Tagesdosis 20.4.2018 – Das Derivate-Casino: Zocken bis zum bitteren Ende

Ein Kommentar von Ernst Wolff.

Zweimal stand das globale Finanzsystem bereits kurz vor dem Zusammenbruch: Zum ersten Mal nach der Zahlungsunfähigkeit des US-Hedgefonds Long Term Capital Management im Jahr 1998 und zum zweiten Mal nach dem Bankrott mehrerer Großbanken im Gefolge der Subprime-Hypothekenkrise 2007/2008. Beide Male waren es vor allem Derivate, die die Krise auslösten.

Trotz der offensichtlichen Gefahr, die diese Finanzprodukte für die gesamte Welt bedeuten, wurde bis heute so gut wie nichts zu ihrer Eindämmung unternommen. Ihr Umfang wird gegenwärtig auf zwischen 500 Billionen und 1,5 Billiarden US-Dollar geschätzt. Zum Vergleich: Das globale Bruttosozialprodukt (die Summe aller weltweit in einem Jahr produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen) betrug vergangenes Jahr weniger als 80 Billionen US-Dollar.

Die Finanzbranche gibt sich seit Jahren alle Mühe, die Wirkungsweise von Derivaten und die von ihnen ausgehenden Gefahren zu verschleiern. Um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, hier der Versuch einer Erklärung für alle diejenigen, denen die Fachsprache der Finanzwelt ein Buch mit sieben Siegeln ist:

Die Geschäftswelt als Großmarkt

Man stelle sich die Geschäftswelt als einen Großmarkt vor, auf dem Bauern regelmäßig ihre Waren anbieten. Zwischenhändler kaufen diese Waren und verkaufen sie anschließend an Einzelhändler. Alle brauchen für ihr Gewerbe Geld, und aus diesem Grund hat sich neben dem Großmarkt eine Bank etabliert, die an alle Beteiligten Kredite vergibt.

Die Geschäfte laufen gut, doch irgendwann verfügen die Bauern über genügend Felder, die Zwischenhändler über eine ausreichende Menge an LKW und die Einzelhändler über gut ausgestattete Läden. Die Folge: Das Geschäft der Bank – die Kreditvergabe – gerät ins Stocken.

Was tun? Nach einigem Überlegen kommt die Bank auf eine Idee: Sie eröffnet auf dem Großmarkt einen Stand, auf dem sie Wetten anbietet. Das Konzept schlägt ein. Bauern und Händler versprechen sich eine zusätzliche Einkommensquelle und suchen den Stand in immer größeren Zahlen auf.

Die Bank reagiert, indem sie das Wettgeschäft kontinuierlich ausweitet. Zunächst kann darauf gewettet werden, wer an einem Wochenende wie viel verkauft, dann darauf, wessen Obst demnächst zu welchem Preis vertrieben wird, schließlich sogar, wie viele Apfelkerne sich in einzelnen Äpfeln bestimmter Sorten befinden.

Wetten um jeden Preis

Die Folge: Einige Bauern und Händler beginnen, ihr eigenes Geschäft zu vernachlässigen und als Profis ins Wettgeschäft einzusteigen. Die besten unter ihnen beherrschen das neue Metier schon bald so gut, dass sie nicht nur ihr eigenes Geld, sondern immer höhere Summen geliehenen Geldes einsetzen. Die Bank und die übrigen Gläubiger jubeln – so lange jedenfalls, bis sich ein großer Wett-Teilnehmer und damit einer ihrer größten Schuldner verzockt. Plötzlich stehen gewaltige Beträge aus – und das ganze Wettgeschäft droht in sich zusammenzubrechen.

Das aber möchten weder die Bank noch die Gläubiger. Da alle Beteiligten auf weitere hohe Gewinne hoffen, tun sie sich zusammen, nehmen erhebliche, aber verkraftbare Verluste hin und erhalten so das Wettgeschäft am Leben.

Das Casino dreht sich weiter, die Einsätze schießen erneut in die Höhe, es werden atemberaubende Gewinne gemacht  – bis sich eines Tages mehrere große Wettparteien in ganz großem Stil verzocken. Diesmal sind die ausstehenden Summen so gewaltig, dass weder die Bank noch die übrigen Gläubiger die Verluste verkraften können.

Die Aufregung ist groß, alles scheint verloren – da kommt die Bank auf eine neue Idee: unbegrenzt zusätzliches Geld zu drucken und es zur Belebung des Geschäftes zu immer niedrigeren Zinsen zu vergeben.

Kurzfristige Gewinne für langfristigen Bankrott

Allen Beteiligten ist klar, dass diese Lösung langfristig zur Entwertung des Geldes und schlussendlich zum Zusammenbruch des Systems führen wird. Das aber verdrängen sie, da sie inzwischen unter einem ganz anderen Problem leiden: Sie haben ihr Grundgeschäft wegen der Wetten so stark vernachlässigt, dass sich dort nicht einmal annähernd so viel verdienen lässt wie im Wettcasino.

Also erklären sie sich samt und sonders mit dem Vorschlag der Bank einverstanden und machen blindlings weiter, als sei nichts geschehen…

Zurück zur realen Welt: Die Anfangszeit, in der die Kreditvergabe gut lief, war die des Nachkriegsbooms von 1948 bis in die Mitte der Siebziger Jahre. Das anschließende Wettcasino entstand in der Zeit der Deregulierung des globalen Finanzsystems zwischen der Mitte der Siebziger und der Mitte der Neunziger Jahre.

Der erste Zusammenbruch war der von 1998, der zweite der von 2008. Die Situation am Ende unserer Großmarkt-Geschichte entspricht der Gegenwart: Wir bewegen uns auf einen Zusammenbruch des Wettcasinos zu, der absolut unvermeidlich ist, den die Teilnehmer aber ausblenden, da sie alle nur ein Ziel haben: Das System – ohne Rücksicht auf zukünftige Generationen – nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ bis zum letzten Atemzug zum eigenen Vorteil auszupressen.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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