Tagesdosis 11.6.2019 – Die System-Medien (Podcast)

Der Kapitalismus erlaubt nicht die Diskussion über den Austritt aus der NATO, fördert aber eine Debatte, damit alle Geschlechter und sexuelle Minoritäten Soldaten werden können.

Es ist etwas faul in Medienhausen. Einiges. Es ist nicht übertrieben, von einer Krise des Mediensystems zu sprechen.

Ein Schlaglicht: Einerseits kristallisieren in der deutschen Bevölkerung bei einer wissenschaftlichen Befragung zur Glaubwürdigkeit der Medien die Antworten an beiden Enden des Spektrums aus. Sowohl die Anzahl der Menschen, die den Medien überhaupt nicht trauen, als auch die Anzahl, die ihnen voll und ganz vertraut, wird seit Jahren größer. Diese Spaltung in konträre Lager mit völlig unterschiedlicher Sicht auf die Realität ist ein Symptom der westlichen Gesellschaften.

Erstaunlicherweise ist in China die Anzahl der Menschen, die Vertrauen in Medien haben, etwa doppelt so groß wie in den USA. Hätten Sie das für möglich gehalten? Bemerken Sie den Widerspruchsgeist in sich, der sofort an die Luft will? „In China können die Leute doch nicht frei antworten. Da gibt es doch gar keine freien Medien, denen man vertrauen könnte. Die Daten können nicht stimmen. Wer hat die Umfrage gemacht?“

Mit anderen Worten: Sie wollen es nicht wahr haben. Auch das ist ein Symptom für die Medienkrise. Denn woher stammt ihre falsche Weltsicht, derer sie so sicher sind? Aus den Medien. Wie fast alles, was sie von der Außenwelt wissen. Und wie ist das möglich? Haben die Journalisten selbst so wenig Ahnung von China? Oder lügen sie? Eher nicht. Aber sie neigen wie wir alle dazu, Dinge nicht wahrzunehmen, die unseren Vorurteilen widersprechen.

Für den normalen Menschen ist das eine Frage der Aufmerksamkeitsökonomie. Vorurteile sind bis zu einem gewissen Grad sinnvoll. Wir kommen im praktischen Leben nicht ohne Vorurteile zurecht, weil wir zu viel zu schnell entscheiden müssen, als dass wir den Dingen immer auf den Grund gehen könnten. Aber im Journalismus sind Vorurteile ein systemisches Versagen. Es ist seine Aufgabe, eigentlich bei jedem Bericht den Dingen auf den Grund zu gehen. Zumindest aber, nicht ständig komplett daneben zu liegen.

Ein weiteres und wirklich lustiges Beispiel ist die Tatsache, dass „Lügenpresse“ im Jahr 2014 zum Unwort des Jahres wurde und Claas Relotius 2014 von CNN zum Journalisten des Jahres ernannt wurde. Die etablierten Medien, die sich selbst den Titel „Qualitätsmedien“ verleihen und vorbehalten und vor „Fake News“ warnen, haben ein Qualitäts- und Glaubwürdigkeitsproblem, weil sie Fake News verbreitet haben.

Was damit zusammenhängt, dass auch hier ein Kristallisationsprozess gewirkt hat. Journalistenkollegen haben treffend beschrieben, wie zum Beispiel in der Spiegel-Redaktion einerseits ein Klima der Arroganz einzog, in dem sich eine Elite ihr eigenes Reportage-Königreich zimmerte, einen Herrenclub, zu dem nur wenige Zugang hatten.

Anderseits werden in diesen Kammern der Macht die Regeln des dramaturgischen Erzählens wichtiger als Recherchegenauigkeit. Man nahm es nicht mehr genau mit den Tatsachen, man schrieb wie ein Romanautor, als ob man in den Kopf von Personen kriechen konnte und deren innerste Beweggründe kenne. So entstand ein Atelier, in dem nicht photorealistisch, sondern expressionistisch gearbeitet wurde, in dem Claas Relotius mit Münchhausen-Literatur reüssieren konnte und einen Journalisten-Preis nach dem anderen abräumte.

Das Geheimnis seines Erfolges war, dass er ein untrügliches Gespür dafür entwickelte, was in den Chefredaktionen erwünscht war. Nicht, dass er in der Realität jagte und Tatsachenberichte apportierte. Dass so etwas passieren konnte, ist kein Einzelfall, sondern Indikator eines systemischen Problems. Darüber wäre zu diskutieren.

Es gibt auch finanzielle Probleme, die existenzbedrohend sind. Die Anzeigenkunden, die früher den Zeitungen und Zeitschriften Wasser unter dem Kiel verschafften, sind verschwunden, sie machen jetzt die Internetgiganten wie Google, YouTube oder Facebook reich.

Der Printjournalismus stirbt, er ist ein Zombie: bereits tot, aber er weiß es selber nicht. Es gibt einen Strukturwandel des Mediensystems. Der Kapitalismus, der lange Jahre eine mehr oder weniger gut funktionierende freie, vielfältige Presse produzierte, frisst jetzt das Mediensystem auf. Im Printjournalismus schwindet die Vielfalt dramatisch und die Qualität der Berichterstattung ist überall schlecht.

Immer weniger Journalisten müssen immer mehr „Content“ in immer kürzerer Zeit produzieren. Das ist eine Arbeitsweise, die dem Journalismus nicht bekommt. Aber die Logik des Kapitalismus produziert eben nicht eine Vielzahl von Konkurrenten der Sinnproduktion mit unterschiedlichen Interpretationen der Realität, sondern 60 TV-Kanäle aus denen die gleiche Soße quillt, weil auch noch alle 60 Kanäle, aus oft nur einer einzigen, dubiosen Quelle gespeist werden, siehe „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“. Was eine Einladung zur Manipulation ist, die gerne angenommen wird.

Dass Geheimdienste und staatlich Stellen die Medien manipulieren, ist nicht neu, aber in seiner Dimension und Virulenz auch in den Medien unbekannt. Was wiederum ein systemisches Versagen der Medien ist, denn sie sollten die besten Experten bei diesem Thema sein, um die Öffentlichkeit und sich selbst gegen Manipulation so wirksam wie möglich zu immunisieren.

Der ständige Kampf der etablierten Medien gegen „Verschwörungstheorien“ und die Abwesenheit der Berichterstattung über Verschwörungshypothesen, das heißt, investigative Berichterstattung, die auf Indizien und Beweisen beruht und damit bestätigt oder widerlegt werden kann, führt dazu, dass staatliche Verschwörungen leichter durchführbar sind.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk verbraucht immense Summen, etwa 9 Milliarden Euro, und produziert dafür erstaunlich wenig Programm und bietet dafür einen Debattenraum, dessen Enge bei Hunden als tierquälerische Zwingerhaltung verboten wäre.

Die BBC zum Beispiel verbraucht etwa die Hälfte an Geld, sendet weltweit, ist in Sachen Debattenraum nach großer Vergangenheit leider ebenfalls ein abschreckendes Beispiel, produziert aber immer noch Überraschungen und bildgewaltige Dokumentationen.

Bei ARD und ZDF, im „Unterhaltungskombinat Frohsinn“, herrscht dagegen zusätzlich zur Enge meist auch mutloses Fernsehen der Ausprägung „Musikantenstadl“ vor. Was damit zusammenhängen könnte, dass der Durchschnittszuschauer bereits in Rente ist und die Jugend vollständig abwesend.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist keine Heimstatt der Vielfalt, kein Dschungel, der von vielgestaltigen Lebensformen besiedelt wird. Er ähnelt eher einem Friedhofsparkplatz mit Koniferenbewuchs. Schade um die gute Idee! Was damit zusammenhängt, dass die Sender von jeher viel zu sehr mit der politischen Macht verfilzt sind und die Bevölkerung nur als Empfänger brauchen.

Weil aber der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus Sicht der Konservativen in den 1970er Jahren zu links war, sie wähnten sich durch zu linke Programme um die korrekten Wahlergebnisse betrogen, die sie an die Macht gebracht hätten, wurde der private Rundfunk eingeführt. Sein Eskapismus sorgt seitdem für Party-Stimmung auf der Titanic. In Sachen investigativer Journalismus oder gar geopolitischer Übersicht könnte der private Rundfunk entfernt werden, ohne dass ein unwiederbringlicher Verlust zu beklagen wäre.

Als neues Schwein am Trog sind seit einigen Jahren zunehmend alternative Medien am Start. Es ist wenig erstaunlich, dass die etablierten Schweine mit Wegbeißen reagieren. Wenn die Platzhirsche darüber bestimmen dürfen, ob Konkurrenz sinnvoll ist, braucht es keine hellseherischen Fähigkeiten, wie das Urteil ausfällt. Und wenn man sich in der Enge des Debattenraumes häuslich eingerichtet hat, wird jede Erweiterung des Zwingers als Gefahr für die Demokratie deklariert, nicht als Bereicherung.

Und es gibt das neue Phänomen des Internets und der YouTube-Welt, die zum Beispiel Rezo als Akteur hervorgebracht hat. Rezo, der eigentlich in der Freilaufzone des Streichelzoos beheimatet war, in der es bunt, fröhlich und werbeunterstützt zugeht, mit immensen Zuschauerzahlen bei der Jugend und so fetten Gewinnen, dass sich dort eine neue Werbeindustrie installiert, an der alle Big Dogs teilnehmen, auch alle Medienhäuser, die Agenturen sprießen wie Pilze aus dem Boden, in genau diesem Stechelzoo hat Rezo für einen politischen Tsunami gesorgt, der jetzt in die etablierten Medien schwappt und die betonierten Fundamente des Mediensystems und seiner Machtverteilung wegspült. Das wird Folgen haben.

Soweit eine grobe Übersicht des Ist-Zustandes.

Den Soll-Zustand definiert das Bundesverfassungsgericht. Weniger durch Angaben, wie das Mediensystem auszusehen hat, sondern durch Vorgaben, was es leisten soll. Das ist im Wesentlichen schnell erklärt. Die Medien sind, als Erscheinungsform der Meinungsfreiheit, „schlechthin konstituierend“ für die Demokratie.

Sie erhalten Sonderrechte, damit sie ihre Aufgabe erfüllen können. Das reicht vom verringerten Mehrwertsteuersatz bis zum Zeugnisverweigerungsrecht. Sie sollen dafür einen Markplatz des Diskurses herstellen, den Meinungskampf darstellen und befeuern, sie sollen Vielfalt bieten, müssen staatsfern sein, ausgewogen sein, das heißt, die Vielfalt der Meinungen in der Bevölkerung sollte auch in den Medien vertreten sein.

Mit anderen Worten: Die Medien sollen ein vor Vitalität strotzender Dschungel sein und eben kein Friedhofsparkplatz. Und der Staat ist dazu aufgerufen, diesen Dschungel keinesfalls zu roden, sondern ihn zu schützen und zu gießen.

Der Staat soll einsehen, dass er diesen Dschungel braucht. Er soll einsehen, dass ein guter Medienwachhund sogar ab und an die Hand beißt, die ihn füttert. Er soll die Weisheit aufbringen, dass ein Mediensystem nur dann ein gutes Mediensystem ist, wenn es staatliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht kontrolliert und kritisiert.

Wie ein Gärtner, der Totholz wegschneidet, Lichtschneisen schlägt und trübe Gewässer belüftet, um möglichst viel Leben zu haben. Und in der Gesellschaft, wie sie ist, muss das zunehmend auch für die Konzerne gelten. Die Freiheit wird von der Macht bedroht und die liegt nicht nur in der Hand des Staates.

Und damit stellt sich eine Frage, die auch in den Medien geflissentlich umgangen wird: Wie könnte ein Mediensystem aussehen, das sich nach diesem Soll-Zustand richtet? Ein Mediensystem, das seine Aufgabe erfüllt und Taktgeber des Maßes der gesellschaftlichen Veränderung ist? Die kann sehr unterschiedlich sein.

In einigen Bereichen ist es überlebenswichtig, viel schneller, viel effektvoller zu reagieren, als bisher üblich. In anderen wird der radikale Wandel auf geradezu extremistische Art vom Staat verordnet. Oder von der Wirtschaft. Ohne dass es einen Konsens gibt.

Wir haben uns an den Ist-Zustand der Medien gewöhnt, an die Kritik dieses Ist-Zustandes und an die Unveränderlichkeit des Ist-Zustandes. Und wir haben gelernt, bis zur Erschöpfung, uns an die bestehenden Verhältnisse immer nur anzupassen.

Was zu einer wirklichen Veränderung vor allem fehlt, ist ein Ziel. Eine Utopie, was schlicht bedeutet wörtlich: Ein Ort, den es noch nicht gibt. Utopie bedeutet nicht: unmöglich. Was fehlt, als Bedingung, ohne die es nicht geht, ist die Vorstellung, die Vision eines Mediensystems, das seine Aufgabe erfüllt. Wie ist es beschaffen? Muss das öffentlich-rechtliche System abgeschafft werden? Umgebaut? Ausgeweitet? Wie kann der Debattenraum erweitert werden? Wie macht man aus dem Friedhofsparkplatz einen Dschungel?

Wenn man das Thema so angeht, kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Die Diskussion über die Welt, wie sie sein sollte, und wie man sie erreicht, ist im Kapitalismus nicht erwünscht, er existiert durch die Anpassung an die absolute Herrschaft der herrschenden Verhältnisse, nur in Nischen ist Innovation erwünscht. Deswegen darf zum Beispiel über Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender diskutiert werden, als wenn es das wichtigste Problem der Welt sei.

Der Kapitalismus erlaubt nicht die Diskussion über den Austritt aus der NATO, aber er fördert eine gesellschaftliche Diskussion, damit alle Geschlechter und auch sexuelle Minoritäten NATO-Soldaten werden können. Das ist die Freiheit, die er meint.

Diese Herrschaft durch Alternativlosigkeit hat sich zunehmend auchdie Politik zu eigen gemacht. Aber bei den Medien ist eine Veränderung durchaus eine realistische Option. Denn wir haben, zum Glück, einen wesentlichen Bestandteil, der verändert werden kann, einen artfremden Bestandteil des Kapitalismus, nämlich die öffentlich-rechtlichen Medien und die Alternativmedien, in denen darüber öffentlich über die Bedingungen nachgedacht werden kann, wie diese Veränderung wirklich werden könnte , die andere Veränderungen möglich machen würde.


Redaktionelle Anmerkung: Besuchen Sie den Vortrag „System-Medien“ von Dirk Pohlmann, den er im Rahmen der neuen Reihe „WIR – Wissen Ist Relevant“ am 13. Juni 2019 in der ehemaligen Landesbildstelle in 10555 Berlin, Wikingerufer 7, um 18 Uhr halten wird. Der Eintritt ist frei. Mehr Informationen zum Thema finden Sie hier. Eine Anmeldung zum Vortrag ist via publikum@wissen-ist-relevant.de möglich:

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Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

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Dieser Beitrag erschien am 11.06.2019 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

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