Tagesdosis 22.8.2017 – Venezuela: Die Opposition will ein neues Chile (Podcast)

Ein Kommentar von Christiane Reymann.

Schon wieder tauchen die Russen dort auf, wo es brennt: jetzt auch noch in Venezuela. Dessen Regierung von Nicolás Maduro ist mächtig unter Druck, US-Präsident Trump hat sogar mit einer Militärintervention gedroht.

Venezuela ist das Land mit den weltweit größten nachgewiesenen Öl-Reserven. Ein Drittel seiner – verstaatlichten – Fördermenge fließt in die Vereinigten Staaten von Amerika, dafür kommen zurzeit Tag für Tag je 29 Millionen Dollar zurück in die venezolanische Staatskasse. Für den US-Markt decken diese Öl-Lieferungen acht bis zehn Prozent des Bedarfs, für Venezuela, wie gesagt, 30 Prozent der Fördermenge. Dieses Ungleichgewicht macht den Karibikstaat verletzlich, zumal auch lateinamerikanische Staaten wie Argentinien, Brasilien oder Kolumbien ihre Wirtschaftsbeziehungen kappen.

An dieser Stelle tritt Russland auf den Plan in Form von Rosneft,  dem zurzeit größten Erdölproduzenten der Welt. Rosneft ist eine Aktiengesellschaft, 50 Prozent der Anteile hält der russische Staat. Rosneft investiert große Summen in die Modernisierung der veralteten Ölindustrie Venezuelas und kauft selbst Öl. Allein in diesem Monat August soll Rosneft sechs Milliarden Dollar als Vorauszahlung für künftige Öllieferungen überwiesen haben. Dieses Geld braucht die Regierung Maduro dringend, um Schulden zu bedienen und um in der prekären Wirtschaftslage die Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen. Noch vor Russland ist übrigens China der wichtigste Handelspartner Venezuelas. Weder den einen noch den anderen haben die USA gern direkt vor ihrer Haustür.

Am Wochenende hatten sich in Caracas die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition erneut zugespitzt und das us-amerikanische Außenministerium erklärte: “Solange das Maduro-Regime sich wie eine autoritäre Diktatur verhält, sind wir bereit, das volle Gewicht der amerikanischen wirtschaftlichen und diplomatischen Macht einzusetzen, um das venezolanische Volk dabei zu unterstützen, seine Demokratie wiederherzustellen.“

Wenn eine US-Regierung von Hilfe bei der Wiederherstellung von Demokratie spricht, schrillen alle Alarmglocken. Dann liegen Putsch und Krieg zum Regimechange in der Luft wie, um nur eine kleine Auswahl zu nennen, 1955 in Südvietnam, 1960 in Kongo, 1964 in Brasilien, 1967 in Griechenland,1970 in Kambodscha,1973 in Chile, 1980 in der Türkei, 1989 in Panama, 2001 in Afghanistan, 2003 in Irak, 2004 in Haiti, 2009 in Honduras, 2011 in Libyen oder 2013 in der Ukraine. Die Gefahr für die demokratisch gewählte Regierung Venezuelas ist also groß – wobei nicht unbedingt die Armee putschen muss. Das war die US-Strategie der 1960’er, 70’er Jahre, als US-geschulte Militärs im Verein mit der United-Fruits-Company oder den Kupfermagnaten oder schlicht dem militärisch-industriellen Komplex blutig, grausam, hasserfüllt wüteten. Inbild dafür bleibt der Sturz des demokratisch gewählten und sozialistisch orientierten Präsidenten Salvador Allende in Chile.

Damals trugen die Putschisten Uniform und Springerstiefel, heute tragen sie maßgeschneiderte Zweireiher, sind Parlamentarier, Banker, gern auch Verfassungsrichter, lieber noch Verfassungsrichterin. Statt direkt zu intervenieren – das tun sie immer noch! – heizen die USA heute bevorzugt Bürgerkriege an. Das ist billiger, kostet kaum eigenen Soldaten das Leben und lässt sich besser als Kampf einer wie immer gearteten „Opposition“ gegen einen als „Diktator“ stigmatisierten Machthaber verkaufen.

Ist Venezuelas Präsident Maduro ein solcher Diktator? Unter seinem Vorgänger, dem linken Präsidenten Hugo Chaves, hatte Venezuela begonnen, seine natürlichen Reichtümer für sich zu beanspruchen. Dazu gehören neben Öl auch Erze, Mineralien oder Wasser. Zusammen mit einigen karibischen Inselstaaten, mit Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua, Argentinien und Brasilien hatte Venezuela den Wirtschaftszusammenschluss ALBA gegründet. Die Bolivarische Allianz der Völker Lateinamerikas sollte eine von den USA und Europa unabhängige und eigenständige Entwicklung fördern. Argentinien und Brasilien sind inzwischen aus ALBA ausgeschert, in den zwei Ländern haben kriminelle Banden die Macht usurpiert. Das hat das Kräfteverhältnis in Lateinamerika gravierend verändert – und Venezuela tendenziell politisch isoliert.

Dabei hat Venezuela seit 1998, dem ersten Jahr seiner Linksregierung, viel erreicht: Es ist eines der ganz wenigen Länder, die das Milleniumsziel der Vereinten Nationen erfüllt und die Armut halbiert hat. Deutliche Fortschritte gab es in der medizinischen Breitenversorgung oder beim Zugang von Armen zu Schule und Universität. Noch im Human Development Report der Vereinten Nationen zum Jahr 2016 rangiert Venezuela im lateinamerikanischen Vergleich bezüglich der Lebensqualität der Bevölkerung vor Ländern wie Mexiko, Brasilien, Peru und Kolumbien.

Kaum bekannt, aber spektakulär: Millionen Venezolaner hatten das Wahlrecht erhalten. 1998 durften nur elf Millionen Menschen wählen, heute sind 19,5 Millionen. Nicht die Bevölkerung ist um 77 Prozent gewachsen; so viel mehr Menschen wurden als Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen, anerkannt und registriert. Das hat etwas mit Respekt zu tun.

Man muss nicht alle Maßnahmen der Maduro-Regierung teilen oder gar gutheißen. Aber sie wirbt für einen Dialog von Regierung und Opposition und sucht dafür internationale Unterstützung. Die Opposition hingegen zeigt sich als unwillig zum Dialog. Sie will ein zweites Chile. Mit solchen Kräften muss man sich ja nicht gemein machen.

Hinweis der KenFM-Redaktion: Am nächsten Mittwoch, den 30. August wird in der neuen Ausgabe von “Der Rote Tisch” der politische Status Quo in den Ländern Lateinamerikas zwischen Pedram Shahyar und dem Lateinamerika-Experten Harald Neuber, analysiert.

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