Tagesdosis 19.2.2018 – Die Welt am Abgrund

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Eines muss man Sigmar Gabriel lassen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende brachte der Noch-Außenminister einen richtigen Satz in medialen Umlauf: »Die Welt steht am Abgrund«, warnte der SPD-Mann vor den anwesenden Staatschefs. Und: Europa stehe an einer Wegscheide, wie die Welt sie nur alle paar Jahrhunderte sehe. Er appellierte an die »Vernunft« der Anwesenden.

Was Gabriel nicht sagt, aber weiß: Die globale Wirtschaftsordnung namens Kapitalismus ist nicht vernünftig. Ihr einziges Ziel ist es, die ökonomische Herrschaft der Besitzenden durch stete Kapitalakkumulation in ihren Händen sowie effektive Ausbeutung von Ressourcen und Lohnarbeit zu festigen. Manager dieses Spiels sind die Regierungen der Staaten, deren politisches Personal am Wochenende in München zugegen war.

Das Prinzip des Spiels ist so einfach wie brutal: Viel Kapital schafft viel Profit. Mehr Kapital schafft noch mehr Profit. Kapitalmehrung schafft vor allem eins: Macht. Es wirkt der bekannte »Matthäus-Effekt«: »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen«. Das sorgt für Probleme: Was sich oben sammelt, fehlt unten. Dort streiten immer mehr Betroffene um immer weniger. Die Zahl der Opfer wächst – weltweit.

Das kapitalistische Prinzip ist die Ursache für eine Vielzahl von Symptomen, die Angst und Druck erzeugen. Wo die Wirtschaft durch Kriege und Ressourcenklau zerrüttet ist, müssen Menschen fliehen. Wo Unternehmen abwandern, Jobs schwinden, bittere Armut sich ausbreitet, ziehen Arbeitsmigranten auf der Suche nach einem Broterwerb umher. Menschen haben nun einmal materielle Grundbedürfnisse. Und der Kapitalismus strebt seit jeher die Globalisierung der Wirtschaft an. Dazu gehören auch die Arbeitsmärkte.

Das Elend macht an Grenzen nicht halt: Wo Immobilienkonzerne aus Wohnraum Maximalprofit schlagen, steigt die Zahl der Obdachlosen. Ein Staat, dessen Schulden bei Privatiers in die Höhe klettern, zockt seine lohnabhängig Beschäftigten immer dreister ab. Damit er das kann, hält er das Großkapital mit allerlei Zugeständnissen im Land. Ein solcher Staat kürzt Sozialleistungen und privatisiert, wo es geht.

Die Auswirkungen erleben wir direkt. In Krankenhäusern und Pflegeheimen herrschen katastrophale Zustände. In vielen Einrichtungen vegetieren Patienten und Bewohner mehr vor sich hin, als dass ihnen geholfen wird. Die inzwischen 937 Tafeln in Deutschland mit über 2.100 Ausgabestellen – Tendenz steigend – »feiern« an diesem Donnerstag ihr 25jähriges Bestehen. Sie spielen sich auf als Lebensmittelretter und Umweltschützer, während sie sprichwörtlich die abgenagten Knochen unter den Tischen der Reichen aufsammeln, um sie dem bittenden Bettler gnädig – natürlich nur auf Antrag – zu gewähren.

Wir erinnern uns: Als 1993 die ersten Tafeln mildtätig ihre karitativen, gewissenserleichternden Privatdienste anboten, war die Flüchtlingskrise noch weit weg. Ebenso wie im Jahr 2005, als Bundesregierung Hartz IV einführte, um den größten Niedriglohnsektor im reichsten Land Europas zu errichten.

Ja, die deutsche Bourgeoisie macht richtig Kasse. Mit ihren Exportüberschüssen steht sie weltweit an der Spitze. Und sie verteidigt ihre Vormachtstellung gegenüber der Peripherie mit Bravour. Auch Sigmar Gabriel hat seine Loyalität zum Großkapital bewiesen. Die Rüstungsgeschäfte boomen, den deutschen Konzernen geht es prächtig. Kriegsmissionen im Verbund mit der NATO sichern ihre Einflusssphären auf dem globalen Markt. Aus Sicht der Profiteure läuft es bestens.

Rentenklau, soziale Kürzungen, Niedriglöhne, Obdachlosigkeit, Suppenküchen, Privilegien für die einen, Duminglöhne und Minijobs für die anderen: Je uneiniger sich die unterdrückten Klassen sind, desto widerstandsloser nehmen sie es hin. Natürlich missbrauchen die Herrschenden dafür auch die Flüchtlinge. Wer das negiert, hat die Realität verschlafen.

Nichts einfacher als das: Man rüstet auf, ruiniert die Wirtschaft fremder Länder und konfrontiert einheimische Lohnabhängige mit geflohenen Lohnabhängigen. Fremde Sprachen, andere Lebensgewohnheiten verhindern die Kommunikation zwischen ihnen. Man teilt sie mit moralischen Attributen in Gruppen und hält einige von ihnen besonders arm. Das schürt die Kriminalität. Wo das zusammen kommt, wächst Hass wie Gras auf Humus. Feindbilder hat man auch gleich parat: Faule Arbeitslose, Flüchtlinge und Moslems. Die Spezialisten auf dem Gebiet der Massenpsychologie haben im vergangenen Jahrhundert nicht geschlafen.

Ja, Gabriel hat Recht: Die Welt steht am Abgrund, an einer Wegscheide. Das zeigen auch die Nichtergebnisse der Münchner Sicherheitskonferenz, die eigentlich Konferenz für Kriegsmanagement heißen müsste. Kurz reflektiert: Die Imperien rasseln mit den Säbeln, allen voran die USA im Zweckverbund mit Europa. Es gilt, jedes Fleckchen bewohnte Erde marktkonform einzufrieden. Es gilt, alles aus allem herauszuholen, notfalls – auch das wurde deutlich – mit Atomwaffen.

Auch wenn einige so tun: Dieser Abgrund war nicht plötzlich da.  Die Krisen bahnen sich nicht nur seit langem an: Man weiß seit 150 Jahren, dass der Widerspruch zwischen Kapitalbesitz und Lohnarbeit immer schneller immer brutalere Krisen produziert. Man weiß, dass diese in Kriegen münden, mit denen der ökonomische Besitz und damit die Machtverhältnisse neu aufgeteilt werden. So kann das Spiel neu starten.

Nur einer profitiert davon nie: Die große Masse der Lohnabhängigen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft mangels Kapitalbesitz existenziell angewiesen ist. Gestern schrieb der Deutschlandfunk, die Protagonisten in München hätten »viele Analysen, keine Lösungen« geliefert.

Ja, kann man wirklich ernsthaft annehmen, dass die Verursacher selbst die Probleme auch nur ansatzweise lösen wollten? Wer gibt schon freiwillig Macht und Luxus auf Kosten anderer her? Wenn eines sicher ist, dann das: Die Profiteure haben jenes ausgeprägte Klassenbewusstsein, dass ihre Propaganda-Apparate der Mehrheit erfolgreich abtrainiert haben. Und sie wissen ganz genau: Wer Panik, Angst und Zwietracht sät, muss Gegenwehr nicht fürchten. Der herrscht auch morgen noch erfolgreich.

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