Die größte Demonstration der DDR-Geschichte forderte nicht die Einheit, sondern einen besseren Sozialismus.
Von Andreas Peglau.
Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Radikaler Einschnitt
Am 19. Januar 1989 konstatierte Erich Honecker, SED-Generalsekretär und Vorsitzender des Staatsrates:
„Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“
Dass diese Einschätzung im Westen ebenfalls nicht nennenswert infrage gestellt wurde, belegte im selben Monat eine Entscheidung der Axel-Springer-Presse: Jahrzehntelang hatte man dort DDR in Gänsefüßchen gesetzt, um deren Existenzrecht zu bestreiten. Damit sollte nun Schluss sein.
Ein Dreivierteljahr später war die Situation grundlegend verwandelt. Im Sommer hatten Zehntausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihr Land — vor allem über die sich öffnende ungarische Grenze — in Richtung Westen verlassen. Oppositionsgruppen wie das „Neue Forum“ gewannen enorm an Zulauf, in Leipzig und anderen Städten forderten immer mehr Menschen auf „Montagsdemonstrationen“ Reformen ein. Am 7. Oktober versuchte die SED-Führung, den 40. Jahrestag der DDR zu begehen als sei alles beim Besten. Polizei und Staatssicherheit schlugen noch einmal zu — im wörtlichen wie übertragenen Sinne — als sich auch dagegen Protest erhob. Am 18. Oktober wurde Erich Honecker vom SED-Politbüro in den erzwungenen Ruhestand geschickt und durch Egon Krenz als SED-Generalsekretär abgelöst. Die DDR-weiten Demonstrationen schwollen weiter an. Am 9. November öffnete sich die Berliner Mauer …
Fragwürdiger Mauerfall-Kult
Offiziell übliche Sichtweisen werten dieses Geschehen heute meist so: Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger hatten von ihrem Staat schon lange die Nase voll und gingen dafür auf die Straße, um endlich auch so leben zu können wie im Westen; die „friedliche Revolution“ erzwang zu diesem Zwecke die Grenzöffnung, dann kamen die Wiedervereinigung und mit ihr die langersehnte Freiheit. Im Grunde, so der falsche Tenor, erhielt die DDR-„Wende“ ihre Krönung durch den von Beginn an intendierten Mauerfall.
Doch in Wirklichkeit läutete der 9. November das Ende der Versuche ein, innerhalb der DDR eine politische „Wende“ herbeizuführen. Was es an revolutionärer Energie gegeben hatte, verpuffte nun, diffundierte durch die aufgerissene Grenze in den kapitalistischen Nachbarstaat.
Statt das in vieler Hinsicht marode DDR-System weiter umzukrempeln, forderte bald darauf eine Mehrheit, möglichst reibungslos in einem anderen — keinesfalls veränderungswilligen — System aufgehen zu dürfen. Aus dem antiautoritären Ruf „Wir sind das Volk!“ der Montagsdemonstranten wurde die Vereinnahmungsbitte „Wir sind ein Volk!“.
Das Tempo dieses Umschwungs bewies: Das Interesse der Massen an einer DDR-Erneuerung kann nicht so tiefgründig gewesen sein, wie es vor dem Mauerfall den Anschein hatte. Die politischen Aktivisten hatten in ihrem Engagement vorübergehend viele andere mit sich gerissen — die ihr Mäntelchen schnell wieder nach dem — nun aus Richtung Westen blasenden — Wind hängen lassen sollten. Eine ganze Reihe der Aktivisten hielten es mit Letzterem allerdings genauso.
Für demokratischen Sozialismus
Die Vision, welche ursprünglich die DDR-„Wende“ motivierte, hatte jedoch mit einem alsbald vereinigten Deutschland gar nichts zu tun. Da ging es allermeist um etwas völlig anderes: um „wirklichen“, „richtigen“, „demokratischen Sozialismus“, um die Übernahme von Perestroika und Glasnost aus der von Michail Gorbatschow geführten Sowjetunion.
Dazu wurde unter anderem die Aufhebung der SED-Alleinherrschaft gefordert, demokratische Wahlen, die Zulassung von Bürgerrechtsbewegungen, Versammlungs- und Redefreiheit, die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und das Ende geheimdienstlicher Überwachung, die ungeschminkte Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, inklusive des Stalinismus, das Offenlegen der ökonomischen Misere, das In-Angriff-Nehmen der ökologischen Probleme, die Beendigung von Pressezensur und Verdummung durch weitgehend gleichgeschaltete Medien, die Einführung nichtautoritärer Schulmodelle oder der Ausbau von Fahrradwegen. Mit anderen Worten: eine ebenso brisante wie bunte Mischung kreativer Vorschläge zur Reformierung und Verbesserung der Deutschen Demokratischen Republik — nicht zu ihrer Abschaffung.
Es gibt zahlreiche Dokumente, die diese ursprüngliche Stoßrichtung belegen. Dazu gehört eine von mehr als 3.000 Rockmusikern, Liedermachern und Unterhaltungskünstlern wie Gerhard Gundermann, Tamara Danz oder Lutz Kerschowski unterschriebene, am 18. Oktober 1989 veröffentlichte Resolution.
Dort hieß es:
„Wir (…) sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Partei- und Staatsführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält. Es geht nicht um ‚Reformen, die den Sozialismus abschaffen‘, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen.“
Noch am 26. November verlas Stefan Heym den unter anderen von Christa Wolf formulierten Aufruf „Für unser Land“:
„Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.
Oder
wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.
Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen.“
Knapp 1.170.000 DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger setzten ihre Namen darunter. Doch auch sie konnten nichts mehr daran ändern, dass die BRD-Führung unter Helmut Kohl nun die Führung eines Prozesses übernahm, den Daniela Dahn 2019 als „feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen“ charakterisierte. Oder auch als „Aufbruch nach Kohlrabien“.
Die damit einsetzende Diffamierung von all dem, was es in der DDR an Positivem und Eigenständigem gegeben hatte, sorgte zugleich dafür, dass kaum noch jemand Genaueres weiß oder wissen will von jenem Ereignis, das den Höhepunkt der Bemühungen um einen demokratischen Sozialismus im Osten Deutschlands darstellte.
Einzigartige Massendemonstration
Die Zahl der Menschen, die am 4. November 1989 einem Aufruf der Berliner Theaterschaffenden folgten, wird meist auf eine Million geschätzt. In jedem Fall war es die größte spontane, nicht staatlich gelenkte Kundgebung, die es in der DDR je gab.
Um 10 Uhr startete der Zug in Berlin-Mitte, zog von der Prenzlauer Allee durch die Karl-Liebknecht-Straße zum Palast der Republik, weiter zum Marx-Engels-Platz, schließlich durch die Rathausstraße zum Alexanderplatz. Das gesamte Stadtzentrum wurde dabei durchmessen, der Sitz der wichtigsten Regierungsstellen — Staatsrat, Außenministerium, Zentralkomitee der SED, Volkskammer, Rotes Rathaus … — einbezogen, bevor die mehr als dreistündige Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz begann. Das DDR-Fernsehen übertrug live und vollständig.
Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch die Schauspielerin Marion van de Kamp:
„Liebe Kollegen und Freunde, Mitdenker und Hierbleiber!
Wir, die Mitarbeiter der Berliner Theater, heißen Sie herzlich willkommen. Die Straße ist die Tribüne des Volkes — überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird. Hier findet keine Manifestation statt, sondern eine sozialistische Protestdemonstration.“
Auf einem winzigen Podium traten sodann prominente Schauspieler, Schriftsteller, Liedermacher, Wissenschaftler, ein Anwalt, zwei Theologen, der ehemalige Chef der Auslandsspionage, Angehörige von SED-Politbüro und -basis, des Neuen Forums, der Initiative für Frieden und Menschenrechte und andere auf — inmitten eines Meeres aus Menschen, die ihre eigenen Ansichten und Forderungen durch emotionsgeladene Zwischenrufe hinzufügten und durch selbst hergestellte Transparente: „Gegen Monopolsozialismus — Für demokratischen Sozialismus!“, „Privilegien weg — Wir sind das Volk“, „Keine Gewalt — Wir bleiben hier!“, „Demokratie — kein Chaos!“, „Gemeinsames Spiel für gesunde und behinderte Kinder — Schranken weg!“, „Freie Presse für Freie Menschen“, aber auch schon die Warnung vor erneuter Anpassung: „Lasst euch nicht verWENDEN!“.
Keine Frage, das war ein basisdemokratisches Großereignis ersten Ranges, ein Meilenstein nicht nur für die ost- sondern auch für die gesamtdeutsche Historie. Oder wie es der Schriftsteller Stefan Heym auf der Bühne am Alexanderplatz formulierte:
„Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.
(…) Der Sozialismus — nicht der Stalinsche, der richtige —, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.“
Auszüge aus weiteren Redebeiträgen unterstreichen, um was es ging.
„Hoffnung, Fantasie, Frechheit und Humor“
Jan Joseph Liefers, Schauspieler:
„Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden. Neue Strukturen müssen wir entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus. Und das heißt für mich unter anderem auch Aufteilung der Macht zwischen der Mehrheit und den Minderheiten.“
Marianne Birthler, Jugendreferentin im Stadtschulamt, Initiative Frieden und Menschenrechte:
„Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor. Diese Hoffnung, die seit ein paar Wochen endlich in der DDR wächst, sollte, bevor sie so groß wurde wie heute, am Abend des 7. Oktober und in den Tagen und Nächten danach niedergeknüppelt werden. (…) Bis heute ist nicht beantwortet: Wer hat die Befehle gegeben, wer hatte die politische Verantwortung.“
Jens Reich, Molekularbiologe, Neues Forum:
„Freiheit ist Befreiung, und wir alle müssen uns frei machen von Angst, von der Angst, es könnte alles aufgezeichnet und später gegen mich verwendet werden, — von feiger Vorsicht, nur nicht den Kopf aus dem Salat stecken, sonst gibt’s einen drauf, — von Kleinmütigkeit, es hat ja doch keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten. Nein, wir müssen unser Verfassungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen, vor dem Lehrer, vor der Behörde, überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dies Recht ausübt, nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht.“
Gregor Gysi, Rechtsanwalt, SED-Mitglied:
„Wir haben inzwischen viele Anglizismen aufgenommen, wogegen ich nichts habe. Aber von der russischen Sprache haben wir nur das Wort Datscha übernommen. Ich finde, es ist Zeit, zwei weitere Worte zu übernehmen: nämlich Perestroika und Glasnost. Und wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen.“
Christoph Hein, Schriftsteller:
„Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Begeisterung täuschen! Wir haben es noch nicht geschafft. Die Kuh ist noch nicht vom Mist. Und es gibt noch genügend Kräfte, die keine Veränderungen wünschen, die eine neue Gesellschaft fürchten und auch zu fürchten haben. (…) Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet.“
Christa Wolf, Schriftstellerin, SED-Mitglied:
„Mit dem Wort ‚Wende‘“ habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur Wende!‘, weil der Wind sich gedreht hat und ihm ins Gesicht weht. Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? (…) Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. ‚Unten‘ und ‚oben‘“ wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang. (…)
Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!.“
Den Schlusspunkt der Veranstaltung zu setzen, blieb der 81-jährigen Schauspielerin Steffie Spira, ebenfalls SED-Mitglied, vorbehalten:
„1933 ging ich allein in ein fremdes Land. Ich nahm nichts mit, aber im Kopf hatte ich einige Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht: Lob der Dialektik.
So wie es ist, bleibt es nicht.
Wer lebt, sage nie Niemals.
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein.
Und aus Niemals wird: Heute noch!“
Nachbetrachtung 2004
Ein weiterer Redner, der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer, rekapitulierte am 4. November 2004 in einem Interview die Bedeutung dieses Tages:
„Als Sie am 4. November auf dem Alexanderplatz zu Toleranz und Friedfertigkeit aufriefen — hatten Sie da eine Ahnung, was fünf Tage später geschehen würde?
Schorlemmer: Keine besondere. Und ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch nicht die geringste Sehnsucht nach dem, was man heute fälschlicherweise den Mauerfall nennt.
Fälschlicherweise?
Schorlemmer: (…) In Wahrheit nahm sich das Volk das Recht, die Mauer zu überwinden. In Wahrheit war es kein ‚Mauerfall‘, sondern ein Mauerdurchbruch.
Würden Sie heute die gleiche Rede halten wie am 4. November 1989?
Schorlemmer: Ja. Ich bin sehr froh, dabei gewesen zu sein. Für mich bleibt der 4. ein wichtigeres Datum als der 9. November.
Warum?
Schorlemmer: Weil damals das ‚D‘ noch für Demokratie stand und nicht für ‚Deutschland‘ oder ‚D-Mark‘. Der 4. November war der Tag, an dem — und das ist selten in der deutschen Geschichte — ein demokratischer Aufbruch passierte. Vertreter dieses kleinen Völkchens beendeten mit Klarheit, Konsequenz und menschlicher Fairness den Machtanspruch der SED und damit eine Diktatur. (…)
Die deutsche Einheit war kein Thema?
Schorlemmer: Nur im Kontext einer europäischen Einigung à la Gorbatschow. Es ging uns zunächst um eine demokratisierte DDR.“
Dementsprechend gehörte der 4. November 1989 rot angestrichen und deutlich hervorgehoben in der jüngsten deutschen Geschichtsschreibung und -darstellung.
Doch es existiert trotz der erhalten gebliebenen TV-Aufzeichnungen nicht einmal ein käuflich erwerbbarer Video-Mitschnitt davon. Zwar gibt es immerhin eine CD mit auf dem Alexanderplatz gehaltenen Reden — aber ein bloßes, zumal gekürztes Audio-Dokument fängt weder Atmosphäre noch Dimension dieses Ereignisses ein, lässt dessen Bedeutung bestenfalls erahnen (1).
Mehr als ein Zeitdokument
Eine audiovisuelle Erinnerungsstütze an diesen Tag hätte freilich nicht nur zeitgeschichtliche, sondern auch aktuelle Bedeutung: Zu einem erheblichen Teil muss die Kritik, die damals SED-Führung und DDR-Gesellschaft traf, inzwischen in ähnlicher Weise an Bundesregierung und BRD-Gesellschaft gerichtet werden.
Das zeigt unter anderem ein weiterer Auszug aus der Rede Stefan Heyms:
„Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei.“
Der Ergänzung „oder einer Clique von Superreichen und Konzernchefs“ hätte er definitiv zugestimmt, nur war das damals noch keine absehbare Gefahr in der sich scheinbar erneuernden DDR. Weiter Stephan Heym:
„Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger.“
Dass heute auch hierzulande von Bürgerkontrolle — oder von „Glasnost“, Transparenz der Politik — keine Rede sein kann, ist mittlerweile so offenkundig, dass ich keine Belege dafür anführen muss. Aber auch die damals auf dem Alexanderplatz erhobene Forderung nach dem Ende der Bespitzelung durch Geheimdienste hat sich ja, wie mittlerweile nicht mehr zu verleugnen, mit dem Ende der DDR nicht erledigt. Und Kritik an systematisch desinformierenden Massenmedien ist im Deutschland des Jahres 2019 ebenfalls längst wieder bitter nötig.
Die Geschehnisse des 4. November 1989 laden daher ein zum Erinnern — und zum Vergleichen: Wie aufrecht ist unser Gang heute? Was haben sich die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger davon erhalten, was sich da im Herbst ‘89 an Mut, Kreativität, Aufbruchsstimmung zeigte? Diese Frage ist umso drängender, als die „rechts“lastige AfD-Führung bei den letzten Landtagswahlen erfolgreich Parolen missbrauchte, die seinerzeit dazu gedacht waren, im östlichen Teil Deutschlands einen demokratischen Sozialismus entstehen zu lassen. Nur, wie gesagt: Das weiß inzwischen kaum noch jemand …
Quellen und Anmerkungen:
(1) Es fehlen dort die vier Songs von Wenzel und Mensching, zwei von Gerhard Schöne und einer von Jürgen Eger, die die Kundgebung einleiteten (Patrick Bauer: Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. Der 4. November 1989 und seine Geschichte, Hamburg 2019, S. 151-167).
Mit Hilfe des Internets kann aber ein fast vollständiges Bild der Demonstration erstellt werden. Ich habe daher die Links zu den einzelnen Reden und Auftritten dieser Veranstaltung zusammengesucht und in die richtige Reihenfolge gebracht, sodass sie, hintereinander betrachtet, den 4. November 1989 ein Stück weit nacherlebbar machen: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/eine-sozialistische-protestdemonstration-berlin-alexanderplatz-4-november-1989/
Entsprechendes ist inzwischen auch hier verlinkt. Einen Hinweis, dass es dort um demokratischen Sozialismus auf dem Boden der DDR ging, habe ich auf dieser Seite nicht entdeckt.
Die Reden sind — allerdings nicht in jedem Fall vollständig — auch hier nachzulesen.
In dieser Videopräsentation der Ausstellung des Deutschen Museums finden sich auch die genauen Uhrzeiten, zu denen die Redner auftraten.
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Dieser Beitrag erschien am 09.11.2019 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildhinweis: wellphoto / Shutterstock
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