Tagesdosis 13.10.2017 – Wir hätten Dich so gebraucht, SPD! (Podcast)

Ein Kommentar von Uwe Soukup.

Von Willy Brandts sensationellem Wahlergebnis von 1972 – die SPD war mit 45,8 % erstmals stärkste Partei im Bundestag – ist sie nunmehr bei „gut“ 20 Prozent angekommen und spürt schon den Atem der AfD im Nacken. Ist der dramatische Niedergang der SPD eine Folge der Großen Koalition, ist sie dem viel zitierten Ende des Stammwählers oder vielleicht auch dem allgemeinen Niedergang der Volksparteien geschuldet? Im Falle der ältesten Partei Deutschlands werden diese Erklärungsversuche möglicherweise nicht ausreichen.

Man sucht jetzt verzweifelt nach neuen Wegen, um aus der offensichtlichen Krise herauszukommen. Der Berliner SPD-Mann Raed Saleh schlägt vor, das gesamte Führungspersonal auszutauschen. Die neue SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles kontert wenig charmant mit der Frage, ob sie nun den Unterbezirksvorsitzenden von Posemuckel als Parteivorsitzenden vorschlagen solle. Als ob es darum ginge. Der frühere Bundesgeschäftsführer der SPD, Günther Verheugen, beklagte sich vor Jahrzehnten am Ende seiner Tätigkeit: „Wir haben einfach keine Botschaft!“

Parteien entstehen, um für gesellschaftliche Probleme eine Lösung zu finden. So ist die Entstehung und der Aufstieg der Grünen ohne Atomkraft und die anderen ökologischen Probleme des vergangenen Jahrhunderts undenkbar. Die SPD entstand aus Arbeitervereinen, um die soziale Frage des 19. Jahrhunderts zu lösen, notfalls durch Revolution. Am Beginn ihrer 150jährigen Geschichte wurde die Partei verleumdet und bekämpft, ja, sogar verboten (ein Attentat auf den Schah von Persien und den Kaiser, im Berliner Tiergarten am 2. Juni, allerdings 1878, war die lächerliche Begründung).

Die SPD war die größte revolutionäre Partei Europas und es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch im Kaiserreich die „stärkste der Parteien“ werden würde. Doch zu Beginn des Ersten Weltkrieges sprang die SPD ins vaterländische Boot.

Wenn jetzt wirklich das Ende der deutschen Sozialdemokratie bevorstünde: Hätte die SPD ihre historischen Ziele erreicht und sich überflüssig gemacht? Einiges spricht dafür: es gibt ja das Sozialversicherungssystem, das Bismarck installiert hatte, um der verbotenen SPD den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Auswüchse der Industrialisierung, das Elend der Massen: existiert so nicht mehr. Studiert man jedoch die Sozialdaten des Landes, sieht das anders aus. Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter. Konkret: Warum verdient die leitende Angestellte eines kommunalen Berliner Betriebes mehr als 1000 Euro am Tag (und feilscht dann noch um ihren Dienstwagen), warum verdienen Industriemanager fünf- oder gar sechsstellige Beträge pro Tag? In einer Demokratie sind derartige Unterschiede auf Dauer nicht ohne Folgen für das Gemeinwesen. Das hat mit Neid nichts zu tun.

Nichts beweist aber die Tatsache der wachsenden sozialen Ungleichheit besser als der Gerechtigkeitshype, mit dem Martin Schulz Anfang des Jahres als Komet aufzusteigen schien: In einer Gesellschaft, in der es auch nur einigermaßen gerecht zugeht, wird einer, der mehr Gerechtigkeit fordert, kaum Zulauf haben.

Das war gut gesprungen, aber schlecht gelandet. Man traut es der SPD einfach nicht mehr zu. Hinzu kam ein Parteiapparat, der darauf bestand, die Niederlage der Partei noch gründlicher hinzubekommen als der naiv, aber für den Moment auch erfrischend anders wirkende Kandidat.

Vor hundert Jahren hätte die SPD die soziale Frage lösen können, nach dem Ersten Weltkrieg lief doch alles auf sie zu: Demokratisierung des kaiserlichen Drei-Klassen-Deutschlands und das Ende des Militarismus, Entmachtung und Bestrafung der Kriegsschuldigen. Man hätte  sich aber selbst mit-bestrafen müssen und so fand die SPD, die in den Kriegsjahren Millionen Mitglieder an der Front und durch Parteiaustritt verloren hatte, keinen Absprung mehr aus dem vaterländischen Kanonenboot. Stattdessen rettete sie die Militaristen, indem sie sich ausgerechnet von ihnen vor ihren eigenen (früheren) Anhängern schützen ließ. Dabei schreckten die ex-kaiserlichen Militärs auch vor Mord an politischen Gegnern nicht zurück.

Alle so genannten Kommunisten dieser Zeit waren ehemalige Sozialdemokraten, die der SPD wegen ihrer Zustimmung zum Krieg den Rücken gekehrt hatten. Auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren langjährige Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Karl Liebknechts Vater Wilhelm hatte die SPD mitbegründet und war ihr langjähriger Vorsitzender.

Zehntausende ehemalige Sozialdemokraten, eben auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wurden damals von den ehemals kaiserlichen Truppen ermordet, die ein führender Sozialdemokrat – Gustav Noske – befehligte. In diesen Anfangsmonaten der Weimarer Republik wurde ihr Scheitern determiniert. In diesen Jahren entstanden die Meinungen, Haltungen und Gewohnheiten, die später in der Hitlerbewegung kumulierten. Und es entstand die immerwährende Diskriminierung alles linken Denkens in diesem Lande. Verantwortlich für beides ist – die SPD.

Die Sozialdemokratie verhielt sich nach dem Ersten Weltkrieg so, als ob die Grünen, kaum an die Macht gekommen, ein Atomkraftwerk nach dem anderen genehmigten und die wütenden Demonstrationen dagegen zusammenschießen ließen.

Dass die Eliten des Kaiserreichs die SPD niemals für ihren „vaterländischen“ Einsatz belohnten, sondern mit dem Schmähwort des Vaterlandverräters belegten, macht die Bilanz der SPD nicht besser. Es hilft ihr nur, sich als Opfer der Rechten darzustellen; eine Rechte allerdings, die es ohne die Bemühungen der SPD um deren Rettung so gar nicht mehr gegeben hätte.

Die SPD hat vor rund einhundert Jahren aufgehört, eine Linkspartei zu sein und ist zu einer zweiten Rechtspartei geworden, sagte Sebastian Haffner in seinem letzten Interview im Herbst 1993. Sie sei eine Partei „gegen links“ geworden. Von Haffner stammt auch die brillante Darstellung der deutschen Revolution 1918/19 (die die meisten Sozialdemokraten hassen, vorausgesetzt, sie kennen sie).

Die soziale Frage ist noch immer ungelöst. Sie erzeugte und erzeugt Wut. Das treibt die Leute der AfD in die Arme – wie damals in die Arme der Nazis. Kaum jemand traut der SPD noch zu, die Probleme zu lösen. Schon gar nicht im Osten Deutschlands; schließlich hat die DDR-Geschichtsschreibung das historische Versagen der SPD minutiös dargestellt. Und verdankt die Linke die Verbreiterung ihrer Basis nicht der Agenda 2010 eines SPD-Kanzlers namens Gerhard Schröder? Der 1998 mit hohen Prozentzahlen im Osten zum Kanzler gewählt worden war?

Der so oft verkündete Neuanfang der SPD kann nicht gelingen, ohne sich mit den Weichen stellenden historischen Vorgängen auseinander zu setzen, zumal der 100. Jahrestag der so dramatisch gescheiterten Revolution von 1918/1919 ins Haus steht. Eine kluge SPD sollte sich endlich diesem Thema stellen, möglichst ohne die „Wir-wollen-unser-Blut-zurück!“-Rhetorik eines Egon Bahr. Denn die könnte schnell nach hinten losgehen.

In die Stunde der Niederlage fällt der 25. Todestag Willy Brandts. Einen wie ihn könnten sie jetzt brauchen, hört man aus SPD-Kreisen. Aber könnte der Parteiapparat einen Vorsitzenden ertragen, der sich nicht gängeln und bevormunden lässt, der zu zur Not einen Wahlkampf alleine gewinnt – im Bündnis mit der Parteibasis? Um keine anderthalb Jahre später – auch vom Parteiapparat – gestürzt zu werden?

Die SPD heute erinnert an jene Geschichte von dem betrunkenen Mann, der seinen verlorenen Schlüssel im Schein einer Straßenlaterne sucht. Von einem Passanten angesprochen, was er da mache, antwortet der Mann, dass er seinen Schlüssel suche. Ob er ihn denn hier verloren habe, fragt der Passant. Nein, antwortet der Betrunkene und zeigt in einen dunklen Bereich jenseits des Lichtkegels und fügt hinzu: „Aber da ist es zu dunkel zum Suchen.“

Die SPD wird es nicht wagen, den Schlüssel zu ihrem anhaltenden Niedergang in der eigenen dunklen Vergangenheit zu suchen. Besinnt sie sich eines Besseren, würde es wieder spannend. Anzunehmen ist das nicht.

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