüber? Weil es – auch wenn es vielen nicht gefallen mag – Parallelen gibt. Beides ist symptomatisch für die Strukturen unserer Konkurrenzgesellschaft. In Frankreich misshandeln Polizei und Militär unbewaffnete Angehörige ihrer eigenen Klasse im Auftrag der Macht, die sie dafür bezahlt. In Deutschland haben Männer Kinder aus ihrem eigenen Milieu gequält, um dafür von vermutlich besser betuchten Konsumenten bezahlt zu werden. Es geht um Geld. Es geht um Macht. Opfer der Klassenhierarchie werden zu Tätern. Die einen vom Staat in eine Uniform gesteckt, die anderen im Verborgenen. Manche bedienten sogar in beide Rollen.

Ja, es ist in der Psychologie bestens bekannt: Menschen spielen häufig nach, was sie seit ihrer frühesten Kindheit selbst erfahren haben. In der kapitalistischen Hierarchie-Ordnung bedeutet dies für die meisten, zu lernen, ein guter Untertan in Konkurrenz zu anderen Untertanen zu werden. Sei besser als dein Nachbar, lautet die Parole schon in der Grundschule.

Das funktioniert natürlich nicht immer. So sind schon Kinder geplagt von Versagensängsten. Bin ich gut genug für einen guten Job im Hamsterrad? Werde ich mein Leben in dieser Mühle meistern können? Ellenbogen sind das Werkzeug Nummer eins dabei. Mit ihnen kompensieren wir nicht nur allerlei Minderwertigkeitsgefühle, sondern auch Aggressionen, produziert von der Knute der Herrschaft, die zugleich wie ein unsichtbares Damoklesschwert stets über uns schwebt. Wer in dieser Situation steckt und nicht gegen oben aufbegehrt, tritt besonders häufig nach unten.

So gieren Ohnmächtige im hoffnungslosen Kampf gegen ihre eigene Ohnmacht gegenüber der herrschenden Gewalt nicht selten selbst danach, ab und zu den Unterdrücker zu spielen. Viele suchen sich dafür imaginäre Bezugsgruppen mit gemeinsamen Merkmalen aus. Das kann der Fußballclub sein, die Nation, die Polizeieinheit, der Schützenverein, eine Partei. Und sie finden Gruppen ohne diese Merkmale, gegen die sie ihren Zorn und ihre Machtgelüste richten. Mal sind es Menschen mit anderer Hautfarbe oder Religion, mal sind es Arme. Häufiger als gedacht sind es eben auch Kinder und Frauen. Nur eins haben die Opfer alle gemeinsam: Sie sind entweder in der Minderheit, oder sie sind schwächer.

Aber nur selten haben Unterdrückte die gesellschaftlichen Unterdrücker im Visier. Jene, denen die Wirtschaft gehört, an die wir uns verkaufen. Jene, die in deren Auftrag die bewaffneten Staatsorgane dirigieren. Jene, die sich an Kriegsgerät,Umweltzerstörung und unserer Arbeitskraft dumm und dämlich verdienen. Und jene, die jeden von uns mit einem Lächeln in dasselbe Elend stürzen würden, in welchem Milliarden Menschen auf diesem Planeten bereits stecken – Tendenz steigend.

Sicher ist: Eine Gesellschaft aus verrohten, ignoranten Untertanen wird sich niemals ihrer Ketten entledigen. Im Gegenteil, eines Tages werden sie so fest ihre Hälse umschlingen, dass auch die heute noch besser Verdienenden nicht mehr atmen werden können. Es bleibt zu hoffen, dass viele Menschen mit Blick auf ihre Klassengeschwister in Frankreich erkennen, mit welchem Feind sie es in Wahrheit zu tun haben. Und wer ihre wirklichen Verbündeten sind. Mögen Mitgefühl, Solidarität und Widerstandsgeist nicht vollends im Hamsterrad der Konkurrenz ersticken und doch noch über alles Destruktive, über alle Projektionen siegen.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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