Tagesdosis 14.05.2015 – Sozialdarwinismus als Strategie politischen Krisenmanagements

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Die soziale Krise im Exportweltmeister-Staat Deutschland ist nicht zu übersehen. Rund eine Million Obdachlose bevölkern die Straßen, darunter Zehntausende Minderjährige. Immobilienhaie versuchen, das letzte aus ihren Gebäuden zu pressen. Selbst Teile der Mittelschicht werden in die heruntergekommene Platte an den Stadträndern verdrängt. Die Tafeln haben Hochkonjunktur und Millionen über 50jährige sehen der Altersarmut entgegen. Das erzeugt Wut, Unverständnis, Fragen nach dem Warum. Vor allem aber macht es Massen anfällig für einen mörderischen Sozialdarwinismus. Und der wird befeuert. Von ganz oben.

Vor 15 Jahren beschuldigte die Politik Erwerbslose  des »Faulheitsverbrechens«. So rechtfertigte sie den inkludierten rigiden Sanktionsapparat, der doch nichts weiter ist, als ein Instrument, um Betroffene durch Androhung einer Art Todesstrafe in Hungerlohnjobs zu zwingen. Denn was sonst bedeutet der Entzug lebensnotwendiger Mittel für Wohnen und Essen? Dann erklärte sie bettelarme EU-Arbeitsmigranten zu Sozialschmarotzern und entzog ihnen den Zugang zur Sozialhilfe. Aus Kriegs- und Elendsflüchtlingen machte sie potentielle Terroristen, wahlweise Frauenschänder, um das Asylrecht zu verschärfen.

Heute will die Große Koalition auf Dringen der Unionsparteien sogenannte »Ankerzentren« bauen. Gemeint sind Massenlager, in denen künftig jeder Ankommende interniert werden soll, bis sein Asylantrag beschieden  ist. Mit Kind und Kegel, hinter Gittern und Stacheldraht, bewacht von der Bundespolizei – wohlgemerkt: Ohne straffällig geworden zu sein. So etwas ähnliches hatten wir doch schon einmal. Nur hieß es anders.

Zugleich ätzt die kapitalistische Einheitsfront aller Couleur weiter gegen rund 6,2 Millionen Hartz-IV-Bezieher. Unter 50jährige dürften gar nichts mehr bekommen, damit sie gezwungen seien, sich Arbeit zu suchen, so zum Beispiel eine Forderung aus dem C-Lager. Da erscheint das GROKO-Ansinnen, einen »sozialen Arbeitsmarkt«  für sogenannte »Arbeitsmarktferne« zu errichten, in fahlem Licht. Wird man diese ebenso nicht straffälligen armen Schlucker bald gemeinsam mit den Flüchtlingen in Lager verfrachten? Wird man sich diverse »Sonderbehandlungen« für besonders schwer Integrierbare ausdenken?

So abwegig ist die Besorgnis nicht. Zumal eine Tagesdosis nicht ausreichen würde, um allein die menschenverachtenden Ausfälle gegen ökonomisch abgehängte Gruppen der vergangenen Wochen aus dem breiten Lager der marktanbetenden Parteien aufzuzählen. Es geht im Grunde um Entmenschlichung. Als lebensunwert Deklarierte kann man einsperren, foltern, erfrieren oder verhungern lassen. Man kann ihnen alle Grundrechte entziehen, ohne nennenswerten Widerstand zu erwarten.

Krisen befeuern die Suche nach Schuldigen. Sie lassen sozialdarwinistische Sündenbock-Rhetoriker in der Hoffnung auf neue Anhängerscharen aus ihren Löchern kriechen. Die sitzen längst nicht nur in neoliberalen Think Tanks, der NPD oder der AfD. Sie regieren uns. Sie sitzen in den Parlamenten und den Medien.

Zum Beispiel in persona Rainer Hank. In der Frankfurter Rundschau behauptete der doch tatsächlich, wer höhere Hartz-IV-Sätze fordere, fördere die AfD. Weil am Ende auch Ausländer davon profitierten, was der Deutsche ja wohl nicht wollen könne. Sorry, Herr Hank, aber wer so einen geistigen Müll von sich gibt, sollte auf NPD-Kundgebungen reden und sich von Björn Höcke alias »1.000 Jahre Deutschland, 3.000 Jahre Europa« als Ghostwriter bezahlen lassen. Für eine große Tageszeitung sollte er jedenfalls nicht schreiben.

Entmenschlichung von Randgruppen ist der Job sozialdarwinistischer Sündenbock-Rhetoriker. Sie hetzen vom Abstieg Bedrohte gegen angeblich »parasitäre Hartz-IV-Faulpelze«, »sozialschmarotzende Roma-Familien«, »terroristische Moslems« oder »deutsche Frauen wegschnappende, drogendealende Afrikaner«.

Sie erklären quasi den geflohenen Kongolesen zum Sinnbild für angeblich von Deutschland durchgefütterte Afrikaner. So, als würden nicht etwa der Kongo und andere Länder dieses reichen Kontinents die westlichen Imperien mit gewaltsam geplünderten Gütern durchfüttern. So als seien die weltweit rund zwei Milliarden Muslime schuld daran, dass deutsche Arbeiter um ihr Einfamilienhäuschen bangen müssen, wenn sie erwerbslos werden. So als hätten es Hartz-IV-Bezieher und EU-Wanderarbeiter zu verantworten, dass deutsche Finanzämter Kleinverdiener und Miniunternehmer besonders rigide abzocken, während immer genügend Geld für Bankenrettung und Subventionen für Großkonzerne vorhanden ist.

Sozialdarwinismus versteckt sich in vielem: Zum Beispiel in der Mär von kommender Vollbeschäftigung. Diese wirre These ignoriert nicht nur, dass es im Kapitalismus immer Erwerbslose gibt, schon alleine, weil Privatunternehmen nun einmal entlassen. Sie blendet auch aus, dass die aktuell noch halbwegs gute Wirtschaftslage in Deutschland maßgeblich auf dem Export des Elends in andere Länder beruht.

Sozialdarwinismus versteckt sich auch in unterschiedlichen Privilegien für Beschäftigte, die sich nicht selten an deren Unterwerfung orientieren. Ähnlich ist es mit Einwanderungsgesetzen, um dem angeblichen Fachkräftemangel abzuhelfen. Derlei Konstrukte, aktuell aufgelegt von rechts wie links, basieren allesamt auf der Einteilung von Menschen in wirtschaftlich brauchbares und unbrauchbares Humankapital, in wertvolles und überflüssiges Leben.

Sozialdarwinismus ist ein urkapitalistisches Herrschaftsinstrument, das jegliche Solidarität innerhalb der unterdrückten Schichten verhindert. Es setzt sich so erfolgreich durch, weil es dem erlernten Verhalten gegeneinander konkurrierender Individuen nicht nur entspricht, sondern entspringt. Denn wie die Eigentümer der Produktionsmittel um Marktmacht, konkurrieren Lohnabhängige, eingepfercht in politisch geförderte Konstrukte von Ersatzidentitäten wie Deutschsein oder Fußballvereine, um Jobs und Wohnungen. Schon früh lernt Hänschen: Nur wer nach unten tritt, kommt weiter. Setze deine Ellenbogen ein, Kind.

Wer so handelt, stützt das System. Das wissen die Herrschenden. Das weiß man in deren Propaganda-Abteilungen in Berlin, in den Medienhäusern. Darum nutzen die Meinungsmacher und Pressemitteilungs-Verbreiter derlei Rhetorik so eifrig – als Strategie politischen Krisenmanagements.

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