Tagesdosis 19.11.2018 – Politiker fordern Arbeitszwang für Wirtschaftswachstum

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Laut Grundgesetz darf jeder seinen Beruf und Arbeitsplatz frei wählen. Zwangsarbeit ist verboten, heißt es dort. Für Hartz-IV-Bezieher gilt das nicht. Lehnen sie ein Arbeitsangebot ab, dürfen Jobcenter ihnen die als Existenzminimum deklarierte Hilfe bis auf null kürzen. Mieseste Arbeitsbedingungen und niedrigste Löhne müssen sie hinnehmen. 14 Jahre nach Einführung dieses Sanktionsregimes – fast jeder vierte Bundesbürger war inzwischen mindestens einmal davon betroffen – blicken die Grünen selbstkritisch zurück. Parteichef Robert Habeck wirbt für eine „Rückkehr zur Menschenwürde“ mit einer sanktionsfreien „Garantiesicherung ohne Arbeitszwang“ – und ohne vorherige Enteignung angesparter Kleinvermögen.

Hoppla: Enteignung? Arbeitszwang? Genau, alles was Antragsteller über einen Betrag von 150 Euro pro Lebensjahr hinaus besitzen, müssen sie zuerst zu Geld machen und auf Sozialhilfeniveau aufessen, um überhaupt Hilfe zu erhalten. Zur Arbeit werden Menschen heute nicht mehr mit Kette, Peitsche und Gewehrläufen getrieben. Wer allerdings schon einmal vom Entzug seiner Existenzmittel bedroht war, weiß genau, wie der Zwang heute funktioniert. CDU, CSU, FDP, AfD und SPD halten daran vehement fest.

Ein Ende des Arbeitszwangs sei „völlig falsch“, tat CSU-Generalsekretär Markus Blume gegenüber der Passauer Neuen Presse unumwunden kund. Denn ohne die Sanktionspeitsche sei, wie er sagte, „das seit Jahren anhaltende Wirtschaftswachstum gefährdet“. Aha.

Man dürfe Hartz IV nicht abschaffen, sondern müsse „darüber nachdenken, die Menschen da heraus zu bekommen“, und zwar in Arbeit, hieß es auch aus der CDU-Spitze. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel will „keinesfalls Geld ausgeben, um das Prinzip Fördern und Fordern abzuschaffen“.

SPD-Vize Ralf Stegner warf sodann alle Diskussionen seiner Partei in jüngster Vergangenheit zu einer möglichen „Abkehr von Hartz IV“ über den Haufen: „Wer arbeiten kann, muss auch arbeiten“, sagte er gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die AfD äußerte sich aktuell dazu nicht. Doch in zahlreichen Bundestagsdebatten sprach sie sich immer wieder vehement für die Hungerstrafen gegen ungehorsame Leistungsbezieher aus. In ihrem Parteiprogramm ist von gemeinnütziger Arbeit die Rede.

Schaut man in die Kommentarspalten, wird klar: Viele oft vermutlich selbst lohnabhängige Leser befürworten das. Na klar, es ist ungerecht: Man selbst steht früh auf, schuftet, füttert mit seiner Lohnsteuer „Faulenzer“ durch. Und überhaupt, wer soll das alles bezahlen?, so der Jammerruf. Innerhalb der Funktionslogik des Kapitalismus sind die Gedanken nicht einmal ganz falsch. Doch zeugen sie zugleich von der Unfähigkeit, die Menschen verachtende Irrationalität des Systems zu erkennen und über sie hinaus zu denken.

Die Politik aller Couleur propagiert tagein, tagaus diesen Widersinn. Danach gibt es ein Verbrechen im Kapitalismus, das schlimmer ist, als Mord: Das Faulheits-Verbrechen. Wer kein als Kapital verwertbares Vermögen besitzt und sich erdreistet, nicht zu jedem Preis zu knechten, darf, anders als jeder Mörder im Gefängnis, dem Hunger- und Erfrierungstod ohne Gnade preisgegeben werden. Obwohl die Überproduktion wächst, obwohl täglich Massen an Waren vernichtet werden, obwohl ein großer Teil der Arbeitsplätze alles andere als der Menschheit dienlich ist. Wozu sind Jobs zum Beispiel in der Rüstungsindustrie, der Werbe- und Finanzbranche, in Beraterfirmen und diversen Behörden denn tatsächlich gut?

Die Antwort liegt im System: Um Profit zu generieren für jene, die im Besitz der Produktionsmittel sind und zugleich, um dem Staat als deren Manager zu seinem Anteil zu verhelfen. So kommt es zu einem absurdem Szenario: Während die Technologie Arbeit überflüssig macht, giert die Wirtschaft nach immer mehr davon. Denn ohne Arbeit kein Profit. Forderungen nach weiterer Erhöhung des Renteneintrittsalters, Niedriglohn, Arbeitszwang, begleitet von Rufen nach exponentiellem Wirtschaftswachstum trotz massenhafter Warenvernichtung, die den Preisverfall bremsen soll, sind die Folgen.

Um es einmal auf den Punkt zu bringen: Eine relativ kleine vermögende Gruppe lebt davon, Profit von fremder Arbeitskraft abzuschöpfen. Wird weniger davon gebraucht, muss die Wirtschaft wachsen. Sinkt die Zahl der Lohnarbeiter dennoch, wird deren Ausbeutung verschärft. Immer mehr Menschen verlieren ihre Kaufkraft, werden überflüssig und zum Kostenfaktor für das Kapital. Nach kapitalistischer Logik müsste die Politik nun für die Vernichtung überflüssiger Lohnabhängiger sorgen.

Wir erleben derzeit einen rasanten Anstieg dieser Überflüssigen ohne Kaufkraft. Sie fliehen zum Beispiel aus Afrika und dem nahen Osten Vor Armut und Krieg. Man diskutiert heute tatsächlich darüber, ob man sie mit Kind und Kegel im Mittelmeer ersaufen lässt oder alternativ in libysche Lager steckt, denen sogar das Auswärtige Amt „KZ-ähnliche Zustände“ bescheinigt, in denen „systematisch gefoltert, vergewaltigt und exekutiert“ werde. Videoaufnahmen von libyschen Sklavenmärkten gingen durch die Medien. Man bastelt an Einwanderungsgesetzen als Mittel, noch verwertbare von nicht mehr verwertbaren Menschen zu selektieren.

Auch in den Industriestaaten breiten sich die Slums voller Überflüssiger aus. Obdachlose bevölkern die Straßen und Parks der Großstädte. Verelendete Arbeitsmigranten gehören zum Alltagsbild. Armut und Perspektivlosigkeit lassen die Kriminalität steigen. Das ist die Realität. Die Perspektive in dieser Realität für viele ist düster: Immer mehr Arbeit wird durch Maschinen ersetzt werden. Die Zahl derer, welche die Kapital-Akkumulations-Maschine als nutzlos ausspuckt, wird weiter steigen.

Der Widerspruch zwischen steigender Überproduktion für den Müll auf der einen und wachsendem Elend mangels Kaufkraft auf der anderen Seite führt auch die politische Erzählung ad absurdum, wonach Lohnarbeit der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse dient. Jede Produktion für das bunte Warenhaus des globalen Marktes findet nur aus einem Grund statt: Sie muss Profit für die Eigentümer der Maschinerie und Ressourcen sowie für deren territoriale Manager, die Industriestaaten, abwerfen.

Das heißt im Klartext: Es ist völlig egal, ob eine Arbeiterin in der Großbäckerei Brötchen backt, bei Rheinmetall Munition für den Versand verpackt, Kopfstützen für Volkswagen aus heißen Maschinen presst oder im privatisierten Krankenhaus Patienten nach der Stechuhr abfertigt, um deren Arbeitskraft für den Weiterlauf der Kapitalmaschine zu erhalten: All diese Tätigkeiten müssen dafür sorgen, dass die Chefs und Großaktionäre aus ihrem eingesetzten Geld mehr Geld machen. Jedes Unternehmen, dass diesen Grundsatz nicht befolgt, wird bald insolvent sein.

Auch der Arbeitende im Kapitalismus verrichtet somit seine Tätigkeit nicht aufgrund eines tatsächlichen Bedarfs. Er tut es, um dafür Lohn oder Gehalt zu erhalten. Ihm gehören weder Maschinen und Ressourcen, noch die Waren, die er herstellt oder für deren Vermarktung er auf die eine oder andere Weise sorgt. Er bringt das einzige in den Verwertungsprozess ein, was er hat: Seine Arbeitskraft. Das Ziel, der Sinn und Zweck seiner Produktivität liegt nicht in seinem Ermessen. Er arbeitet für die Kapitaleigentümer und ihre Manager, nicht aber für bestimmte Bedürfnisse einer Gesellschaft. Man spricht von entfremdeter Arbeit.

Um die Maschinerie der Ausbeutung von Lohnarbeit trotz aller Technologie nun am Laufen zu halten, braucht es exponentielles Wachstum, was naturgemäß an seine Grenzen stößt. Die Politik reagiert systemimmanent darauf: Sie verbilligt die Lohnarbeit als Kostenfaktor und Profitquelle zugleich, und sie presst Erwerbslose als reine Kostenfaktoren in immer elendere Verhältnisse. Die Nötigung zur Zwangsarbeit – erinnert sei daran, dass Hartz-IV-Bezieher und Flüchtlinge sogar unterhalb des Mindestlohns beschäftigt werden dürfen – durch Entzug der kompletten Lebensgrundlage mittels Sanktionen im Fall der Weigerung ist ein Mittel dafür.

Die politischen Drückerkolonnen und ihre Helfer in den Amtsstuben haben dabei eins geschafft: Die Masse der Lohnabhängigen befürwortet diese Perversion sogar. Zwei Gründe dafür sind Frust und Angst. Die nicht nur gefühlte zunehmende Ausbeutung bei gleichzeitig schwindenden Aufstiegschancen frustriert, zumal schon sinnentleerte Arbeit allein ihren Anteil dazu beiträgt. Die drohende Ausgrenzung aus der lebenserhaltenden Tretmühle verängstigt. In diese wird der Mensch hineingeboren.

Die Folge: Verschärfen sich die Umstände ins Unerträgliche, ist auch die Masse des gemeinen Volkes unfähig, die Lösung außerhalb des Systems zu suchen, obwohl sie nur dort zu finden wäre. Die propagierte Pseudologik der Herrschenden hat sie verinnerlicht. So bewertet etwa die Mehrheit die Dinge abstrakt nach ihrem Geldwert, anstatt nach ihrer realen Verfügbarkeit. Lohnabhängige frieden sich selbst höchst freiwillig in die Kapitalverwertungsmaschine ein, weil sie auf moralische Plattitüden schwachsinniger Politiker hereinfallen. Selbst die unteren Schichten beteiligen sich an der Anarchie des Konkurrenzkampfes: Sie spalten sich in Gruppen, grenzen sich gegenseitig aus. Unten tobt die von oben vorgegebene blutige Hackordnung; sie hat sich derart fest in den Köpfen verankert, dass die Masse glaubt, ihre Probleme mit Symptomen der Ursache ihrer Probleme lösen zu können. Tatsächlich manifestieren so die Unterdrückten selbst jene Verhältnisse, die zurecht ihre Unzufriedenheit erst auslösen.

So kommt es, dass die Masse jener Propaganda zujubelt, wonach nicht essen solle, wer nicht – für fremde Profite – arbeitet. Dass sie härteste Strafen gegen alle fordert, die nicht jeden miesen Sklavenjob annehmen. Dass sie ihre eigene Arbeit nach dem Diktat des Kapitals bewertet, anstatt nach ihrem Sinn und Zweck. Und dass sie den kruden Märchen der Marktexperten Glauben schenkt.

Wer aber nicht will, dass sich die Spirale der Kapitalverwertung immer schneller dreht und alles und jeden dem brutalen und kriegerischen Diktat des Marktes unterwirft, muss dafür sorgen, dass Arbeit, Produktion und Verteilung als die Grundlage menschlicher Existenz diesem Prozess entzogen und ihrem eigentlichen Zweck, der Bedürfnisbefriedigung aller Individuen, zugeführt werden. Und es muss klar werden: Unter gegenwärtigen Eigentumsverhältnissen ist das unmöglich.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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