Tagesdosis 18.10.2017 – Ich stehe hier und schäme mich für 694 AfD-Wähler

Ein Kommentar von Rüdiger Lenz.

Im Jahre des Herrn anno 1983 zogen die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag. Sie überreichten dem damaligen Bundeskanzler, Helmut Kohl, Blumen, um ein Zeichen dafür zu setzen, dass jetzt alles anders werden würde.

Was haben die etablierten Parteien nicht damals alles unternommen, um die Grünen lächerlich zu machen. Wer heute die Erinnerungen von damals Revue passieren lässt, der kann in dem, was der AfD widerfahren ist und noch weiter widerfahren wird, Ähnlichkeiten erkennen. Diese Ähnlichkeiten kann auch jeder Aktivist erkennen, wenn es seine Aktivitäten sich bis hin in den Mainstream geschafft haben.

Es geht fast immer in etwa so: Du bist neu hier, Deine Ideen sind neu hier, und die wollen wir nicht. Wir wollen, dass alles so bleibt wie früher oder am Besten wie jetzt. Denn Deine Veränderungen verändern meine gedankliche und auch materielle Situation, die ich mir hart erkämpft habe. Also denke ich mir was aus, damit Du es nicht bis dahin schaffst, wo ich gerade mit meinem Denken und meinen materiellen Pfründen stehe.

Egal ob sich Leute für den Frieden treffen, gegen Atomstrom demonstrieren, für die Gleich- stellung von Mann und Frau sind, für bessere Bildungschancen oder bei Stuttgart21 demonstrieren. Die Liste ist lang, endlos lang. Es wird sich immer eine große Masse unabhängig voneinander denkender Menschen finden, die sich dann spontan in ein einziges riesiges Raubtier verwandeln und im Chor singen: Dich werden wir kleinmachen und mit allen Mitteln am größer werden verhindern. Andersein macht uns Angst. Das ist nichts Neues.

Manchmal aber geschieht etwas Unvorhersagbares: Wir können keine Idee in Luft auflösen, dessen Realisierung nicht aufzuhalten ist. Wir nennen das allgemein Veränderung. Diese Veränderung ist das Salz in der Suppe der Entwicklung des homo sapiens sapiens. Denn sein Leben vollzieht sich an den beiden unumstößlichen Naturgesetzen, die es überhaupt gibt. Sie thronen selbst über der Physik und lassen nicht mit sich verhandeln: Wandel und Veränderung. Das sind die einzigen Dinge, auf die wir uns ständig verlassen können. Alles ist im Wandel und einer Veränderung unterworfen.

Um was gehts hier in diesem Artikel?

Letzten Sonntag war ich wieder einmal auf einer Partie. Dort sagte dann eine Frau mitten in die Runde: „In unserem Dorf (in dem auch ich lebe) haben 16 Leute die AfD gewählt. Ist das nicht schlimm?“ Ein Mann darauf erwidernd: „Wieso?, ist das so schrecklich? Das sind nicht alles Rechte. Da gibt es auch Vernünftige darunter. So wie jetzt kann es auf keinen Fall weiter- gehen.“ Es entfesselte sich daraufhin eine kurze Diskussion, der sich einige anschlossen. Und wie es häufig so kommt, wenn ich bei so einer Diskussion anwesend bin, fange ich dann an zu reden, um dem Ganzen eine positive Wendung zu geben, damit kein Zank und kein böses Blut entstehen. Was auch gelang.

Jetzt aber lese ich in der Welt N24, dass sich ein Herr aufgemacht macht, um in seiner Stadt gegen AfD-Wähler zu mahnen. Welt N24 schreibt, Zitat Anfang: „Als Jürgen Schuhmann am Tag nach der Bundestagswahl die Zeitung aufschlägt, wollte er erst nicht glauben, was dort stand. In seiner Kleinstadt Ochsenfurt haben 694 Einwohner die AfD gewählt. Schuhmann, 70, Ingenieur und seit sechs Jahren in Rente, ist gebürtiger Ochsenfurter. Jetzt steht er montags von 17 bis 18 Uhr vor dem Rathaus und protestiert. „Wehret den Anfängen“ steht auf seinem Plakat. Und: „Ich stehe hier und schäme mich für 694 AfD-Wähler“, Zitat Ende.

Heutzutage muss man ja immer seine Neutralität betonen, so tue ich das auch: Mir geht es in diesem Text jetzt nicht darum, für oder gegen die AfD Stellung zu beziehen. Mir geht es auch nicht darum, eine Lanze für irgendwen oder irgenwas zu brechen. Mir geht es um die

psychologischen Hintergründe solcher vom öffentlichen Meinungszwang konditionierter Menschen und dem Prinzip dahinter. Denn dieses Prinzip dahinter, das ist der wahre Feind. Er ist unbezwingbar, wenn wir ihn nicht erkennen. Dieser Feind befindet sich im Inneren von sehr sehr vielen Menschen. Er ist gelenkt, konstruiert und produziert, um die eigene Unfähigkeit zu kaschieren und sie auf andere Menschen zu projizieren. Es ist ein in der psychologischen Manipulation sehr gängiges Prinzip, das nur eines im Sinn hat: Festigung der Herrschaftsstrukturen mittels normopathischer Konditionierung der Menschen.

Das Prinzip ist einfach, sein Durchschauen für die Meisten äußerst schwierig. Denn die Meisten denken, dass man sie nicht manipulieren kann, solange sie sich über Gott und die Welt selbst aufklären. Das ist ein Irrtum, ein folgenschwerer obendrein.

Wenn Menschen andere Menschen zur modernen Hexenjagd freigeben, sprich ihnen jegliches Recht absprechen, sich ihr eigens Bild und ihre eigene Meinung auf ihr Dasein zu bilden, dann läuft etwas ganz Grundsätzliches schief.

Ich versuche nun, den Prozess in Kürze darzulegen, und verweise schon zu Anfang auf seine Unvollständigkeit. Menschen entwickeln ihre Haltungen, ihr Denken und ihr Verhalten entlang ihres individuellen Entwicklungsprozesses. Wir nennen diesen Vorgang auch Biografie. Diese Biografie ist nicht bloß durchsetzt von Ereignissen. Sie ist durchsetzt von emotionalen Ankern, die ein jeder Mensch mit seinen vielfältigen Erlebnissen einprogrammiert bekommt. Wir nennen dies allgemein Emotionen, was völlig unzureichend ist. Aber in diesem Text bleiben wir bei diesem Begriff und verallgemeinern, um lesbar zu bleiben.

Im Laufe unseres Lebens lernen wir, uns anzupassen. Dazu gehört ganz wesentlich auch die Sprache. Mit den Worten: Geburt, Frieden, Gesellschaft, Familie, Auto, Freund, Baby, Liebe, Gott zum Beispiel, gelingt es uns, sofort eine Vorstellung von etwas Allgemeinem zu bekommen, dass bei jedem Menschen die gleiche Wortbedeutung aber nicht derselbe Erlebnis- Zusammenhang des Begriffes, empfunden wird. Das Gleiche ist nicht dasselbe. Weil hier das biografische Erleben mit dem Begriff emotional verknüpft wurde. Wir sind uns alle einig, wenn wir den Begriff Frieden hören, aber alle auch gespalten, sobald wir seiner Bedeutung erliegen. Weil sie biografisch emotional besetzt ist. Alles Wissen ist biografisches Sehen. Daher auch: Alles Erkennen ist perspektivisches Sehen. Wir haben kein echtes Wissen über wahrhaftige Ereignisse. Wir tun aber in unserem Alltag so, als hätten wir absolute Gewissheit über alles, was sich in unserem Alltag abspielt.

Alle induktiven und auch deduktiven Wissenschaften werden von dem einzelnen Wissenschaft- ler biografisch mit Bedeutung (emotional) besetzt. In der Entwicklung der Quantentheorie oder der modernen Psychoanalyse ist das überdeutlich zu beobachten.

Und genau da aber ist der Trick der Manipulation der Massen! Man macht ihnen etwas Allgemeingültiges vor, und daher, dass sie fast keinen blassen Schimmer von diesen Dingen haben, glauben sie das, wozu und wofür sie durch die Gesellschaftszwänge konditioniert wurden.

Was hat das jetzt mit dem oben erwähnten Artikel über die Mahnwachen gegen die AfD-Wähler zu tun? Und was damit, dass die Grünen 1983 in den Bundestag kamen?

Die einzelnen Dinge zu verstehen heißt nicht, sie auch im Ganzen zu erkennen. Einfacher gesagt: Du sollst nicht alles glauben, was Du denkst. Biographisches Wissen ist immer emotional besetztes Wissen. Es kann daher niemals objektives Wissen sein. Das sind Erkenntnisse aus der Hirnforschung und der Psychologie. Das heißt, sobald ich mein Wissen über irgendwas mit dem Vorwand vortrage, es als richtiges und moralisch wertvolles Wissen besetze, liege ich zwar mit mir selbst richtig, nicht aber mit den anderen Menschen. Tue ich aber so, als sei es echtes wahres und allgemeingültiges Wissen, dann werde ich mit dieser Haltung kämpfe produzieren, die völlig unnütz sind. Denn sie entspringen einer normopathischen Selbstbeweihräucherung. Da aber die Normapthen in unserer Gesellschaft die ganz große Mehrheit darstellen, gespalten in Formen pseudomoralisierender Kleingruppen, kommt es dem Einzelnen nicht in den Sinn, seinen eigenen individuellen Unsinn zu erkennen.

Worin liegt dieser Unsinn?, fragen sich sicher jetzt sehr viele. Er liegt darin, nicht zu erkennen, dass der Einzelne nur dann etwas verändern kann, wenn er selbst zu der Veränderung wird, die er sich bemüht, anzuprangern. Aus Anprangern wird Denunziation. Aus Denunziation werden moralische Ansprüche im Kampf um das goldene Kalb oder die eierlegende Wollmilchsau laut. Es geht darum, den Anderen in seinem Anderssein nicht anzuerkennen, weil man selbst in seinem Andersein keine Anerkennung verspürt. Das ist das Trauma der Erziehung zum Gehorsam, zum Ausschalten von fast allem, was man emotionale Antriebe oder die eigene emotionale Biographie nennen könnte. Es geht darum, dass man selbst von klein auf daran gehindert wurde, sein Leben so zu leben, wie man es selbst wollte. Und zwar von Kindesbeinen an. Der Wille des Kindes wird in unserer Gesellschaft zum Willen einer Autorität gebrochen. Erziehung heißt, dass sich der Wille des Kindes nicht durchzusetzen hat. Erwachsene wissen besser, was für das Kind gut ist, basta! Ein Jeder soll gehorsam werden, das tun, was andere sagen und andere wollen. Das eigene Wollen ist schlecht, nicht gut. Und die Strafe dafür ist Liebesentzug. Bei Erwachsenen ist die Strafe Isolation von der Gruppe. Dazu werden Begriffe eingefräst in unsere Gehirne. Und wir übernehmen sie, ohne weiter zu hinterfragen, ob das stimmen kann, ob sie biographisch emotional besetzt sein könnten. Ob die Begriffe vielleicht mit einem unheilvollen Frame besetzt sind oder nicht. Erziehung ersetzt bei uns das, was Beziehung sein sollte. Dieser Missstand ist schon derart tief in uns eingefräst worden, dass wir uns ein Leben mit Kindern ohne Erziehung gar nicht vorstellen können. Wir sind Beziehungszombies in unserer Gesellschaft geworden. Beziehung statt Erziehung ist selbst Psychologieprofessoren ein rotes Tuch. So tief kann biografisches Wissen uns von unseren wahren Emotionen abspalten.

Dieses Problem ist in psychologischer Sicht ein Traumaproblem und es wird von den Menschen in unserer Gesellschaft als ein völlig normales Verhalten interpretiert. Die Emotionen des selbst erlebten Traumas werden auf ein Target, auf eine Zielperson oder einer Zielgruppe projiziert und damit dann bekämpft. Und es spielt überhaupt gar keine Rolle mehr, ob es sich dabei um Friedensaktivisten, um eine neue Partei oder um einen andersdenkenden einzelnen Men- schen handelt. Wir machen uns zu Feinden, was wir im inneren sind. Und da thront er, unerkannt, unberührt, von allem Tadel selbstbefreit unser größter und mächtigster Feind. Wir sind es selbst. Und in der Projizierung verachten wir unseren inneren Schmerz, machen ihn unfühlbar und martern damit den Anderen. Machen ihn lieber schlecht, als dass wir uns selbst von dem Trauma unserer Biografie befreien. Ein ewig langer Generationen übergreifender Prozess, der der wahre Grund für Profitmaximierung, für Krieg und Versklavung, für Psychopathie und Soziopathie, für den Kampf aller Klassen, Mann gegen Frau und umgekehrt, für Erziehung statt Beziehung und der Dinge mehr ist. Es gäbe schlichtweg ganz wenig von dem nicht mehr, was wir heutzutage den Staat nennen, würden wir uns dessen tatsächlich gewahr. Denn dann könnten wir das tun, was wir tun sollten: Dem anderen Raum zur Entfaltung seines inneren Wesens geben. Davor bräuchten wir uns dann auch nicht mehr zu fürchten. Wir würden das als Bereicherung empfinden. Doch was geschieht, wenn die normopathische Gesellschaft sich auf sich selbst zurückwirft? Dann geschieht genau das, was wir im Hier und Jetzt vorfinden. Eine zutiefst kranke Gesellschaft, die kranke Menschen am Fließband erwachsen werden lässt und glaubt, sie sei gesund im Denken, Handeln und Fühlen.

Arno Grün schrieb das, in Bezug auf mein Thema hier, so. Zitat Anfang: „ Der Versuch, Rechtsradikalismus als eigenständiges, von uns los gelöstes Phänomen zu begreifen, muß also zwangsläufig immer wieder scheitern, wenn er diese Gemeinsamkeit verneint und verleugnet. Solange wir unseren eigenen Schmerz verleugnen, werden wir weder uns noch die neofaschistischen Gewalttäter verstehen. Denn wirkliches Verständnis ist nur möglich, wenn wir eigenes Erleben unserer kindlichen Leiden zulassen. Ohne diese Voraussetzung ist Verstehen nur Ausdruck der heute so oft vorgeführten Attitüde des Verständnisvollseins, hinter der sich in Wahrheit aber nur Gönnerhaftigkeit, Arroganz und Verachtung verbergen. Dieser Verstehens-Trend beinhaltet ein Heruntermachen des anderen, wodurch das eigene Wertgefühl erhöht wird.“ Zitat ende.

Ich stehe hier und stehe für mehr Menschlichkeit. Ich bin selbst die Veränderung, von der ich immer gedacht habe, sie beträfe alle Menschen. Und da nicht alle so denken, aus welchen Gründen auch immer, bin ich selbst zu dem geworden, was ich mir erhoffte. Ein Trauma ist zu einem Traum gewandelt, den ich gerne lebe und man mich nun ein Vorbild nennt. Wunderbar, denn Veränderung anderer Menschen verläuft oft so. Eigenermächtigung der Menschen ist ein zutiefst ehrlicher Prozess. Aus der Normopathie zu erwachen hat natürlich Nebenwirkungen im ganzen Spektrum der Gesellschaft. Doch wenn wir uns selbst heilen, heilen wir auch gleich die ganze Welt. Es gibt nichts Lohnenderes.

Quellen

https://www.welt.de/regionales/bayern/article169712479/Ich-stehe-hier-und-schaeme-mich- fuer-694-AfD-Waehler.html

https://www.youtube.com/watch?v=ZyVabE6IWfc

Arno Gruen, Der Kampf um die Demokratie. Der Extremismus, die Gewalt und der Terror, Stuttgart 2002

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