Tagesdosis 10.7.2018 – Triumph des Wollens (Podcast)

Ein Kommentar von Mathias Bröckers.

Nach ein paar Wochen WM vermisse ich meine Fussballpause am globalen Lagerfeuer. Weil ich gerade an einer größeren Arbeit sitze, hatten die Spiele die Tage irgendwie schön strukturiert. Dass auch die deutsche Mannschaft wie Spanien, Italien und Argentinien dem Weltmeister-Syndrom zum Opfer fiel und früh ausschied, störte nicht weiter. Bei diesem Syndrom scheint es sich ja auch weniger um ein sportliches als um ein systemisches Problem zu handeln, weil man die Turnierhelden, wenn sie ihre Schuldigkeit getan und den Titel geholt haben eben nicht einfach in die Wüste schickt, sondern ihnen schon ehrenhalber Stammplätze und Platzhirschstatus einräumt.Was den Aufstieg der Jungen und eine Auswahl der wirklich Besten naturgemäß erschwert. Und weil Platzhirsche oft nicht mehr so richtig wollen, weil sie ja schon mal hatten, kommen dann so saft,-und kraftlose Auftritte heraus wie die der Deutschen gegen Mexiko, Schweden und Südkorea.

Fußball, so konnte man bei den Spielen dieser Weltmeisterschaft sehen, ist eben auch ein Triumph des Wollens und nicht nur der Passgenauigkeit und des Ballbesitzes. Wer blasiert und bräsig die Kugel hin und herschiebt wie La Mannschaft kann keinen Blumentopf mehr gewinnen. Dass viele Teams ins Viertelfinale gekommen sind, deren Marktwert nur einen Bruchteil dessen der ausgeschiedenen Teams wie Deutschland oder Spanien beträgt, ist ein gutes Zeichen: Wollen und Willen, Courage und Engagement, Mannschaftsgeist und Teamspirit – immaterielle Eigenschaften, die sich nicht so einfach zusammenkaufen lassen – sind für den Ausgang der Spiele mindestens so wichtig wie der Marktwert der Spieler.

“Aufgabe des Fußballs ist es, den Nationalismus in Folklore zu verwandeln” hat der Spielmacher des FC Schmiere, Wolfgang Neuss, einmal zu mir gesagt, als ich über das Fähnchen,-Hymnen und Nationalgehabe bei Weltmeisterschaften meckerte. Ein sehr kluger Satz, der mir dann auch das ganze “Schland”-Getue beim “Sommermärchen” 2006 erträglich machte. Die These, dass dadurch Nazitum und AfD gefördert worden wären, halte ich für Quatsch. Richtig dagegen ist, das auch ideologisch aufgeladene Begriffe wie “Heimat, “Vaterland”, “Nation” nichts anderes sind als Folklore und der Fußball, bei dem nur mit Bällen statt mit Raketen geschossen wird und sich die feindlichen Lager statt mit Kanonen mit Fähnchen, Gesängen und Tschingederassabum “bekämpfen”,  kulturell und zivilsatorisch als großer Fortschritt gelten muß. Statt Mauern und Grenzen Dreier,-und Viererketten, statt exterritorialen “Transitzentren” Vorstopper, statt “Endlösung” Elfmeterschießen.

Das wahrscheinlich beste Spiel dieser WM haben wir schon ganz am Anfang gesehen: das 3:3 zwischen Portugal und Spanien war technisch, spielerisch und vom Unterhaltungswert ein absoluter Hochgenuss. Aber beide flogen raus. Ballbesitz und Technik allein reichen einfach nicht. Und so haben es Belgien und Kroatien – ein kleines und ein sehr kleines Land – unter die besten Vier geschafft. Und durchaus gute Chancen, sogar ins Finale zu kommen. Wenn Zwerge den Weltmeister unter sich ausmachen nachdem sie alle Riesen aus dem Feld geschlagen haben, wäre der Triumph des Wollens perfekt.

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