Tagesdosis 16.4.2018 – Sündenböcke

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Der Westen ist in Angriffslaune. Alles scheint er dafür zu tun, 73 Jahre nach dem Ende des zweiten, einen dritten Weltkrieg zu eskalieren. Wenn nichts mehr geht, bleibt die Rüstungsindustrie als letzte profitable Superbastion der Kapitalakkumulation übrig. Die Kriegslüsternen schielen schon auf den Rattenschwanz: Zerstörung, Wiederaufbau – endlich neue Profite.

Längst in vollem Gange ist der Krieg derweil im Inneren der Imperien. Er benötigt keine Bomben, Panzer und Gewehre. Still spuckt er die Überflüssigen aus. Still zerstört er Existenzen. Still schürt er Zukunftsangst und Aggressionen in den Köpfen. Still treibt er Millionen Arbeitsmigranten auf verzweifelte Suche nach einem Einkommen. Und laut brüllt er seine Opfer zu Sündenböcken.

Die Brüllenden tragen Anzug und Krawatte. Sie halten ein antrainiertes Grinsen in Fernsehkameras. Sie werden vom Steuerzahler fürstlich gepäppelt. Sie genießen Immunität. In Deutschland tragen die lautesten Brüller Namen wie Alexander Dobrindt, Hermann Gröhe, Jens Spahn, Christian Lindner, Kay Gottschalk, René Springer. Ihre Heimat sind Parteien, die sich »christlich«, »freiheitlich« oder »alternativ« schimpfen.

Im Wechsel hetzen sie gegen Arme aller Couleur, mal Einheimische, mal Ausländer. Auslöser ist diesmal die Hartz-IV-Debatte. Es ging zum Beispiel um Folgendes: Ist es gerecht, erwerbslos Gemachte fast jeglichen einst erarbeiteten Vermögens zu berauben, bevor man ihnen das blanke Brot gibt? Sollen Hartz-IV-Bezieher tatsächlich mit dem Entzug notwendiger Existenzmittel und damit härter als Verbrecher im Knast bestraft werden, nur, weil sie vielleicht nicht als Humankapital für den wachsenden Niedriglohnsektor dienen wollen? Ist man mit Hartz IV arm? Sollen Flüchtlinge von noch weniger als dem Minimum leben?

CDU-Mann Jens Spahn ließ erahnen, dass ein großes Mundwerk und die passende Gesellschaft alleine genügen könnten, um Gesundheitsminister zu werden. Er philosophierte, wie gut man doch mit dem Hartz-IV-Satz auskommen könne. Vom Selbstversuch freilich sieht er ab. Dann posaunte CDU-Vize Hermann Gröhe herum, wie wichtig doch die Hunger-Hartz-IV-Sanktionen seien. Klar, sonst könnte man auch niemanden für ´nen Appel und ´n Ei zum Malochen zwingen.

Und nun kommt, wie zu erwarten war, CSU-Landesgruppenchef Dobrindt aus dem Sumpf gekrochen: Eigenheime sollen Hartzer bitteschön weiterhin auf Sozialhilfeniveau aufessen, bevor sie irgendeinen Anspruch haben. Und: Abgelehnten Asylbewerbern solle man doch bitteschön die mickrigen Hartz-IV-Sätze nochmals kürzen, selbst wenn sie aus verschiedenen Gründen gar nicht ausreisen können. Man könnte meinen, er will soziale Unruhen auf Teufel komm raus provozieren.

Der Populismus der Schwarzen ließ nun die gelbe und blaue Sektion der kapitalistischen Einheitspartei nicht ruhig auf ihren Stühlen sitzen. Der offensichtlich arbeitsmarktferne Unternehmenspleitier und FDP-Chef Christian Lindner tobte: Wie könne nur die SPD auf die Idee kommen, die Hartz-IV-Sätze zu erhöhen? Das schaffe doch nur »falsche Anreize« für Migranten. Ach ja, nun sind die Ausländer eben schuld daran, dass der deutsche Erwerbslose zur Tafel rennen muss. Wie einfach, wie dumm, wie bösartig.

AfD-Newcomer René Springer nutzte die hitzige Debatte, um »Niedriglohnempfänger« gegen Joblose auszuspielen: Würde Hartz IV erhöht und die Sanktionen abgeschafft, wäre das ein »Angriff« auf erstere, prahlte er. Offenbar hat er nicht verstanden, dass durch das repressive Hartz-IV-System der Niedriglohnsektor erst so massiv wachsen konnte. Man nennt es auch Ausbeutung.

Schließlich, so Springer erwartungsgemäß weiter, zöge dies noch mehr Ausländer an. Sein Parteikollege Kay Gottschalk ätzte mit ihm im Chor: Dann kämen noch mehr daher, um abzuzocken. »Wer soll das auf Dauer bezahlen?« – Nun, Gegenfrage: Wer will auf Dauer solche Schwätzer bezahlen?

Und die Volksseele kocht: Da kämen also all die fremdländischen Abzocker ins schöne Deutschland und nehmen den deutschen Niedriglohnjobber aus wie eine Weihnachtsgans. Und DIE hätten ja alle ein Smartphone, liefen nicht in Lumpen rum und bekämen sogar ein Bett im Asylheim, anstatt unter der Brücke zu hausen. So kommt es jedenfalls in den Kommentarspalten und sozialen Netzwerken rüber. Erbärmlich.

Tatsache ist, dass Deutschlands Kapitalistenklasse bestens lebt auf Kosten ärmerer Länder. Dass diese Staaten wirtschaftlich unten bleiben, dafür sorgt die NATO. Nun, Tatsache ist auch, dass Dauerkanzlerin Merkel gelogen hat, als sie vor drei Jahren von humanitärer Hilfe faselte. War es doch abzusehen, dass Kommunen der Pleite näher rücken, wenn sie Tausende Menschen aufnehmen, unterbringen und verköstigen müssen, ohne die entsprechenden Mittel zu erhalten. Die Folge: Es gibt eine Ausrede fürs Privatisieren kommunalen Eigentums.

Ja, offensichtlich benutzen die Herrschenden die selbstproduzierten Flüchtlinge nicht nur dazu, den Pöbel von ihren Schweinereien abzulenken und am Ende Löhne und Soziales noch weiter zu erodieren. Denn Privatisieren bis der Arzt kommt steht ganz oben auf der neoliberalen Agenda. Wohnungen, Krankenhäuser, Bus und Bahn: Immer mehr kommt unter den Hammer.

Das hat einen Grund. Kapitalismus basiert auf endlosem Wirtschaftswachstum. Unternehmer können gar nicht anders. Wer seinen Profit nicht ständig steigert, wird schnell von einem stärkeren »Marktteilnehmer« überrumpelt. Sie werden in die Pleite getrieben oder aufgekauft. Auch Konzernfusionen sind an der Tagesordnung. Sie sorgen vor unser aller Augen für wachsende und mächtiger werdende Monopole.

Nun bunkert kein Kapitalist die Gewinne einfach auf dem Konto. Er legt sie erneut gewinnbringend an. Er baut neue Fabriken, schafft effizientere Produktionsmittel an oder kauft sich mit Aktienpaketen in immer mehr Unternehmen ein. Kurz gesagt: Das Kapital wächst oben ohne Ende. Und für die Masse unten bleibt immer weniger.

Mit der Folge: Das Kapital ist ständig auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten. Doch die werden rarer. Der Staat springt ein, verkauft sein Eigentum. Kommunen sind schließlich auf Steuern von Unternehmen angewiesen. Wenn die mal eben damit drohen, dahin abzuwandern, wo sie Arbeitskraft billiger bekommen können, werden die Städte und Gemeinden ganz schnell gefügig. Unterfinanzierung beschleunigt die Vorgänge nur. Vermutlich ist das erwünscht. Geschehen würde dies aber ohnehin. Kapital will eben angelegt werden, ob mit oder ohne Flüchtlingen, mit mehr oder weniger Hartz-IV-Beziehern, bei denen man gerne so tut, als seien sie von einem mysteriösen Faulheitsvirus befallen.

Doch von systemischen Ursachen will die Masse nichts hören. Das wissen die Kapitalverbände und deren Propagandaabteilung namens Politik nur allzu gut. Ihre Dauerberieselung hat gewirkt. Jeder, der es anders sieht als sie, wird zum bösen Kommunisten, zum Linksversifften, zum Spinner oder Utopisten. Die Masse verweigert sich geradezu der Realität. Sie zieht so gern die »eigene Meinung« der Bildung vor. Meinungen sind so schön von Emotionen geprägt, die mit Rationalität meist wenig zu tun haben.

Und so haben die Populisten ein leichtes Spiel. Die Gemüter ereifern sich über Hartzer, Asylbewerber, Arbeitsmigranten und Co. Über arme Schlucker eben. Derweil treiben die Herrschenden unbehelligt ihr Spiel. Imperialistische Neuaufteilung der Ressourcen ist angesagt. Und strategische Verarmung breiter Schichten zugleich. Nur immer drauf auf letztere. Krieg benötigt immer Sündenböcke, egal, ob außen oder innen.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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