Tagesdosis 13.2.2019 – Showdown für den Kapitalismus (Podcast)

Hatten die Marxisten mit ihren Voraussagen am Ende doch recht?

Ein Kommentar von Jeff Cohen.

Als junger Aktivist in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren hörte ich eine Menge marxistischer Dogmen von linksgerichteten Splittergruppen, die an großen Universitäten und in Städten verkündeten, dass „der Monopolkapitalismus auf seine finale Krise zuschlittert“. Fortwährend wurde vor einem apokalyptischen Niedergang gewarnt. Die Warnungen klangen absurd, besonders da Jahre vergingen, ohne dass wir dem endgültigen Zusammenbruch auch nur nahe gekommen wären – sie überzeugten mich nicht mehr als Jehovas Zeugen, die mit ihren Glaubenssätzen an meine Tür kamen.

Damals, bis in die frühen 1970er, expandierte die Wirtschaft, wuchs die Mittelschicht und wurden Gewerkschaften von den Fabrikbesitzern größtenteils toleriert. Der Kapitalismus US-amerikanischer Art begann, sich weltweit zu verbreiten.

Doch in letzter Zeit frage ich mich, ob diese Marxisten am Ende doch richtig lagen, wenn auch ein paar Jahrzehnte verfrüht. Wirft man einen genauen Blick auf zwei Säulen des westlichen Kapitalismus – die USA und Großbritannien –, dann sieht man, dass die heutigen politischen Krisen ernsterer Natur sind als die meisten vergangenen.

40 Jahre Neoliberalismus

Beide Länder stecken in Regierungskrisen historischen Ausmaßes fest. Oberflächlich gesehen drehen sie sich um den Brexit in Großbritannien und um Trumps Ego und seine Mauer in den USA. Doch die Wurzeln der Problematik reichen tiefer. Die Probleme sind struktureller Natur und beginnen nun an der Basis der Gesellschaft, wo unter der Arbeiterschicht beispiellose Wut, Gespaltenheit und Verzweiflung zu finden sind, nachdem Jahrzehnte von wirtschaftlichem Neoliberalismus den Reichtum an der gesellschaftlichen Spitze konzentriert haben.

Der Neoliberalismus – mit dem Politiker zuallererst Unternehmensinteressen bedienen, wobei dann hoffentlich ein paar Krumen für die Masse „abfallen“ – startete vor 40 Jahren richtig durch.

In Großbritannien wurde er „Thatcherismus“ genannt und in den USA „Reaganomics“. Und der Neoliberalismus ist seitdem stets die treibende Wirtschaftsideologie gewesen, bei der Reichtum und Einkommen unerbittlich nach oben fließen, selbst nachdem „die Opposition“ die Macht übernommen hat. In den USA hatten wir den unternehmerfreundlichen „New Democrat“ Bill Clinton – Nordamerikanisches Freihandelsabkommen, Deregulierung der Wall Street, Sozial-„Reform“, Masseninhaftierungen. In Großbritannien hatten sie Tony Blair und „New Labour“ – der so unternehmerfreundlich war, dass Rupert Murdoch ihn unterstützte.

Anders als vergangene Regierungskrisen sind die heutigen nicht einfach parteiinterne Kämpfe unter Eliten, bei denen die Massen vom Rand aus zuschauen. Heutzutage müssen Regierungsfraktionen auf Wählergruppen reagieren, die zunehmend wütend, unnachgiebig und fordernd sind. Alles das lässt den politischen Stillstand noch starrer wirken.

Keine echte Auseinandersetzung

Da nackter Dienst an Unternehmenseliten und „trickle down“-Versprechen sich einer unsicheren Mittelschicht nicht länger verkaufen lassen, sind rechtsgerichtete Politiker wie Trump und von Steve Bannon gezüchtete Europäer jetzt „Populisten“ und „Anti-Eliten“, die sich Rassismus offen zu Nutze machen, während sie Einwanderer als Sündenböcke für die Probleme der Gesellschaft darstellen. Statt der „Magie des freien Marktes“ verkaufen sie die Magie von Stahlzäunen.

Unterdessen müssen sich in den USA meist biegsame demokratische Anführer mit einer jüngeren, ethnisch vielfältigeren, zunehmend progressiven und unnachgiebigen Wählerbasis auseinandersetzen. Die Führungsriege versucht, durch Rhetorik und symbolische Gesten zu besänftigen, während sie sich den Forderungen der Basis nach weit reichenden ökonomischen und ökologischen Reformen widersetzt, die im Konflikt zu den Wünschen der Parteigeldgeber stehen.

So bekriegen sich Republikaner und Demokraten über die Finanzierung der Mauer, während sie im Stillen Hand in Hand an größeren Themen arbeiten, wie etwa der gefährlichen, anti-demokratischen Macht der Wall Street und der Umleitung eines Großteils der nationalen Ermessensausgaben an den unverantwortlichen militärisch-industriellen Komplex.

Das größte aller Probleme

Und das US-politische System meidet das größte aller Probleme – die Katastrophe, die der alten Rhetorik über „die finale Krise des Kapitalismus“ eine neue Realität verleiht: der menschengemachte, profitgetriebene Klimawandel, der es immer heißer werden lässt, während liberale und konservative Politiker herumtricksen. Republikaner leugnen die wissenschaftlichen Belege; demokratische Führungspolitiker verleugnen und verzögern die nötigen tief greifenden Lösungen – wie einen „Green New Deal“, der bestimmte Unternehmensbilanzen untergraben würde.

„Die Krise des Kapitalismus“ wäre für alle viel leichter zu erkennen, wenn sich die Armen und die Arbeiterschicht – und die ehemalige Mittelschicht – in einer offenen Rebellion gegen 40 Jahre des Neoliberalismus zusammenschließen würden. Doch obwohl die Arbeiterschicht der USA zum größten Teil wütend auf das System ist und geeint in ihrer Verzweiflung über „eine Demokratie, die dem ganzen Volk dient“, ist sie untereinander gespalten, oftmals entlang ethnischer Grenzen.

Für manche derjenigen, die sich an der Spitze dieses offenbar bröckelnden Systems an die Macht klammern, mag das Schüren von weißem Rassismus und Spaltung ihre letzte, verzweifelte Taktik sein. Nach Trump fällt es nicht schwer, sich zukünftige republikanische Politiker vorzustellen, die sich Fox News-mäßigem Rassismus und Schuldzuweisungen an Einwanderer bedienen, um die Parteibasis zu „inspirieren“ und zu gewinnen.

Jenseits des Kapitalismus

Doch dies ist eine trügerische Taktik, mit schrecklichen Konsequenzen für die Zukunft. Die heutige Wirtschaft ist angeblich stark – „die beste in der Geschichte“, wie Trump sagt. Doch man stelle sich die Wut vor, die mit der nächsten Rezession, welche überfällig ist und von allen Seiten erwartet wird, die Bombe zum Platzen bringen wird.

Angesichts des Stillstandes des politischen Systems und unserer sich weltweit bedrohten Natur müssen wir Lösungen „jenseits des Kapitalismus“ finden – zumindest sagen das viele US-Amerikaner unter 30 in einer Umfrage nach der anderen (1, 2). Junge Menschen haben nie eine „Wirtschaft, die für alle funktioniert“ erlebt. Ob man es nun „Post-Kapitalismus“ oder „Sozialdemokratie“ oder „demokratischen (Öko-)Sozialismus“ nennt, etwas Neues und Besseres ist nötig.

Und es ist ermutigend zu sehen, dass immer mehr gewählte Volksvertreter über diese neuen Richtungen nachdenken, darunter junge Kongressmitglieder wie Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib. Und alte Hasen wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, die die Krise des Kapitalismus erkannt haben, bevor es cool war.


Jeff Cohen war von 2008 bis 2018 Direktor des von ihm gegründeten Park Center for Independent Media in Ithaca, New York. Er ist Gründer der Media-Watch-Group FAIR und Mitbegründer der Online-Aktivismus-Gruppe RootsAction.org.


Redaktionelle Anmerkung [Rubikon]: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The System’s Falling Apart: Were the Dogmatic Marxists Right After All?“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.sacbee.com/news/nation-world/national/article182765121.html
(2) https://www.cnbc.com/2018/08/14/fewer-than-half-of-young-americans-are-positive-about-capitalism.html

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Dieser Beitrag erschien am 12.2.2019 im Rubikon- Magazin für die kritische Masse

Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

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