Tagesdosis 15.1.2018 – Die Krise des politischen Systems und die Gretchenfrage

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Mehr Wachstum, mehr Konkurrenz, mehr Wahnsinn, mehr Verlierer – mehr Angst: Das politische System krankt an seinen eigenen Widersprüchen. Zu erkennen sind diese überall: Auf der Straße, in der Arbeitswelt, in der Politik. Vier Monate nach der Bundestagswahl zeigt sich überdeutlich auch die Spaltung in der SPD.

Soll es ein Weiter so im Interesse der Wirtschafts- und Finanzmächtigen geben, mit einem Neuaufguss der Großen Koalition? Hin zur weiteren Verarmung und Entrechtung von Millionen Rentnern und Erwerbslosen? Hin zu noch mehr Aufrüstung für sattere Profite, zu weiteren Markteroberungskriegen mit endloser Ausplünderung der Peripherie? Reichen die in den Verhandlungen der CDU und CSU mühsam abgerungenen, winzigen, dafür um so mehr aufgebauschten Zuckerstücke für die Masse noch aus, um ein Weiter so noch eine Legislaturperiode länger durchzusetzen? Oder sollte die SPD lieber in der Opposition wieder ein wenig mehr die Laute mimen?

Die verbliebene Basis plädiert mehrheitlich für Letzteres, die Jusos auch. Massiver Widerspruch gegen die GROKO 2.0 kommt aus Thüringen und Sachsen-Anhalt. Einzelne SPD-Funktionäre, wie Andrea Ypsilanti, fordern gar ein Zurück zum Ziel eines demokratischen Sozialismus. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung brachte kürzlich ein Papier heraus, in dem sie das Ende der Hartz-IV-Repressionen fordert. Sie spricht darin von einer »institutionellen Angstmobilisierung«, die Menschen zum Treten nach unten animiere.

Auf Anfragen zum Stiftungspapier reagiert die SPD-Bundestagsfraktion nicht. Auf Ypsilantis Anliegen gibt es keine Antworten. Die SPD-geführte Bundesagentur für Arbeit betonte gegenüber der Autorin, man sei nur Exekutivbehörde und bewerte die Gesetze nicht moralisch. Kurz: Die SPD-Avantgarde an den Fleischtöpfen sitzt die Widersprüche aus. Hilflos bemüht sie sich, »Kühlschränke an Eskimos« zu verkaufen.

Denn in Wahrheit geht es um mehr: Es geht um die verdrängte Gretchenfrage in unserem System. Werden »die da unten« denen »da oben« jemals wieder etwas Wirksames entgegensetzen können? Oder sollen sie sich weiterhin »alternativlos« der Herrschaft unterwerfen? Es geht um den alten, bekannten Widerspruch zwischen oben und unten. Es geht um widerstreitende, unversöhnliche Klasseninteressen. Ein Blick auf die politische Weltlage zeigt: Die Gretchenfrage liegt nicht nur in Deutschland auf dem Tablett.

Selbstverständlich weiß die Führungsspitze, dass ihre SPD tot ist, wenn sie nicht mindestens größere Brocken für die Lohnabhängigen herausholt. Und dass sie mit dem Vermarkten kleiner Krümel als Wohltaten nicht mehr punkten kann. Kommt die Koalition, wird es keine solidarische Bürgerversicherung geben. Die Zweiklassenmedizin bleibt. Eine Reichensteuer bleibt obsolet wie die Umkehr von den Rentenkürzungen. Die Hartz-IV-Knute wird weiterhin alle Arbeitenden bis weit in die Mitte hinein bedrohen. Und so weiter.

Muss man nun vor einer möglichen Neuwahl zittern, wie es uns dieser Tage teils parteiübergreifend weisgemacht wird? Zittern muss man wohl eher angesichts der politischen Gesamtsituation. Denn das globale Kapital steckt in der Krise. Wachstum funktioniert mehr und mehr nur noch durch Krieg. Dummerweise sichert nur Wachstum den Profit und die Macht, oben weiter mitzuspielen.

Auf der anderen Seite sorgt das Spiel für Armut. Die Ausbeutung wird sichtbarer; sie nagt an unseren Perspektiven und am Netz, in das man vor 40 Jahren noch weich fallen konnte. Der Konkurrenzkampf droht, um es überspitzt zu formulieren, uns zu psychopathischen Individualisten zu manipulieren, die am Ende aus Angst und Panik selbst die Diktatur fordern, mit welcher viele Staaten zusehends gewillt sind, das zerbrechende System zu managen. Faschisten bezeichneten sich nicht immer selbst als Faschisten.

Was fehlt, ist eine Perspektive. Das liegt auch daran, dass Perspektiven innerhalb des Systems schwinden. Je mehr nach oben verteilt wird, desto weniger bleibt unten. Viele von uns sind mit einem gemaßregelten Kapitalismus aufgewachsen. Da fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die ökonomischen Widersprüche zwischen den Klassen sich so zuspitzen können, wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Und dass die Politik eben keine andere Aufgabe hat, als diese nicht unseren Gunsten zu managen.

Selbst die Linke ist beherrscht vom Glauben an die bürgerliche Demokratie. Sie registriert in ihrer Gänze nicht, dass diese vom Faschismus nur einen sprichwörtlichen Katzensprung entfernt ist. Die Linke ist gespalten in unzählige Grüppchen, die sich höchstens um Belange winziger Minderheiten kümmern. Sie hat den Klassenkampf einer Identitätspolitik geopfert, bei der es sogar schwer fällt, noch sozialdemokratische Züge zu erkennen. Zynische Moral hat ökonomische Analysen ersetzt. Doch die alleinerziehende Mutter, die nicht weiß, wovon sie ihre nächste Miete zahlen soll, interessiert es nicht, ob irgendwer sich besser fühlt, wenn ein drittes Geschlecht in ein staatliches Register eintragen werden darf.

Kurzum: Das System wankt – weltweit. Es hat uns eine revolutionäre Situation eröffnet, ob wir das wollen oder nicht. Doch es existiert kein nennenswertes revolutionäres Subjekt. Es gibt keine Organisation, die die Gretchenfrage laut und hörbar zum Kern ihres Tuns bestimmt. Wohl nicht nur aus Opportunismus und Unwissen, sondern auch aus Angst. Denn dabei würde es ans Eingemachte gehen. An die Grundidee des Kapitalismus. An die etablierten Herrschaftsstrukturen. An die Besitz- und Machtverhältnisse.

Und hier taucht die Frage nach der Gewalt auf. Kann man ein gewalttätiges System friedlich überwinden?  Wurde bisher nicht jeder solcher Versuch alsbald gewaltsam niedergeschlagen? Kann man ökonomische Widersprüche, die ihrerseits fernab jeder Moral ungezählte Existenzen vernichten, durch Moral beseitigen?

Die Gefahr ist immanent, dass Menschen nach Lösungen mithilfe eines Staats suchen, der selbst das Produkt des wankenden Systems ist. Ein »starker Staat« wird jedoch nicht beseitigen, was ihn trägt, füttert und notwendig macht. Ökonomische Widersprüche lassen sich nicht auf Dauer durch mehr Polizei, mehr Militär, mehr Ausgrenzung bestimmter Gruppen und dichtere Grenzen überwinden. Allenfalls ließen sich ihre Auswirkungen auf ausgewählte Schichten auf Kosten vieler Unterprivilegierter etwas länger im Zaum halten. Nicht mehr, nicht weniger.

Das System hat uns vor die Gretchenfrage gestellt. Es liegt an uns, wie wir sie lösen. Entscheiden wir uns für ein Weiter so hinein in die Misere? Oder organisieren wir uns klassenbewusst und besprechen das Grundlegende, was uns alle betrifft. Wir kommen leider nicht darum herum.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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