Tagesdosis 07.05.2018 – Die heute über Marx reden…

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Er sei ”ein lausiger Prophet” gewesen, schrieb die Wirtschaftswoche. ”Zeitgemäß oder verklärt?”, fragte die Tagesschau. »Marx vom Sockel holen«, forderte Die Zeit nach der Enthüllung einer Marx-Statue in dessen Geburtsstadt Trier. Um mit einem weiteren Artikel nachzulegen. In seinen Büchern stehe ”allerlei krudes Zeug”. Emotional aufgeladen fuchtelten Journalisten, die offenbar Marx´ Hauptwerk, Das Kapital, nie gelesen hatten, mit einem moralisierenden Zeigefinger herum. An seinem 200 Geburtstag, dem 5. Mai, war Karl Marx in den Medien präsent wie nie. Man entflammte sich, wie Propaganda eben funktioniert, an überemotionalisierten Nebenschauplätzen. Just der Diskurs auf Sachebene fehlte im Mainstream.

Dabei ist Marx´ Kapital weit entfernt von ideologischer Propaganda. Detailliert und kühl analysierte der Philosoph darin die Funktionsweise des Kapitalismus zu seinen Lebzeiten im 19. Jahrhundert. Es zu lesen, könnte mit allerlei kursierenden wilden Theorien aufräumen. Zum Beispiel, dass nur fiese Politiker die sozialen und ökonomischen Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts produzierten. Dass das System an sich gar ganz okay sei, wenn der Staat nur nicht immer eingreifen würde. Oder aber, dass die Politik einfach nur Gesetze für die »kleinen Leute« machen müsse, und alles wäre gut.

So glaubt der eine, man könne sich einfach ausklinken. Andere meinen, Probleme national lösen zu können. Die meisten finden Marx` Analysen völlig überholt. Und die herrschenden Meinungsmacher setzen sie allzu gerne mit Stalins Gulags oder Stasiknästen gleich, in der Hoffnung, niemand möge im Ansatz verstehen, wie die kapitalistische Wirtschaft zur Erzeugung unserer materiellen Lebensgrundlage überhaupt funktioniert.Doch man könnte lernen. Zum Beispiel: Was ist eigentlich Kapital? Die bürgerlichen Ökonomen wollen uns weismachen, Kapital seien Maschinen, Fabriken, Bodenschätze, also die Produktionsmittel. Auch das Geld sei Kapital. Tatsächlich ist Geld eine allgemeine Ware. Geld drückt den Wert der anderen Waren aus.

Geld und Produktionsmittel begreift Karl Marx erst in der Bewegung als Kapital: Der Kapitalist setzt Geld ein, um Produktionsmittel und Arbeitskraft zu kaufen. Er lässt Waren produzieren und verkaufen, um mehr Geld daraus zu machen, dieses wiederum entsprechend anzulegen, um noch mehr Geld zu generieren. Und so weiter. Das ist der Akkumulationsprozess, dem jeder Kapitalist unterworfen ist, wenn er nicht untergehen will. Nicht etwa die Versorgung der Bevölkerung mit Waren, sondern die stete Kapitalakkumulation ist der irrationale Selbsterhaltungszweck des Systems. Nicht ohne Grund unterscheidet Marx zwischen Gebrauchs- und Tauschwert der Waren. Ersterer sei nur lästiges Beiwerk für den Kapitalisten. Denn den Profit beschert ihm der Tauschwert. Ist der Gebrauchswert gering, führt häufiger Nachkauf sogar zu mehr Profit.

Der Zwang zur steten Akkumulation ist die Grundlage für das gepredigte Paradigma vom ewigen Wirtschaftswachstum. Das strebt nicht nur aus sich heraus nach Globalisierung des rohstoffbedürftigen Marktes, nach Unterwerfung schwächerer Länder, nach exzessiver Ausplünderung der Umwelt. Marx wusste: Das Kapital stößt zyklisch an seine Grenzen. Es kommt zu Absatz- und Anlageschwierigkeiten. Die Profitrate sinkt. Lohndumping, Entlassungen, Massenerwerbslosigkeit, Verelendung folgen. Das Wachstum stagniert weiter. Es droht die Rezession. Am Ende folgt der Krieg: Zerstörung, Neuaufteilung, Wiederaufbau. Es sind die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, die zu zyklischen Wirtschaftskrisen führen.

Der Kapitalismus strebt danach, alles zu einer Ware zu machen. Lohnarbeit gehört sowieso dazu. Der Begriff Humankapital für Lohnabhängige spiegelt es zynisch wider. Der Arbeiter soll Waren produzieren, die deren Besitzer, also der Unternehmer, für Profit vermarkten kann. Marx spricht von entfremdeter Arbeit.Wer kein Vermögen hat, das er als Kapital einsetzen kann, ist gezwungen, seine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Nicht umsonst sprechen die Herrschenden vom Arbeitsmarkt. Die kapitalistische Produktion lebt von der Lohnabhängigkeit der Masse und der Kapitalist vom Abschöpfen des Mehrwerts aus selbiger.

Marx stellt klar: Mehrwert ist nicht der Gewinn, der durch geschicktes Tauschen, also billig ein- und teuer verkaufen entsteht. Er wird allein durch Arbeitskraft erzeugt. Technologie entwickeln, Maschinen bauen, Käufer werben – für all das ist bis heute menschliche Arbeit nötig. Der Lohn des Beschäftigten entspricht dabei nicht dem von ihm erzeugten Wert – also dem Erlös vom Warenverkauf minus Aufwendungen für die Technologie. Sein Lohn ist niedriger. Im Verhältnis  arbeitet er so vielleicht drei Stunden pro Tag, um sein eigenes Gehalt zu generieren – die restlichen fünf Stunden arbeitet er für den Unternehmensgewinn.

Mehrwert ist nach Marx »seinem Wesen nach lebendige, bei der Produktion verausgabte Arbeit, die sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet.« Das nennt man Ausbeutung. Sie wird verschleiert, weil der Arbeiter offiziell für acht Stunden entlohnt wird. Es scheint, als entspringe der Überschuss der Geschäftstüchtigkeit und dem Organisationstalent des Kapitalisten. Mehrwert versteckt sich im Unternehmergewinn, im Profit, im Zins.

Die Eigentumsverhältnisse definieren nach Marx die Hauptklassen im Kapitalismus. Viele schreien, die Linken wollten das kleine Eigenheim oder den privaten Gemüsegarten enteignen. Doch wie oben beschrieben, geht es um kapitalistisch verwertbares Eigentum, also um Eigentum an Produktionsmitteln, nicht um das Häuschen zum Wohnen, den Kühlschrank oder die Zahnbürste. Marx spricht vom permanenten Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Doch davon wollen selbst viele Linke nichts mehr hören. Die Sozialdemokraten suggerieren bis heute, den Klassenkampf mittels »Sozialpartnerschaft« bändigen zu können, ja, gar beseitigt zu haben.

Tatsächlich tobt der Klassenkampf ständig. So ist der Kapitalist daran interessiert, die Ware Arbeitskraft so billig wie möglich einzukaufen, um möglichst hohen Profit einzufahren. Er kann nicht anders handeln, wenn er nicht untergehen will. Der Lohnabhängige indes ist an einem auskömmlichen Lohn interessiert. Jede kleine Verbesserung seiner Lebensbedingungen musste seine Klasse seit Anbeginn der kapitalistischen Produktionsweise vor rund 500 Jahren hart erkämpfen.Ein Blick in die Gegenwart zeigt, der Klassenkampf von unten hat seine Power verloren. An Generalstreiks ist in der wirtschaftsstärksten Nation Europas nicht zu denken, nicht einmal an Großdemonstrationen von spürbarer Schlagkraft. Doch die Kapitalisten schlafen nicht. Mithilfe ihres Instruments, des Staats, führen sie den Klassenkampf um so härter fort. Lohndumping, Sozialabbau, prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind die Folgen, die wir live in Deutschland erleben.

Die aktuellen Bestrebungen der Politik, die Arbeitszeit auszuweiten, Arbeitnehmerrechte abzubauen, das Rentenalter heraufzusetzen – trotz massiver Produktivitätssteigerungen durch den technologischen Fortschritt – sind Klassenkampf von oben. Auch die imperialistische Kapitalflucht, die schleichende Globalisierung des Arbeitsmarktes sind Klassenkampf von oben.  Auch die jüngsten Rentenkürzungen, Einschnitte in der medizinischen Grundversorgung und die Hartz-Gesetze sind Klassenkampf von oben.Und wer meint, der Kapitalismus sei so schlecht nicht und all die modernen Erscheinungen im monopolisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, wie Hartz IV inklusive Sanktionsapparat in Deutschland, seien nur Auswirkungen neoliberaler Eskapaden böser Politiker – auch dem sei das Kapital ans Herz gelegt. Über die Weber während der Baumwollkrise im Jahr 1863  schreibt Marx im ersten Abschnitt des 6. Kapitels, Band III:

»Wurde der schlechteste Hundelohn angeboten und der Arbeiter wollte ihn nicht annehmen, so strich das Unterstützungskomitee ihn von der Unterstützungsliste. Es war insofern eine goldene Zeit für die Herren Fabrikanten, als die Arbeiter entweder verhungern oder für jeden dem Bourgeois profitabelsten Preis arbeiten mussten, wobei die Unterstützungskomitees als ihre Wachhunde agierten. (…) Die Unterstützungskomitees handelten in diesem Punkt mit großer Strenge. War Arbeit angeboten, so wurden die Arbeiter, denen sie angeboten wurde, von der Liste gestrichen und so gezwungen, sie anzunehmen.«

Wer jemals in der Not war Hartz IV beantragen zu müssen, kennt den Repressionsapparat der Jobcenter, mit dem sie Erwerbslose mittels Androhung von Kürzungen oder Streichungen ihres Existenzminimums in jede Arbeit zu jedem Lohn zwingen können. Mindestlohn gilt für Hartz-IV-Bezieher nämlich nicht.Vor 155 Jahren war es nicht anders. Die staatlichen Hartz-IV-Erpressungsämter hießen Unterstützungskomitees. Die polnischen, bulgarischen, rumänischen, italienischen und spanischen Arbeitsmigranten heute waren im England des 19. Jahrhunderts die mittellosen irischen Wanderarbeiter. Die damaligen Herren Fabrikanten werden heute verkörpert durch Großaktionäre und Spekulanten.

Die kapitalistische Verwertungsbarbarei, die alles ihrem Markt unterwirft, funktioniert heute wie damals. Nur der Produktivitätsextremismus im modernen spätkapitalistischen Arbeitshaus wurde auf die Spitze getrieben. Das Kapital ist überakkumuliert in riesigen Monopolen. Auch das hat Marx vorausgesehen.Der Lohnabhängige war und ist ein Subjekt im kapitalistischen Verwertungsprozess. In ständiger Konkurrenz kämpft er gegen andere Lohnabhängige um Arbeitsplätze und Behausungen. Die Eigentümer der Produktionsmittel und Lohnsklaven stehen sich, wie eh und je, feindlich gegenüber.

Das ist so. Da ist es völlig egal, ob Marx ein guter oder schlechter Familienvater war, ob Stalin Gulags errichtete, die Marx nie vorgesehen hatte oder ob die Stasi Unschuldige in Knäste steckte. Doch Personen und ihre Charaktere lassen sich einfacher kritisieren, als ein so umfassendes Werk mit seinem wichtigen Inhalt.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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