Ein Kommentar von Susan Bonath.
In den 1950er Jahren ward ein Märchen geboren. Das geht so: Arbeiter und Konzerneigentümer könnten ganz friedlich koexistieren. Erstere müssten nur mit letzteren verhandeln. Um höhere Löhne, mehr Arbeitsrechte, wie Urlaub und Krankengeld. Tarifvertrag, hieß das Zauberwort. Um Deutschland wieder aufzubauen zur stärksten Wirtschaftsmacht Europas, spielten Unternehmer und Staat gerne mit. Der Mythos von der »sozialen Marktwirtschaft« verankerte sich in den Köpfen. Bis heute glaubt der »kleine Mann« nur allzu gern daran. Doch die Realität ist anders: Demokratie endet nicht nur am Eingang der Arbeitsagenturen und Jobcenter, sondern auch an jedem Werkstor. Heute wie vor 100 Jahren ist der Arbeiter ein Produktionsfaktor. Der hat nur eins zu tun: Profite auf die Konten der Herrschenden zu spülen.
Nirgends zeigt sich der Klassencharakter der Gesellschaft so deutlich wie beim Streik. Aktuell zum Beispiel beim Automobilzulieferer »Neue Halberg Guss«. Ein harter Preiskampf hat die Eigner dazu bewogen, den Standort Leipzig zu schließen – das Aus für 700 Jobs, die Familien ernährt haben. Auch in Saarbrücken will das Unternehmen 300 Stellen streichen. Die Leute wissen: Wer erwerbslos ist, hat in Deutschland nichts zu lachen. Seit fast drei Wochen befinden sie sich im Streik. Tagelang hatten sie die Zufahrt zum Betrieb in Leipzig blockiert. Fertige Teile konnten nicht ausgeliefert werden. Andere Unternehmen klagten über Engpässe. Doch Drohungen von Polizei und Geschäftsführung ließen die Arbeiter zurückweichen.
Der Streik geht trotzdem weiter. Aber geht er weit genug? Die bald Erwerbslosen fordern, was nach ihrer Ansicht überhaupt noch geht: Ein Sozialplan soll her. Und die Unternehmer sollen ihnen Abfindungen zahlen. Doch was passiert, wenn der eine oder andere binnen zwölf Monaten keinen neuen Job findet? Zum Beispiel der 52jährige, dessen Frau im Minijob dazuverdient und der es schon ein wenig an den Bandscheiben hat. Er müsste dann im Jobcenter antanzen. Nur bekommen wird er nichts. Man wird ihm sagen: »He, sie haben doch 20.000 Euro Abfindung bekommen, essen Sie die erst mal auf Sozialhilfeniveau auf.« Er hat sie ausgegeben für neue Möbel oder einen kleinen Urlaub? Pech gehabt.
Und wenn der Arbeiter der Behörde von dem Geld einfach nichts erzählt? Schließlich hat er es für jahrelanges Schuften erhalten. Dann könnte es ihm noch mehr an den Kragen gehen, falls es rauskommt. Das Amt wird ihn verfolgen. Tatvorwurf: »Sozialwidriges Verhalten«. So steht es im Gesetz. So geht Enteignung. Man dürfe doch den Steuerzahler nicht zu sehr belasten, heißt es. Welch eine Ironie des Schicksals. Hat er doch jahrelang selbst Lohnsteuer zusätzlich zur allgegenwärtigen Mehrwertsteuer abgeführt und vielleicht einst genauso gedacht.
Doch ob ohne oder mit Abfindung: Bietet sich kein auskömmlicher Ersatzjob an, wird der Betroffene jede Arbeit zu jedem Lohn, selbst zu miesesten Konditionen und zum weiteren Schaden seiner Bandscheiben, annehmen müssen. Dafür werden Arbeitsagentur und Jobcenter schon sorgen. Erstere drangsaliert jene, die eine Stelle aus welchem Grund auch immer ablehnen, mit Sperrzeiten. Jeder Zehnte Arbeitslosengeld-I-Bezieher ist aktuell davon betroffen, wie aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht. Und letztere tun selbiges mit harten Strafen bis hin zur Totalsanktion.
Kurzum: Wer nicht seine Haut für jeden Preis und immer zugunsten irgendeines Kapitalisten vermarktet, muss damit rechnen, seine gesamte Lebensgrundlage zu verlieren. Gemeint sind die elementarsten Bedürfnisse: Essen, Trinken, Obdach. Die Drohung, die so am Ende jedem Arbeiter im Nacken lauert, heißt Existenzvernichtung. Die Opfer können in immer größeren Massen unter Brücken und an Bahnhöfen der Großstädte gesichtet werden.
Dessen ungeachtet geht die Mär von der sozialen Marktwirtschaft wie folgt weiter: Der Staat sei irgendwie zu unser aller Gunsten da. Daran glauben nicht nur Rechtsaußen-Apologeten, sondern sogar selbsterklärte Linke. Könnte es daran liegen, dass die ganz unabhängig von irgendeiner Leistung immer reicher werdenden Profiteure der bürgerlichen Ordnung und ihre Gesetz-Absegner aus der Politik sich selbst als »alle« begreifen und im Rest der Bevölkerung schlicht Produktionsfaktoren sehen?
Egal: Der gebeutelte Arbeiter tritt im Hamsterrad und zwischendurch ganz gerne mal nach unten. Alle vier Jahre wählt er seine Peiniger. Die sorgen schließlich Hand in Hand mit den Konzernen dafür, dass in hiesigen Supermärkten die billigen Kolonialwaren nicht ausgehen. Und sie passen auf, dass die Ausbeutung im eigenen Land bestens funktioniert.
Nehmen wir nur mal die jüngste Abstimmung zu jenem repressiven Unterdrückungsinstrument, das neun Millionen Menschen – Tendenz steigend – in den Niedriglohnsektor gezwungen, Obdachlosenunterkünfte gefüllt und Tafeln einen Boom beschert hat: Die Hartz-IV-Sanktionen. Am vergangenen Donnerstag stimmten CDU und CSU, SPD und FDP, AfD und deren ehemalige, nun fraktionslose Mitglieder geschlossen für Hartz IV und das integrierte Strafsystem, das 2017 fast eine Million mal 420.000 Leistungsbezieher ereilt hatte.
Das, liebe Arbeiter von Halberg Guss und überall, ist Klassenkampf von oben. Der betrifft euch, ganz konkret. Und so, wie die Polizei eure Blockade geräumt hätte, wärt ihr nicht freiwillig gegangen, wird sie auch alle anderen Gesetze gegen euch durchsetzen. Doch ihr zeigt immer wieder: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.
Nun wäre es an der Zeit, über weitergehende Ziele von Streiks nachzudenken. Höhere Abfindungen und Sozialpläne dürften einigen wenigen über den Berg helfen. Andere werden nichts davon haben. Das wird solange andauern, bis die Streiks nicht nur größer und branchenübergreifend, sondern politisch werden. Dazu allerdings müsste man die bürgerlichen Gesetzesbücher zuklappen. Als Anleitung für den Klassenkampf von unten sind sie nämlich nicht geeignet.
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