Tagesdosis 13.11.2017 – Ein offener Brief an die Co-Fraktionsvorsitzende der Linkspartei (Podcast)

von Susan Bonath.

Liebe Sahra Wagenknecht,

gestern habe ich wieder eine Mail von dir und deinem »Team Sahra« erhalten. Darin forderst du vehement: »Staatsversagen stoppen!«. Darauf möchte ich dir politisch antworten.

Du führst die »Paradise Papers« an. Nach den »Panama Papers« decken diese erneut auf, wie Superreiche Steuermilliarden ungestraft hinterziehen, während die sozialen Missstände zusehends mehr Opfer fordern. Nur unser Staat unternimmt nichts. Wo dieser doch jeden Hartz-IV-Bezieher wegen ein paar nicht angegebener Euros vor Gericht zerrt!

Zweitens kritisiertest du deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien, also in jene »Kopf ab«-Diktatur, die nicht nur den IS fördert, sondern einen Krieg gegen das bettelarme Jemen führt. Die damit eine gigantische Hungersnot mit zu erwarteten Millionen Toten – Männer, Frauen, Kinder, Babys –  forciert.

All diese Dinge kritisierst du schon länger. Doch die Bundesregierung hört nicht auf dich. Sie pampert reiche Steuerhinterzieher weiter und erlaubt Rüstungsexporte trotzdem.

Was du beklagst, sind natürlich erbärmliche Verbrechen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aber warum glaubst du, liebe Sahra, dass sie darum geschehen, weil unser Staat versagt habe?

War es nicht immer die Aufgabe von Staaten, die Leben der Armen für die Pfründe der Reichen zu opfern? Hat sich unser Staat jemals einen Deut um die Gesundheit jener geschert, die einen Großteil ihres Lebens in schmutzig-lauten Fabrikhallen, Tagebauen, Großraumbüros, tristen Wartesälen von Jobcentern oder im Nirvana der ausgeplünderten Peripherie fristen?

Ich weiß, Sahra, du schwärmst in letzter Zeit oft von Ludwig Erhard. Der einstige »Wirtschaftswunder«-Minister und spätere Nachfolger Adenauers habe schließlich den Kapitalismus bändigen können, in welchem kurz zuvor noch ein blutiger Weltkrieg getobt hatte. Du willst uns weismachen, das sei auch heute möglich. Ich hingegen sage: Du setzt uns einen Floh ins Ohr. Weißt du es wirklich nicht besser?

Du vergisst dreierlei: Erstens saß Erhard in einer Zeit am Ruder, in welcher der Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Infrastruktur sowie die von europäischen Nachbarn gewährten Nachlässe den deutschen Boom inklusive Vollbeschäftigung heraufbeschwören mussten. Zweitens war der Unmut der Arbeiter nach beiden Kriegen groß. Es galt, Aufstände im Keim zu ersticken. Drittens ging es nicht allen BRD-Bewohnern gut.

Was ist mit den Frauen? Ohne Zustimmung ihres männlichen Vormundes durften sie weder arbeiten noch ein eigenes Konto eröffnen. Was ist mit den türkischen Gastarbeiten? Billigst ausgebeutet hat die deutsche Wirtschaft sie. Hast du die vielen Altnazis in Amt und Würden vergessen? Wer hat die KPD verboten? Und was ist mit den Berufsverboten gegen Kommunisten, 1972 verhängt durch SPD-Mann Willi Brandt?

Aber als Brandt am Ruder saß, ging es schon bald wieder bergab, wie du wissen müsstest. Bereits Mitte der 70er Jahre war die Arbeitslosenzahl in der alten BRD auf über eine Million geklettert. Erste Talkrunden zum Thema »Sind Arbeitslose arbeitslos, weil sie so faul sind?« flimmerten durch die Wohnzimmer. Der bejubelte Sozialdemokrat Helmut Schmidt hielt dagegen, und zwar mit Sozialabbau.

Liebe Sahra, hattest du nicht früher einmal selbst von zyklischen Krisen des Kapitalismus gesprochen? Oder täuscht mich meine Erinnerung? Diese Krisen gibt es doch nicht etwa, weil Marx das schon festgestellt hatte. Es gibt sie, weil irgendwann jeder Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher und einen Kleinwagen hat.

Die Folgen: Der Konsum geht zurück, die Profitraten der Profiteure stagnieren. Die Konzerne entlassen Beschäftigte, erobern mithilfe der Politik neue Märkte, viele wandern dahin ab, wo sie billiger produzieren können. Die Steuereinnahmen der Staaten brechen ein, sie bauen Sozialleistungen und Arbeitsrechte ab. Die Binnennachfrage sinkt mit steigender Erwerbslosigkeit, Exportgeschäft und Kapitalflucht hingegen blühen. Und Nationen ziehen wieder in Eroberungskriege.

Man spricht von einer Kapitalverwertungskrise. Man weiß seit langem, dass eine solche in zyklischen Abständen wiederkehrt. Sollen wir warten, bis wieder ein Weltkrieg die halbe Welt in Schutt und Asche legt, damit alles wieder von vorne losgehen kann, wenn wir Glück haben, mit einem neuen »Wirtschaftswunder«?

Liebe Sahra, die Aufgabe des Staates ist es, dafür zu sorgen, dass die Profite in die Kassen der Profiteure sprudeln, damit sein Apparat am Ende davon mit profitiert. Dazu gehören Waffenexporte nach Saudi-Arabien wie die Ausbeutung der Dritten Welt. Dazu gehören Privilegien für Reiche wie Repressionen gegen Arme.

Du empörst dich: Der Großteil der Tricks der Steuerhinterzieher sei ganz legal. Genau, er ist legal, weil die Gesetze der Staaten, auch des unsrigen, es zulassen – zum Wohl der Profiteure. Sowohl die Steuerflucht als auch den Krieg, völlig systemkonform. Die Leben der Armen spielten in diesem niemals eine Rolle.

Es ist mit dem Staat wie mit einem Manager: Wenn der dafür bezahlt wird, durch barbarische Ausbeutung von Kinderarbeit viel Geld in Konzernkassen zu spülen, wird er es tun, tagein, tagaus. Es ist sein Job.

Manchmal, liebe Sahra, empfinde ich solche Mails von dir fast als Zynismus. Sie sind Appelle an den Wolf oder an die Lämmer, den Wolf zu bändigen. Doch nie wurde ein Wolf in seinem Jagdtrieb gebändigt. Schon gar nicht hat er sich je freiwillig selbst mehr gebändigt, als es ihm gerade beliebte. So ist das mit dem Kapital und seinem Staat. Für was, für wen willst du letzteren erhalten? Für eure Diäten?

Ich weiß, liebe Sahra, meine Kritik an deiner Politik wird wenig Freunde finden. »Die hat doch selber keinen Plan«, werden viele wütend rufen. Und ich werde ihnen antworten: Natürlich kann ich keinen todsicheren Plan für 82 Millionen Bundesbürger, 750 Millionen Europäer und siebeneinhalb Milliarden Erdenbewohner herbei zaubern. Was funktioniert, hängt letztlich vom Willen und Bewusstsein der Masse ab.

Was ich aber todsicher zu wissen glaube, liebe Sahra, ist: Den verklärten rheinischen Kapitalismus bekommen wir nicht wieder ohne neuen Weltkrieg. Nicht nur, dass ein solcher wohl das Ende der modernen Zivilisation wäre: Ich will auch kein System zurück, das auf dem Elend von Milliarden Armen fußt, auf grausamer Kolonialisierung, Sklaverei und Plünderung.

Und: Mir ist klar, dass die Folgen von 500 Jahren Kapitalismus jetzt, in Form von Hunderttausenden Geflüchteten, vor den Türen des reichen Europas stehen – und von Unbelehrbaren bekämpft werden.

Ich weiß, dass all das nicht enden wird, solange wir nicht beginnen, die Wirtschaft in den Dienst aller Menschen zu stellen. Das ist nur möglich, wenn es gelingt, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen, an dem sich die größten Haie dumm und dämlich mästen. Die Herrschaft der Besitzenden über die Besitzlosen muss beendet werden. Und zwar so global, wie der Kapitalismus seit langem ist. Wie auch immer das gelingen soll.

Mir ist bewusst, liebe Sahra, dass alleine der Gedanke an die daraus folgenden Handlungsoptionen den meisten Angst macht. Gleichwohl: Die Folgen des Nichthandelns werden schlimmer. Da bin ich sicher.

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Fotohinweis: Pressefotos zum Download: Bildnachweis: DiG/Trialon

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