Tagesdosis 21.1.2019 – Arme haben freie Wahl: Hamsterrad oder Hungerstrafe (Podcast)

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Mit leistungslosen Einkommen hat die politische Klasse in Deutschland kein Problem. Diese betrugen laut Sachverständigenrat der Deutschen Wirtschaft bereits vor zehn Jahren mehr als eine halbe Billion Euro pro Jahr – Tendenz steigend. Mehr als ein Drittel jedes Kaufpreises einer jeden Ware geht für die Dividenden, Pachten und Zinsen der Reichen drauf. Mit großzügigen Aufträgen für Rüstungs- und Luxusprojekte wirft die Politik ihrer Klientel die Moneten in den Rachen. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall etwa kassiert jährlich sieben- bis achtstellige Summen für den Betrieb des Gefechtsübungszentrums Altmark in Sachsen-Anhalt, inklusive der Kriegsübungsstadt „Schnöggersburg“. Milliardengräber wie Stuttgart 21 und die Endlos-Flughafen-Baustelle BER lassen grüßen. Bei Cum-ex-Geschäften sieht die Politik weg. Milliarden sickern jährlich in einen monströsen Überwachungsapparat und in Subventionstöpfe der Großkonzerne.

Ganz anders geht das Machtinstrument der herrschenden Klasse namens Staat mit den Lohnabhängigen und soloselbständigen Überlebenskünstlern um. Wer nicht reich genug ist, um andere für sich arbeiten zu lassen, hat nur ein Recht: Er muss tagein, tagaus im Hamsterrad laufen, um die Kapitalmaschine am Rotieren zu halten. Wer aus der Tretmühle fällt, hat unter Androhung der Existenzvernichtung alles zu tun, um in ihr wieder Fuß zu fassen. Zu jedweden Bedingungen, versteht sich. Oberstes Ziel auf dem begrenzten Planeten ist ewiges Wirtschaftswachstum. Profite müssen in die Taschen der Kapitaleigner sprudeln, koste es, was es wolle. Die aus der Profitmaschine Outgesourcten haben gefälligst untertänig zu kriechen. Ansprüche stellen dürfen sie nicht. Man gönnt ihnen nicht den Brotkanten und das Dach über dem Kopf.

So ging es letzten Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe um die Frage: Wie hoch ist eigentlich das Minimum vom Minimum für die pure Existenz der Armen? Und: Kann ein Sklave im spätkapitalistischen Arbeitslager seine Existenz verwirken? Kann er, nämlich dann, wenn er sich nicht vollständig in dieses integriert. Anders kann man die Stellungnahme von Ulrich Karpenstein nicht verstehen. Karpenstein gehört der von der Bundesregierung beauftragten Anwaltskanzlei „Redeker Sellner Dahs“ an.

In Karlsruhe verhandelten die Verfassungsrichter eine Beschlussvorlage des Sozialgerichts Gotha. Nach dessen Ansicht verstoßen Hartz-IV-Sanktionen gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl. Wie die Bundesregierung hatten die Karlsruher Richter in zwei Urteilen 2010 und 2014 die Hartz-IV-Sätze als physisches und soziokulturelles Existenzminimum definiert.

Jedes Kind weiß: Ein Existenzminimum ist das mindeste, was ein Mensch zum Leben braucht. Denn er muss essen, trinken und sich vor der Kälte schützen können. Dafür braucht  er Geld. Jedem inhaftierten Schwerverbrecher stehen in Deutschland diese Grundbedürfnisse zu. 

Für Hartz-IV-Bezieher und übrigens auch Asylbewerber gilt das nicht. Beiden Gruppen kann der Staat dieses Minimum kürzen, Asylbewerbern sogar dauerhaft um gut ein Drittel, Hartz-IV-Beziehern für drei Monate um 30, 60 oder gar 100 Prozent, einschließlich Miete. Unter 25jährigen wird schon beim ersten „Vergehen“ der Regelsatz komplett gestrichen, beim zweiten auch die Wohnkosten. Dafür genügt es, wenn sie zu wenige Bewerbungen nachweisen können, ein Stellenangebot, ein Praktikum oder eine Maßnahme ablehnen oder schlicht den wohnortnahen Bereich verlassen, ohne sich beim Jobcenter oder Ausländeramt abzumelden.

Das Budget für Hartz-IV-Bezieher ist knapp bemessen. 424 Euro erhalten Alleinstehende seit Januar, Kleinkindern wird, inklusive Kindergeld, 245 Euro zugestanden. Dafür legte die Bundesregierung die Ausgaben für die ärmsten 15 Prozent der Haushalte zugrunde – mit allerlei Abzügen, etwa für Bücher, Stifte, den Weihnachtsbaum und Bier.

Flüchtlinge bekommen, abhängig vom Alter, mit 215 bis 354 Euro noch weniger. Rechte Propagandisten predigen stets das Gegenteil. Doch hohe Summen auf Bescheiden für Flüchtlinge enthalten auch die Unterbringungskosten. Und hierfür kassieren ausschließlich die Betreiber ab – und das nicht zu knapp. 

2017 verhängten Jobcenter laut Bundesagentur für Arbeit allein 953.000 Sanktionen gegen 420.000 Hartz-IV-Bezieher. Betroffen war damit jeder zehnte „erwerbsfähige Hilfebedürftige“, und dies teils doppelt und dreifach. Im Schnitt erhielt jeder Sanktionierte 2,3 solcher Strafen, das entspricht einer Kürzungsdauer von sieben Monaten. Zehntausende darunter sanktionierten die Ämter auf null.

Regierungsjurist Karpenstein erklärte den Verfassungsrichtern das Paradoxon vom bis auf null minimierten Minimum recht abenteuerlich: Der bedürftige Mensch müsse seinen Anspruch auf die Menschenwürde durch eigene Mitwirkung erst verdienen. Wenn also der Staat ihm dazu Pflichten auferlegt, sei dies „Ausgestaltung dieses Grundrechts“, nicht etwa ein Eingriff in selbiges.Somit füge nicht der Staat dem Bedürftigen die Gefährdung seiner Existenz zu, sondern der Bedürftige sich selbst, fabulierte Karpenstein.

Verfassungsrichterin und Berichterstatterin Susanne Baer wollte wissen: Stelle der Regierungsanwalt damit etwa die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt? Müsse der Mensch sich diese erst durch Leistung verdienen? Richter Andreas Paulus fragte, wo denn nun das unerlässliche Minimum liege. „In der Verhältnismäßigkeit“, antwortete Karpenstein. Mit welchem Ziel?, so die Nachfrage. Antwort: Die Integration in den Arbeitsmarkt. Der Deal lautet also: Existenzrecht gegen untertänige Integration in den Markt. Andernfalls drohen Obdachlosigkeit und Hunger. Bettelei und Kleinkriminalität sind vorprogrammiert.

Die Bundesregierung berief sich auch auf ersatzweise „Sachleistungen“. Doch die Perversion lauert im Detail: Erstens gibt es lediglich Lebensmittelgutscheine als solche. Davon können weder Miete noch Strom oder Kleidung bezahlt werden. Ein Mensch benötigt aber mehr als Essen. Zweitens müssen die Gutscheine umständlich beantragt werden. Drittens handelt es sich um Kann-Leistungen. Der Sachbearbeiter kann sie auch verwehren. Viertens nehmen viele Supermärkte diese Scheine gar nicht an. Fünftens beträgt ihr Wert maximal die Hälfte der Regelleistung ohne Miete. Und sechstens gewähren Jobcenter die Gutscheine als Darlehen. Bedürftige müssen ihren Wert nach Ende der Sanktion an die Behörde zurückzahlen. 

Während das Karlsruher Urteil nun auf sich warten lässt, geißelte FDP-Chef Christian Lindner vorige Woche bei Maischberger das „Faulheitsverbrechen“ und empörte sich über Hartz-IV-Bezieher. Die Leute müssten schon tun, was von ihnen verlangt werde, trötete er. Denn das Leben sei schließlich „kein Wunschkonzert“.

Aus Lindners Mund klingt das besonders dreist. Als Mittzwanziger hatte er eine Firmenpleite hingelegt und damit 1,4 Millionen Euro Fördermittel aus dem Steuersäckel versenkt. Er kam ungeschoren davon. Seit dem Jahr 2000 lebt der gerade 40 Jahre alt Gewordene komplett auf Steuerzahlers Kosten und das nicht schlecht. 14 Jahre im nordrhein-westfälischen Landtag und fünf Jahre im Bundestag brachten ihm mindestens 2,3 Millionen Euro Diäten. Macht insgesamt 3,7 Millionen Euro – wie gesagt: mindestens.

Zum Vergleich: Nehmen wir an, ein Mann geht zeitlebens keiner Lohnerwerbstätigkeit nach. Von Geburt an bis zu seinem Tod mit 80 Jahren lebt er von Hartz IV unter heutigen Gegebenheiten. Bis zum 18. Geburtstag bekäme er also – hoch gerechnet – 100 Euro Sozialgeld zum Kindergeld dazu. Später erhielte er bis zum Tod 400 Euro für die Miete und 400 Euro zum Leben, zuerst Hartz IV, dann Sozialhilfe im Alter. Rechnen wir noch 100 Euro Krankenversicherung pro Monat dazu und meinetwegen eine teure Extra-Operation. Im allerbesten Fall käme er damit auf maximal 700.000 Euro vom Staat – von der Wiege bis zur Bahre. Das ist weniger als ein Fünftel von dem, was der 40jährige Lindner schon jetzt an Steuermitteln verprasst hat.

Und der FDP-Chef ist nicht der einzige, der es so hält. Die Frage, ob es für die Gesellschaft nützlicher wäre, würde man ihm und seinesgleichen die Hetze gegen die „Unterschicht“ und vulgär-ökonomische Loblieder auf den „heiligen Markt“ verbieten und sie alle auf Hartz IV setzen, darf sich jeder selbst beantworten.

Wahr ist: Die Faulheitsdebatte, die CDU und CSU, FDP, SPD und AfD im Bundestag immer wieder aufs Neue anfeuern, ist in unserer hochtechnisierten und digitalisierten Welt nichts weiter als eine Schimäre der Herrschenden. Die teilen so die Lohnsklaven in soziale, kulturelle und ethnische Gruppen ein, um sie gegeneinander auszuspielen. Sie wissen: Unglückliche Hamsterrad-Treter brauchen ein Frust-Ventil. So können die Reichen wunderbar von ihrem eigenen Schmarotzen und Kriegstreiben ablenken.

Wahr ist auch: Lohnarbeit ist nicht gleich Arbeit. Die meiste Arbeit, die Menschen erledigen, um zu leben, sich zu reproduzieren, wird nämlich nicht bezahlt. Stichworte: Familien- und Hausarbeit, Pflege von Angehörigen, Erziehung von Kindern, Nachbarschaftshilfe, das Ehrenamt im Hospiz und vieles mehr. Doch um diese Arbeit geht es in der Faulheitsdebatte nicht. Da geht es nur um eins: Lohnarbeit.

Lohnarbeit ist an einen Kapitaleigentümer verkaufte Arbeitskraft. Wer kein verwertbares Kapital besitzt, dem bleibt nichts anderes übrig. Und produziert wird im Kapitalismus nicht etwa wegen irgendeines Bedarfs, sondern nur aus einem einzigen Grund: Die gekaufte Arbeitskraft muss Maximalprofit abwerfen. Es ist egal, ob Brot oder Autos, Panzer oder Waffen vom Band rollen. Die Profitmaschine muss laufen. In diese zwingt der Staat als Instrument der Profiteure die Mittellosen unter Androhung der Vernichtung. So wächst zugleich der Niedriglohnsektor. Noch-Job-Besitzer werden erpressbar und rechtloser. Hartz-IV-Sanktionen sind Maulkorb und Angstmaschine für alle Lohnabhängigen und eine Art Todesstrafe durch die Hintertür.

Fakt ist: Wem das Minimum verwehrt wird, muss es sich anders besorgen, um zu überleben. Und: Sehr viele Jobs im spätkapitalistischen Arbeitslager sind überflüssig bis schädlich für Planet und Gesellschaft. Viele Menschen, darunter FDP-Chef Lindner, würden weitaus weniger Schaden anrichten, wenn sie schlicht nichts täten – und vor allem einfach mal ihre Klappe hielten.

Mit besten Grüßen an die Parteilobbyisten in roter Robe im Bundesverfassungsgericht

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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