Ein Kommentar von Julia Szarvasy.
Eigentlich wollte ich hier und heute über Gender schreiben. Darüber, dass mir die Omnipräsenz etwaiger Themen wie Transgender, „schwangere Personen“ (die Bezeichnung „werdende Mutter“ gilt nämlich als diskriminierend), Toiletten für Intersexuelle etc. langsam auf den Zeiger geht. Doch dann hab ich es mir anders überlegt. Ich sah heute in der Therme ein schwules Paar mit einem behinderten, scheinbar unter Spastik leidenden Kind. Die beiden Männer trugen den Kleinen auf ihren Händen durch das warme Solebad, damit er im warmen Wasser schweben und den Klängen unter Wasser lauschen konnte. Einer der Männer lächelte mir dabei freundlich zu, denn auch ich trug meine Tochter durch das dunkle Wasser, ihre Ohren unter Wasser, damit sie die Klänge von Vivaldi hören konnte. Es war berührend, den beiden muskelbepackten Männern mit ihren Tätowierungen zuzusehen, wie sie sich darüber freuten, dem Jungen zu helfen, seine verkrampften Glieder zu entspannen… In diesem Moment war ich sehr stolz auf unsere Zivilisation, die es ermöglicht, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht blöd angeguckt oder schlimmer noch, angefeindet werden und behinderte Menschen Fürsorge und Respekt erfahren. So wie ich auch darüber glücklich bin, dass jede andere Minderheit im Hinblick auf ihre Sexualität, Religion oder unorthodoxe Lebensmodelle selbstbestimmt und unbehelligt leben darf. Bei aller sicher auch berechtigten Kritik zum Genderhype, würden meine Zeilen- hätte ich mich für dieses Thema entschieden- mit hoher Wahrscheinlichkeit Vorurteile schärfen, Wut erzeugen und einen weiteren Tropfen im Fass der Spaltung bedeuten. Und überhaupt: Gendermainstream ist nicht das Problem der Stunde.
Spaltung ist das Problem der Stunde.
Wir wissen, die Dinge stehen nicht gerade zum Besten, es sieht sogar richtig mies aus: Unsere Welt erlebt in diesem Moment grausamste Kriege, apokalyptische Umweltzerstörung, schreiend ungerechte und dramatisch wachsende Ungleichheit… Verelendung der menschlichen Seele durch ein seelenloses System.
Wie konnte es nur so weit kommen? In meinem Leben habe ich noch nie einen Menschen kennengelernt, von dem ich ohne Zweifel behaupten konnte: Das ist ein richtig schlechter, ein böser Mensch! Ich habe schwierige Menschen kennengelernt, misstrauische, einfältige, naive und vorurteilbehaftete, ich habe vermeintlich oberflächliche, eingebildete, ungebildete, angeberische und aggressive Menschen kennengelernt und Menschen, die von sich behaupten, die einzige absolute Wahrheit zu kennen, während sie alle anderen als blöde abstempeln. Man begegnet den zuletzt genannten Menschen immer wieder in den Kommentarspalten bei YouTube, Facebook und Co. Die Leute, denen wir auf der Straße begegnen, so unterschiedlich und eigentümlich sie auch sein mögen, sind keine bösen Menschen. Ich bin davon überzeugt, dass alle von ihnen menschliches Mitgefühl und eine Art moralischen Kompass besitzen. Ich bin mir außerdem sicher, dass alle Menschen in Frieden leben möchten, ohne vergiftete Meere, ohne Ausbeutung, ohne Angst vor Armut und Verwahrlosung. Aber obwohl kein Mensch Krieg und Umweltzerstörung, Leid und Elend wollen kann, sehen wir uns immer stärker davon umgeben.
Denn was wenn wir Menschen in einem System lebten, in dem uns erzählt wird, schon in der Schule, dass es richtig, gut und notwendig, ja dass es alternativlos ist, wie die Welt eingerichtet ist? Militäreinsatz in Syrien? Unbedingt, denn Assad ist ein Giftgas-geiler Schlächter. Abholzung im Amazonas? Kein Thema für die Tagesschau. Waffenlieferungen an Saudi-Arabien? Was kümmert es die Printmedien, wenn in der Rüstungsindustrie die Kasse klingelt? Massensterben im Jemen? Jemen, nie gehört, wo ist denn das? Kam gar nix im Radio. Radioaktiver Abfall in hunderttausenden von Fässern in unseren Meeren? Klingt gruselig, ist aber nichts fürs Schulbuch, im Ernst, wollen Sie unsere Kinder ängstigen? Naziaufmarsch in Chemnitz? Oh ja, das kam auf allen Sendern! Voller Nazis dieses Sachsen. Putin manipuliert westliche Wahlen? Das muss so sein, denn es stand in ganz vielen Zeitungen. Unsere Bundeskanzlerin sagt, dass Wahlversprechen nicht eingehalten werden müssen? Hat sie das gesagt? Wo wurde das denn ausgestrahlt? Die Brutkasten-Story war eine Kriegslist? Brutkasten-was? Es ist so amüsant wie niederschmetternd, das alles aufzuzählen, aber ich höre langsam auf, denn es scheint klar, was ich ausdrücken möchte: Die deutsche (und nicht nur die deutsche) Bevölkerung, im Kern gutmütige Menschen, wird im 21. Jahrhundert manipuliert, desinformiert und einseitig gebildet. Und zwar besser als jemals zuvor, denn wir befinden uns im 21. Jahrhundert und die Psychologie und Soziologie hat in den letzten einhundert Jahren fleißig geforscht. An dieser Stelle sei die Arbeit von Prof. Dr. Rainer Mausfeld mit drei Ausrufezeichen hervorgehoben. Menschen werden so manipuliert, dass sie ihre wahren Feinde und die wahren Gefahren nicht erkennen können. Und sie werden so raffiniert manipuliert, dass sie es nicht mal merken. Aberwitziger Weise musste ich feststellen, dass häufig Menschen mit der höchsten Bildung eine systemkonforme Weltanschauung verteidigten. Aber im Grunde verwundert es nicht wirklich. Jura- oder VWL-Studenten bringt man im Studium nicht bei, dass wir überhaupt keine Demokratie sind oder der Neoliberalismus die größte Geißel der Gegenwart für Menschheit und Natur ist.
Sie, die Leser dieses Artikels, wissen das. Und Sie, liebe Leser, haben mit Sicherheit schon die Erfahrung gemacht, wie es einem ergehen kann, wenn man diese Dinge im Familien- oder Freundeskreis, auf Arbeit, an der Uni oder im Internet kundtut. (Jetzt kann jeder einmal im Stillen zählen, wie viele menschliche Verbindungen auf diese Weise schon zerrüttet oder gebrochen wurden. Bei mir waren es zum Glück nur vier).
In Deutschland hat sich eine zersplitterte Generation von „Gutmenschen“, „besorgten Bürgern“, „Rotgrünversifften“, „Verschwörungstheoretikern“, „Schlafschafen“, „Rattenfängern“, „Bahnhofsklatschern“, „Antisemiten“, „Islamophoben“ und „Rechtspopulisten“ entwickelt. Viele kleine Grüppchen von Menschen, die meinen, für die richtige Sache einzustehen. Viele kleine Grüppchen, die sich nicht mal mehr im Traum vorstellen können, mit den anderen Grüppchen in einem ehrlichen Dialog die Ansichten des anderen zu erfragen, vielleicht sogar verstehen zu lernen.
Ich sah es erst kürzlich wieder: In den Kommentaren unter einem Interview mit einer Band, die in ihren Liedern den Krieg ächtet, war zu lesen, dass man diese Band gar nicht ernst nehmen könne, da sie sich solidarisch mit der „Wir-sind-mehr“-Bewegung zeigt… Autsch. Da ich die Band persönlich kenne, weiß ich, dass sie bestückt ist von guten Menschen mit einem funktionierenden moralischen Kompass. Dass sich die Musiker dieser Band solidarisch zeigten mit einer vermeintlich spontan entstandenen Bürgerbewegung, die dem Anschein nach gegen Fremdenfeindlichkeit auftritt, ist auf den ersten Blick sehr begrüßenswert. Rassismus ist menschenverachtend, darin sind sich vermutlich die allermeisten Menschen einig. Dass es sich bei Chemnitz und „Wir-sind-mehr“ jedoch viel wahrscheinlicher um ein Politikum, eine Ablenkung und ein weiteres Mittel zur Spaltung handelt, ahnt die besagte Band auch heute nicht und wundert sich wahrscheinlich über die erbosten Statements unter ihrem Interview.
Was war nur passiert? Eine Band hat gedacht, etwas Gutes zu tun, wenn sie sich mit einer Bewegung gegen Rassismus solidarisiert. Das Resultat: Die Gutmenschen freuen sich darüber und sehen ihr Weltbild bestätigt, die Wutbürger schäumen vor Wut und sehen sich darin bestätigt, dass alle Künstler vom Staat instrumentalisiert werden, die Verschwörungstheoretiker belächeln die Naivität der Musiker und die Schlafschafe haben das Interview gar nicht gesehen – Ja, ich überspitze absichtlich. Und so hat eine kleine gut gemeinte Geste dazu geführt, dass die Spaltung wieder ein klein wenig weiter vertieft wurde und sogar die Fans einer Band untereinander in Streit geraten.
„Divide et impera“, teile und herrsche, war schon eine Maxime im Römischen Reich, auch im Absolutismus war der Leitspruch „Trenne und herrsche“ ein beliebtes Instrument des Machterhalts. Sobald Staaten oder Bürger eines Landes Konsens erreicht haben und gegen eine Unterdrückung ankämpfen, muss der Zusammenhalt der Gruppe zerschlagen werden, denn damit stirbt auch der Widerstand an sich. Die kommunistische internationale Arbeiterbewegung wurde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts durch Spaltung zerschlagen, die deutsche Friedensbewegung erlebte und erlebt es einhundert Jahre später. Aber auch außerhalb großer oder kleiner Widerstandsbewegungen wird die Bevölkerung gespalten. Es beginnt bereits bei unseren Wahlen. Wir wählen Parteien. Das Wort Partei stammt vom lateinischen „pars“, zu Deutsch: Teil oder Stück. Und tatsächlich, nur ein Teil der deutschen Bevölkerung wollte, dass Angela Merkel mächtigste Person im Land wird. Um genauer zu sein: lediglich 24,9 Prozent der Menschen. Woher diese Zahl? Man bereinige dazu das Wahlergebnis der CDU bei den Bundestagswahlen 2017 vom Anteil der CSU und füge in die Rechnung den Anteil der Nichtwähler ein: et voila! Niederschmetternd, nicht wahr? Ein läppisches Viertel der Bevölkerung steht hinter der Politik der Kanzlerin, während die große Mehrheit unzufrieden, wütend, ohnmächtig und resigniert ist. Und dass der Großteil unzufrieden und wütend ist, kann man irgendwie nachvollziehen: Schauen wir doch mal, was Angela Merkel in ihrer bisherigen Regierungszeit so alles erreicht hat:
Verdoppelung der in Armut lebenden Erwerbstätigen, Anwachsen der Kinderarmut auf 20, 3 Prozent (Tendenz steigend), ebenfalls dramatisch steigende Altersarmut, die geringste Reallohnentwicklung innerhalb der EU, die geplante Erhöhung des Militäretats auf 70 Milliarden Euro, bevorstehender Kollaps des Gesundheits- und Pflegesystems, Stellenabbau in Polizei, Justiz und Bildung, erfolgreiche Spaltung der Bevölkerung durch den Alleingang in der Flüchtlingspolitik, Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Militäreinsätze der Bundeswehr in 13 Ländern, Ausbeutung des Mittelstandes, Kaputt-Konkurrieren unserer europäischen Nachbarn durch Exportüberschuss zum Dumpingpreis, Ausbau von Teilzeit- und Leiharbeit, Sanktionen gegen Russland, die Verlängerung des Einsatzes von Glyphosat für weitere 5 Jahre und so weiter und so fort.
Das ist keine Demokratie. Hätten wir Volksherrschaft, gäbe es keine in Armut lebenden Kinder und Rentner, kein Gift auf unseren Äckern, kein marodes Gesundheitssystem, kein Giftspucken gegen Russland, keine Einmischung bei Konflikten anderer Länder. Hätten wir Demokratie, könnte etwas Gutes aus den Menschen für die Menschen entstehen. Eine friedliche, gerechte Gesellschaft.
Doch wir sind Lichtjahre davon entfernt, eine echte Volksherrschaft zu sein und wir sind leider auch Lichtjahre davon entfernt, eine Volksherrschaft einzufordern. Obwohl es theoretisch möglich ist! Im Grundgesetz findet man auf der letzten Seite den Artikel 146. Er verkündet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Na also, zur Wende hatte man den Artikel scheinbar vergessen oder verdrängt, aber der Artikel gilt bis heute und schon Ende des Jahres könnte Schluss sein mit neoliberaler Vetternwirtschaft und heuchlerischer Scheindemokratie (auch repräsentative Demokratie genannt). Aber die Betonung liegt auf „könnte“. Unsere Träume für eine bessere Zukunft und jede noch so tolle Utopie werden ewig Konjunktiv II bleiben.
Denn wir sind zutiefst gespalten. Die Spitze der Machtpyramide braucht nicht zu befürchten, dass der Pöbel sich verbrüdert und die Systemfrage stellt. Dafür geht es dem Pöbel doch noch viel zu gut, verhungern muss ja keiner. Außerdem ist der Pöbel viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen und der Pöbel wird durch eine Medienlandschaft verunsichert und fehlinformiert, dass er keine logischen Schlüsse mehr ziehen kann, des Weiteren wird der Pöbel fabelhaft bespaßt und abgelenkt. Ja, nicht nur „Teile und herrsche“, auch „Brot und Spiele“ funktionieren gut seit dem römischen Kaiserreich.
Ich möchte diesen Artikel nicht hoffnungslos beenden, im Gegenteil. Es gibt noch eine Maxime der Herrschaft und die lautet „Wissen ist Macht“. Wissen ist der Schlüssel, um dieses zerstörerische System zu überwinden. Die Menschen müssen darüber aufgeklärt werden, dass Kriege illegale Rohstoffraubzüge sind, sie müssen erfahren, weshalb die Massentierhaltung neben der Kernkraft eine der größten Umweltsünden seit Menschengedenken ist, die Menschen müssen erfahren, wie Demokratie sabotiert wird, sie müssen darüber aufgeklärt werden, wie es drei Familien schaffen, die gesamte deutsche Medienlandschaft zu dominieren und mit welchen Mitteln man Meinungen nach Belieben verändert. Sie müssen erfahren, dass afrikanische Sklavenkinder die Bestandteile unserer Smartphones aus der Erde wühlen. Die Menschen müssen demokratische und ökologische Alternativen kennenlernen. Die Menschen müssen die Möglichkeit zum gesellschaftlichen Wandel kennenlernen und sie müssen erkennen, dass sie sich nicht davor zu fürchten brauchen.
All das geht nicht mit der Brechstange oder mit dem erhobenen Zeigefinger. Diese Art der Aufklärung muss aufrichtig sein, denn sie ist unsere einzige Chance, unseren Kindern mehr zu hinterlassen als verbrannte Erde. Dazu ist es nötig, mit allen zu sprechen. Respektvoll. Wir müssen wieder anfangen, uns als Mitmenschen zu betrachten. Der glatzköpfige Springerstiefelträger ist genauso Mensch wie das verschleierte Mädchen, das nicht am Schwimmunterricht teilnimmt. Der Jura-studierende FDP-Sympathisant ist genauso Mensch wie der als Verschwörungstheoretiker verunglimpfte Blogger. Die frustrierte Kassiererin im Netto ist genauso Mensch wie die Bankangestellte im schicken Nadelstreifenkostüm. Um es mit den Worten des Schweizer Historikers Dr. Daniele Ganser auszudrücken: Wir sind alle Teil der Menschheitsfamilie.
Die Menschen, die man dieser Tage auf der Straße protestieren sieht, egal für oder gegen welche Ideologie auch immer: Alle sind beseelt von dem Wunsch, gute Menschen zu sein. Das ist eigentlich eine sehr gute Voraussetzung, eine bessere Welt zu gestalten. Wir müssen uns nur auf einen simplen Konsens einigen: Wenn wir zum Beispiel Demokratie wollen, müssen wir sie einfordern. Wir müssen es endlich tun und wir dürfen uns auf gar keinen Fall länger spalten lassen.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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