STANDPUNKTE • Die lepröse Republik (Podcast)

Ein Standpunkt von Dagmar Henn.

Lepra ist eine Krankheit, die die Nerven befällt und zum Absterben des Schmerzempfindens führt. Leprakranke verlieren Gliedmaßen, weil sie Verletzungen nicht mehr wahrnehmen; sie stoßen, schneiden, verbrennen sich, ohne es zu bemerken. Die fehlende Selbstwahrnehmung führt zu stetiger Selbstverstümmelung.

In den fernen Jahren meiner Kindheit waren es noch Filme über Lepra, mit denen wir Kinder erschreckt wurden, nicht solche über Umweltgifte oder Klimawandel. Wir mussten die Aufnahmen handloser, fußloser, nasenloser Erkrankter im Unterricht über uns ergehen lassen, um zum Geldsammeln für Lepraspitäler in Afrika motiviert zu werden. Dabei gab es auch in unserer Umwelt Hand- und Fußlose, die entweder Resultat des Krieges oder des noch nicht lange zurückliegenden Contergan-Skandals waren; aber weder das Verbrechen des Krieges noch das der Pharmakonzerne waren Thema des Unterrichts…

Das Deutschland von heute scheint unter einer Form politischer Lepra zu leiden. Es verstümmelt sich zusehends, aber nirgends ist eine Schmerzreaktion zu erkennen. Wie kann es sein, dass in einem der reichsten Länder die Wirtschaftsleistung und der Reichtum beständig steigen, die Lebensbedingungen der Mehrheit sich aber stetig verschlechtern? Wie kann es sein, dass niemand Scham zu empfinden scheint, wenn hunderttausende keine Wohnung haben, wenn die Schulbildung immer seltener gesichert ist, wenn das Gesundheitssystem an immer mehr Stellen die Versorgung nicht mehr leistet?

Eigentlich sollte schon die Pünktlichkeitsstatistik der Bahn dafür ausreichen, die Verantwortlichen geteert und gefedert aus der Stadt zu jagen, und das ist noch ein minderes Verbrechen auf der Liste, weil der Menschen zugefügte Schaden in anderen Bereichen noch weit größer ist. Die Hälfte der Renten unter 800 Euro? Keine nationale Schande?

Jedes soziale Thema wird einmal kurz durch die Gazetten gejagt und dann von drei Wochen Stickoxide abgelöst. Dabei sind es diese Themen, die über das alltägliche Wohl und Wehe entscheiden, sie gehen unter die Haut, aber sie werden nur als individuelle Probleme dargestellt und behandelt, und mit Hilfe entsprechend bösartig gestalteter Begriffe wie ‘sozial schwach’ wurde diese Sicht tief im Denken verankert.

Assistiert hat dabei jene bizarre Ideologie, die sich ‘antideutsch’ nennt, und der es gelang, selbst bei jenen, die sich für links halten, jeden Bezug auf Gemeinschaft oder gar Nation zum Baustein des Faschismus zu erklären.

Nun ist jedem, der Politik betrachtet, klar, dass die Rhetorik das eine ist, und das Handeln oft sehr klar das andere. Genau an diesem Punkt geht die antideutsche Lehre völlig in die Irre – sie blickt auf die Werbung der Nazis, und nicht auf den Inhalt der Packung. Der hatte nämlich eine eindeutige Richtung für sehr eindeutige Interessen. Schließlich bestanden die ersten Handlungen der Nazis, nachdem sie den Reichstag angezündet hatten (1), im Verbot nicht nur der KPD, sondern bald darauf auch der SPD, in der Ermordung oder Verhaftung der Parteiführungen und dann in der Zerschlagung der Gewerkschaften. Da braucht man nicht lange nachzudenken, um zu erkennen, dass es sich hier um eine Herrschaft im Interesse des Kapitals handelte, die schließlich Millionen auf die Schlachtbank des Weltkriegs führte, aber Milliarden für die Millionäre abwarf.

Niemand, der bei Sinnen ist, könnte behaupten, der Hitlerfaschismus sei im Interesse der deutschen Nation gewesen. ‘O Deutschland, bleiche Mutter, wie sitzest du besudelt unter den Völkern’, schrieb Brecht schon im Jahr 1933, als die schlimmsten Schrecken noch in der Zukunft lagen. ‘Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber die Unterdrückten beschuldigen dich?’ Bei diesem Satz kommt, angesichts der aktuellen Proteste in Chile, gleich das Lob in den Sinn, mit dem der Putschist Pinochet (2) ab 1973 bedacht wurde, als er als erster weltweit die neoliberalen Konzepte umsetzte (3), die auch unser Land heute ruinieren.

Als Maggie Thatcher dann Anfang der 1980er die selben wirtschaftlichen Maßnahmen in Großbritannien durchsetzte – und dazu erst einmal die Gewerkschaften zerschlug (4)-, prägte sie einen Satz, wie er so auch aus dem Mund eines Antideutschen stammen könnte: ‘There is no such thing as society’, so etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur Individuen.

Parallel zu den Maßnahmen, die hier nicht nur den Sozialstaat, sondern auch das ordentliche Funktionieren von Verwaltung und Infrastruktur durch den Schredder jagten, wurde die zugehörige Denke auch bei uns gepredigt. Die deutschen Gewerkschaften kapitulierten freiwillig; aber die Vorstellungen, die die Arbeiterbewegung einmal geschaffen hatte, der Gedanke der Solidarität, des Zusammenhalts der Klasse, selbst der Wunsch nach größerer ökonomischer Gleichheit musste aus den Köpfen gelöscht werden.

Die wichtigsten Hebel dafür waren ideologisch: Identitätspolitik und Antideutsche. Seither kann man fast jedes Kriterium, das den Menschen bestimmt, irgendwie in eine Trans-Form verwandeln, Gesichter zurechtschnitzen, Geschlechter wechseln, Nationalitäten, nur eines gibt es nicht: transfinanziell.

Das Recht, wie ein Reicher behandelt zu werden, obwohl das Konto leer ist, ist weder einklagbar noch operierbar, und während die Person sich in ein undefiniertes, wandelbares Bündel scheinbar individueller Eigenschaften verwandelt, bleibt nur eines in Stahl gegossen, der ökonomische Status, der Geldbeutel, der, auch wenn gerade darüber nicht gesprochen wird, an die Stelle all der anderen Dinge tritt, die zu überholten Eindeutigkeiten erklärt werden.

Wähle dir eines von 65 Geschlechtern, aber dein Geldbeutel sitzt an der Stelle, an der früher die Seele gesucht wurde, wird gewogen und bemessen und entscheidet über dein Schicksal.

Der Hitlerfaschismus benötigte noch eine soziale Mimikri; zu tief waren die Werte der Arbeiterbewegung in die Gesellschaft eingedrungen. Wer glaubt, diese Werte seien Grundlage des Nazismus gewesen, geht dem westdeutschen Sprachgebrauch auf den Leim, der die Nazis immer noch ‘Nationalsozialisten’ nennt, verwechselt den Werbespot mit dem Produkt. Eine Fliege mit schwarz-gelben Streifen wird dennoch keine Wespe. Die losgelassene Gewalt hätte alleine noch nicht gereicht, es brauchte die soziale Täuschung. Heute könnte eine neue Version auf jede soziale Ummäntelung verzichten und die Diktatur des großen Geldes völlig unverhüllt errichten, denn das, was Hitler noch fürchten musste, wurde erfolgreich ausgetrieben.

Diejenigen, die heute für das Volk, mit dem Volk sprechen müssten, sind mit edleren Dingen beschäftigt, luftigeren; sie würden sich schämen, das Wort zu gebrauchen, weil ihnen entglitten ist, dass ‘Volk’ im Gegensatz zu ‘Herrschaft’ steht, zu den Fürsten; dass man die Paläste benennen muss, gegen die man den Krieg führt, um den Hütten den Frieden zu ermöglichen. Solange diese Aufgabe nicht erfüllt wird, taumelt das Land weiter fühllos ins Nirgendwo.

Wirkliche Bewegung, wirklicher Widerstand ist konkret und sich seiner Geschichte bewusst. Kein nebelhaftes ‘wir sind mehr’ oder ‘unteilbar’ mit einem Wertgeschwalle wie aus der Sonntagspredigt.

Die gigantischen Demonstrationen in Chile letzte Woche begannen mit dem Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung, eine ganz kleine, aber sehr konkrete Forderung, und entwickelten sich von dort aus zu einer Bewegung gegen die ganze neoliberale Politik; das ist die natürliche Entwicklungsweise echter Massenbewegungen. Von 17 Millionen Chilenen waren zwei auf der Straße, an einem einzigen Tag, obwohl die Armee bereits eingesetzt wird und Demonstranten erschossen hatte. Auf bundesdeutsche Verhältnisse umgerechnet müssten neuneinhalb Millionen demonstrieren. Ähnlich war es in Portugal 2013 – nicht ganz elf Millionen Einwohner, eineinhalb Millionen auf der Straße.

Beides übrigens Länder, die ebenfalls faschistische Diktaturen erleben mussten; der gegenwärtige Machthaber in Chile ist sogar der Bruder eines früheren Ministers unter Pinochet. Das ähnelt schon sehr der bundesdeutschen Geschichte, in der die überwiegende Mehrheit der Nazis schlicht das Etikett wechselte und unter Adenauer fröhlich weiterregierte.

Die Chilenen aber wissen genau, auf wen sie sich aus ihrer Geschichte beziehen, und zeigen ihren Stolz auf ihren Widerstand. Kenntlich wird das an einem Lied. ‘El Derecho de Vivir en Paz’ stammt von dem Sänger Victor Jara (5), der nach dem Putsch ermordet wurde. Das ist die Verbindung der Bewegung in der Gegenwart mit jener in der Vergangenheit. Gleiches geschah übrigens in Portugal; alle 35 Kundgebungen schlossen mit ‘Grandola, Vila Morena’(6), dem Stück, das im Jahr 1974 das Signal für den Aufstand gegen die Salazar-Diktatur gab. Diese große Bewegung vor sechs Jahren erreichte nicht mehr als ein Entrinnen aus den Diktaten der Troika, die Portugal ähnlich unter der Knute hatte wie Griechenland. Die Lösung, die im Video nach dem Lied gerufen wird, stammt daraus: ‘O povo e quem mas ordena’, es ist das Volk, das jetzt befiehlt.

In Chile in diesen Tagen ist die Losung der Demonstranten jene, unter der die Unidad Popular Allendes ihren Wahlkampf führte: ‘O povo unido jamas sera vencido’, das einige Volk kann nicht besiegt werden. Die Gelbwesten in Frankreich schleudern der Polizei oft die Marseillaise (7)entgegen, die nicht nur Nationalhymne ist, sondern auch Revolutionslied, geschrieben für das Volksheer, das vor mehr als zweihundert Jahren die Revolution gegen die Invasionstruppen der feudalen Nachbarländer verteidigte.

Hierzulande halten sich Menschen für links, die den Besitzlosen die Wurst vom Brot nehmen, mit dem Kommentar, die Hungernden in Afrika hätten schließlich noch weniger. Die die berechtigte Sorge um das Land mit der flapsigen Bemerkung beiseite schieben, es ginge schließlich um die ganze Welt, und wie gelegen kommt es dabei, dass in Bezug auf die Welt in Deutschland wenig ausgerichtet werden kann – außer, sie vom gierigen Zugriff der deutschen Oligarchen zu befreien. Aber das ist ohne den Anspruch auf das Land, auf die Nation unmöglich, und das ist ja Nationalismus, wir sind schließlich Europäer und Wertewestler…

Die Fans von ‘Deutschland verrecke’, die sich in jeder Organisation eingenistet haben, die sich auch nur links dünkt, entsorgen nicht nur Hitler und die Seinen, sondern ebenso Müntzer, Büchner, Heine, Herwegh, Marx, Luxemburg, die Geschwister Scholl, Thälmann und Brecht. Sie erklären alle für rechts, die davon ausgehen, dass die Menschen einen Anspruch auf das Land haben, in dem sie leben.

Einen Anspruch auf ihren Anteil am geschaffenen Reichtum, auf ein Leben in Sicherheit und Frieden, auf ihre Sprache, Kultur und Geschichte und darauf, die Entwicklung ihres Landes zu entscheiden. Sie sind der Infarkt im Herzen des Widerstandes und die Lepra in den Nerven dieser Nation, Missionare der Sprachlosigkeit, die den nötigen und möglichen Strom des Zorns gegen benennbares Elend zu einem Bach halbbewussten Grolls verzwergen, der dann mühelos umgelenkt werden kann, etwa auf die Mühlräder der AfD.

Aber diese Krankheit ist heilbar, selbst wenn augenblicklich erst Ansätze dazu erkennbar sind. Deutschland, fast so tief im Herzen der Finsternis wie die Vereinigten Staaten, gärt noch still, aber die Völker Lateinamerikas sind in Bewegung geraten wie zuletzt Ende der 1960er.

Und der große globale Umbruch hat bereits stattgefunden. Im März dieses Jahres (8) erwiderte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums auf die Äußerungen des damaligen nationalen Sicherheitsberaters der USA, John Bolton, zu Venezuela: „Lateinamerika gehört keinem Land und ist niemandes Hinterhof“.

Auch wenn diese Aussage hierzulande kaum wahrgenommen wurde – sie wird einmal das Datum vorgeben, das das offizielle Ende des US-Imperiums markiert. So sehr sich die Bundesregierung bemüht, so zu tun, als sei nichts geschehen, so sehr der Praktikant im Auswärtigen Amt versucht, mit den deutschen Fingern in der lateinamerikanischen Suppe zu rühren, die großen machtpolitischen Pläne scheitern. Selbst in der EU kann Berlin die Leinen nicht mehr so straff halten, wie es das gern hätte, und die Exportwalze gerät gerade ins Stottern. Wenn die Fragen von Brot und Butter sich so rücksichtslos nach vorn drängen, wie sie es in Krisen zu tun pflegen, wird sich der antideutsche Spuk mit allen Begleitgespenstern in die Studierzimmer zurückziehen; der Schmerz wird wieder fühlbar und Abhilfe fordern.

Wie schrieb Brecht im ‘Lied von der Moldau‘(9):

Es wechseln die Zeiten, die riesigen Pläne
der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne,
es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Quellen:

  1. https://www.youtube.com/watch?v=pFjsAK_X9Vc

  2. https://www.youtube.com/watch?v=EeDU5k2Pq5k&t=184s 

  3. https://www.youtube.com/watch?v=oji4ZF1rM14 

  4. https://www.youtube.com/watch?v=dn7DZSagDI4
  5. https://www.youtube.com/watch?v=V_xRSfjCyrg 

  6. https://www.youtube.com/watch?v=cKfdrMgJh1Q 

  7. https://youtu.be/BwXkqHRkUpk?t=100 

  8. https://www.youtube.com/watch?v=oZAIJe0Sbp4 

  9. https://actualidad.rt.com/actualidad/309734-china-america-latina-pertenecer-ningun-pais 

  10. https://www.youtube.com/watch?v=rw4hjV_ohyM

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: MDOGAN / Shutterstock

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