Tagesdosis 20.8.2018 – Hallo Andrea Nahles…(Podcast)

Ein Kommentar von Susan Bonath.

…als ich am Samstag las, wie du als nun SPD-Vorsitzende durch die Medien trötetest, man müsse die Hartz-IV-Sanktionen gegen Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren abschaffen, musste ich zunächst an Manuel denken.

Es ist wohl fünf Jahre her, als ich den damals schmächtigen 20jährigen traf. Manuel wollte sterben. Von einer Brücke springen, oder von einem Hochhaus, sagte er. Denn das Jobcenter hatte ihm seine gesamten Bezüge gestrichen. Weil er zum zweiten Mal weniger als die zehn geforderten Bewerbungen nachweisen konnte. Sein Vermieter wollte ihm die Wohnung kündigen. Eine heruntergekommene Obdachlosenunterkunft kam für ihn nicht in Frage. Schon einmal war er aus einer solchen abgehauen, auf die Straße, unter die Brücke, viel Alkohol, viele Drogen. Mit 16 Jahren hatte ihn ein Kinderheim in eine solche verfrachtet. Weil er sich nicht an einige Auflagen des Jugendamtes gehalten hatte. Dank einer engagierten Sozialarbeiterin hatte Manuel gerade erst neu versucht, auf eigenen Beinen zu stehen. Ohne Eltern, die ihm unter die Arme griffen. Und nun das: Totalsanktion. Er sammelte Flaschen, um an Essen zu gelangen.

Nun, Andrea, du kennst natürlich Manuel und all die anderen in seiner Lage nicht. Manuel spielt in deiner Welt keine Rolle. Er ist dir völlig egal. Sei erinnert: Deine Partei, die SPD, hatte 2005 zusammen mit den Grünen auf Druck der Wirtschaftslobby, der Union und der FDP das Gesetz mit dem Namen des Schwerkriminellen Peter Hartz eingeführt. 2007 hatte dein Parteikollege Franz Müntefering –  du erinnerst dich doch, wie er herumposaunt hatte, dass nicht essen solle, wer nicht arbeitet – gemeinsam mit CDU und CSU die Sanktionen gegen 15- bis 24jährige derart verschärft, dass schon beim ersten Auflagenverstoß die Leistung für drei Monate wegfällt. Wenn wir von »Leistung« sprechen, reden wir von einem so klein gerechneten Existenzminimum, das nach Abzug von Strom, Telefon und Versicherungen kaum was bleibt.

Und dann, 2013, kamst du. Unzählige Male teilten mir deine Pressesprecher im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in den vier darauf folgenden Jahren deiner Zeit als Arbeitsministerin lapidar mit, dass Sanktionen gegen Erwerbslose, ob jünger oder älter, unbedingt notwendig seien. Um sie zu erziehen, zur Arbeit zu »motivieren« – und so. Ihr nanntet es »Fordern und Fördern«. Ich nenne es, freilich ohne es je in meinen Anfragen verschriftlicht zu haben, Erpressung zu billiger Zwangsarbeit nach dem Motto: Entweder gehorchen oder Hunger und Brückenplatz. Du weißt ja: Hartz-IV-Beziehern müssen Kapitalisten im ersten halben Jahr der Arbeitsaufnahme noch nicht einmal den Mindestlohn zahlen. Habt ihr selbst so geregelt. Und ihr findet ja auch, dass so gut wie jeder Job zumutbar sei. Das galt sogar für Zwangsarbeit im Bordell. Bis ein Gericht einem Jobcenter Einhalt gebot, das eine Frau wegen Ablehnung solcher »Arbeit« sanktioniert hatte.

Ich erinnere mich noch gut an die jährlichen Debatten im Parlament, wenn die Linkspartei die Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen beantragt hatte. Vehement verteidigt habt ihr diese, selbst, als der DGB sie letztes Jahr scharf gerügt hatte. Der kritisierte nämlich in einer Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht, dass ihr selbst Mördern im Knast Essen und Obdach nicht entzieht – wegen Menschlichkeit und so. Bei Hartz-IV-Beziehern tut ihr das hingegen schon – selbst wenn sie nur eine Maßnahme für Dumme ablehnen, in denen sie so Dinge wie Vogelhäuschen bauen oder Supermarkt spielen sollen.

Und Andrea, erinnerst du dich noch an den 7. Februar 2017? An diesem Tag legte der Wissenschaftliche Dienst eures Bundestages eine ernüchternde Dokumentation zu den Auswirkungen der Hartz-IV-Strafen vor. Nämlich, dass sie »zu einer mangelhaften Ernährung«, »Schuldgefühlen«, »psychischen Störungen«, »Einsparungen beim Arzt und bei Medikamenten« und »Verstärkung bereits bestehender Existenzangst« führten, und das insbesondere bei jungen Menschen. Eigentlich krass, dass es dazu einer Studie bedurfte.

Ich erinnere mich jedenfalls noch gut an die Antwort deines Ministeriums, oder besser: an die Textbausteine, die ihr mir auf meine Anfrage übermittelt habt. Wie immer deklarierten deine Pressesprecher die Kürzungen des Existenzminimums nicht straffälliger Menschen als unbedingt nötig. Sie fabulierten von Sachleistungen, die Betroffene beantragen könnten. Also Lebensmittelgutscheine im maximalen Wert von rund 200 Euro für einen Erwachsenen. Mal im Klartext: Jemand, der seine Miete nicht mehr zahlen kann, darf bei Aldi was zu Beißen erwerben, das er dann unter der Brücke verzehren kann – Kochen kann er dort ja nicht. Und wenn er nicht in euren Behörden betteln will oder der Sachbearbeiter ihn nicht leiden kann, gibt’s halt gar nichts.

Ja klar, die Strafen sind notwendig für gehorsame Arbeitssklaven. So als wäre es nützlicher für die Gesellschaft, als Kapitalist in Rüstungsgeschäfte zu investieren, auf Lebensmittel zu spekulieren, oder als Lohnarbeiter bei Rheinmetall zu Kriegsgerät zu produzieren. Oder als Soldat der deutschen Wirtschaft beim Ressourcenraub und Massenmord zu helfen. Und ja, ihr gebt damit auch jedem Arbeiter mit Billigjob ein tolles Gefühl. Der braucht sich jetzt keine Gedanken mehr darum zu machen, ob er mal seinen Chef wegen einer Lohnerhöhung fragen könnte. Fresse halten oder Hartz IV ist heute angesagt.

Andrea, du willst jetzt nicht etwa weismachen, dass du und deine Parteikollegen nicht wussten, dass Hartz IV dazu dienen sollte, die gesamten Löhne in Deutschland zu drücken, um die Profitrate der Unternehmer im globalen Wettbewerb kurzfristig zu erhöhen? Euer Ex-Bundeskanzler, der Gerhard Schröder, hatte doch ganz offiziell schon 2003 in Davos herumgetönt, dass man einen riesigen Niedriglohnsektor schaffen wollte – unter lautem Jubel steinreicher Wirtschaftsbosse, versteht sich.

Die Arbeiter, so Schröder und seine Auftraggeber, sollten den Gürtel gefälligt enger schnallen. Wegen der Profite im globalen Wettbewerb inmitten drohender Krisen, und so. Immerhin war einigen von euch wohl klar, dass letztere im Spätkapitalismus unabwendbar sind und immer brachialer auf die armen Schlucker einprasseln. Da dachtet ihr euch wohl: Lieber gleich ein paar Kollateralschäden. Bisschen blöd, dass die Brückenplätze für die Opfer langsam knapp werden. Und dass die nächste Krise schon im Anmarsch ist.

Ach Andrea, du Ätschibätschi der Verräter der arbeitenden Klasse, du hast doch wohl auch nicht vergessen, dass ihr noch immer mit CDU und CSU in der Regierung sitzt? Gerade erst habt ihr Billigzwangsarbeit unter dem verwirrenden Begriff »sozialer Arbeitsmarkt« auf den Weg gebracht. Und bei allen Debatten, wo deine Parteigenossen unisono mit der Union, der FDP und der AfD für schwarze Pädagogik mittels Hungerstrafen für Erwerbslose tönen, bist du doch dabei? Oder schwänzt du etwa regelmäßig die Sitzungen?

Und das fieseste an allem ist ja, dass ihr mit diesen Sanktionen gemeinsam mit Schwarz-gelb-blau suggeriert, den Flüchtlingen gehe es doch so viel besser. Du weißt ja, Andrea, dass das gelogen ist. Nicht nur, dass die Asylbewerberleistungen geringer als Hartz IV sind und genauso sanktioniert werden können – bei Ungehorsam gegenüber der herrschenden Klasse, versteht sich. Auch ein Viertel aller jährlich verhängten fast eine Million Hartz-IV-Kürzungen trifft Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund. Warum sind denn so viele aus dieser Gruppe auf diese Leistungen angewiesen? Weil sie auf eurem so geheiligten Markt kaum eine Chance haben, ihre Arbeitskraft für ausreichenden Lohn zu verkaufen.

Andrea, gib doch einfach zu, dass du nur mal auf den Putz hauen wolltest gegenüber dem Viertel der hiesigen Bevölkerung, das schon mal von Hartz IV leben musste. Vor allem gegenüber den Jugendlichen, denen du, deine Partei und euer kalter bürokratischer Apparat die Zukunft versaut habt. Weil sie keine wohlhabenden Eltern hatten, die sie auffangen konnten. Die vielleicht wie Manuel an Selbstmord dachten, weil sie keinen Ausweg mehr sahen. Sag doch einfach die Wahrheit, dass du ein Büttel der Wirtschafts- und Finanzeliten bist, für die du gerne die Kinder der Armen opferst. Und du glaubst doch nicht im Ernst, dass Schwarz-gelb-blau auch nur irgendein Zugeständnis an diese Klientel ohne jegliche Privilegien machen wird? Nein, du weißt ganz genau, dass eure Auftraggeber nicht die Absicht haben, menschlich zu handeln. Und vor allem weißt du, dass du scheinheilig lügst.

Nicht sehr freundliche Grüße,

Susan Bonath

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