STANDPUNKTE • Sofort, Unverzüglich

Ein Standpunkt von Thomas Petersen.

Am heutigen Samstag jährt sich zum 30. Mal der Jahrestag der Maueröffnung. Der 9. November 1989 war der Wendepunkt – der erste Tag, an dem DDR-Bürger ihr Staatsgebiet ohne staatliche Genehmigung verlassen konnten. Die DDR-Führung gestand der Bevölkerung die bis dahin unvorstellbare Reisefreiheit zu, weil sie durch die Massenflucht via Prag und Ungarn im Sommer 1989 unter immensen Druck geraten war. Aber: erst morgen, bitte schön! Das ging schief. Noch vor Mitternacht waren sämtliche Grenzübergangsstellen im geteilten Berlin offen, alle Schlagbäume oben und Walter Momper, Regierender Bürgermeister West-Berlins mit rotem Schal, übte sich als Verkehrspolizist am Übergang Invalidenstraße.

Ausgangspunkt der dramatischen Entwicklung war die nicht nur vom DDR-Fernsehen live übertragene Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße am frühen Abend. Jedes dort gesprochene Wort wurde in Millionen Haushalte übertragen. Nicht ein falsches Wort würde zurückzuholen sein. Natürlich war damit auch die Idee einer „Sperrfrist“ (Freitag, 10. November um vier Uhr morgens) erledigt. Aber warum hatte man Schabowski dann den Zettel mit der Reiseregelung überhaupt in die Hand gedrückt, als er zur Pressekonferenz fuhr?

In der Verordnung des Ministerrats, über die Schabowski informierte, wurden sowohl Reisen als auch „ständige Ausreisen“ behandelt. Anders ging es nicht mehr. Nur die ständigen Ausreisen, also die Übersiedlung in die Bundesrepublik, zu regeln hätte schließlich bedeutet, diejenigen, die West-Berlin oder die Bundesrepublik nur besuchen wollten, von vornherein auszuschließen.

Unter Punkt 2. a) des Beschlusses finden sich die berühmten Sätze:

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagensgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.“

Diese Sätze bedeuteten keineswegs das Ende der „befestigten Staatsgrenze“ (Schabowski), wohl aber eine nie dagewesene Durchlässigkeit der Mauer. Es war der Versuch, Druck abzulassen und die Dinge unter Kontrolle zu behalten.

Punkt b) berührt die ständige Ausreise.

„Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der VPKÄ (Volkspolizeikreisämter, u.s.) in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich.“

Auch hier: Die Kontrolle bleibt. Erst beantragen, die Visa werden dann „unverzüglich“ erteilt. Der Begriff „unverzüglich“ ist dehnbar – ein Tag, eine Woche? Niemand zieht von heute auf morgen um. Doch dieses Wort – unverzüglich – sollte an diesem Abend noch eine entscheidende Rolle spielen.

Ebenso wichtig war der lapidare Satz unter c): „Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.“ Dieser Satz hat es in sich. Nicht, weil hier erstaunlicherweise auf die DDR-übliche Bezeichnung „Westberlin“ verzichtet wurde, sondern weil hier erheblich in die Zuständigkeit der Alliierten betreffend den Status der Stadt eingegriffen wurde. Deutsche Politiker beider Seiten hatten nicht das Recht, in das komplizierte rechtliche System Berlins einzugreifen. Schabowski hatte zunächst noch die Möglichkeit weggelassen, auch nach „Berlin (West)“ einzureisen, und vervollständigte den Satz erst auf Nachfrage des Journalisten Peter Brinkmann von der „Bild“-Zeitung.

Was an diesem Abend in Berlin beiderseits der Mauer geschah – Stichwort: „Wahnsinn!“ – hätte nicht auf einer grünen Wiese stattfinden können. Der Druck vieler Menschen, die schnell zusammenkommen können: das geht nur in einer Millionenstadt, das geht nur an der Grenze, das geht nur in der geteilten Stadt, das geht nur in Berlin.

Der alles entscheidende Punkt war die Antwort auf die Fragen mehrerer jetzt doch einigermaßen erregter Journalisten nach dem Zeitpunkt, an dem die Regelung in Kraft treten sollte. Schabowski schaut auf seine Papiere: „Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort.“ Das ZK-Mitglied Helga Labs fügt hinzu: „Unverzüglich.“ Diese beiden Worte – „sofort, unverzüglich“ – führten dazu, dass nur wenige Minuten später die ersten Meldungen erschienen, wonach die DDR die Mauer geöffnet habe. Dies war aber keineswegs der Fall.

In der Berliner Abendschau erklärte Walter Momper nur eine knappe halbe Stunde später: „Es ist ein Tag, den wir uns lange ersehnt haben, seit 28 Jahren.“Dann bat Momper die Besucher aus dem Osten noch darum, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Drei Stunden später sprach Hans-Joachim Friedrich in den „Tagesthemen“ von einem historischen Tag, und der Zug der Massen zu den Grenzen schwoll noch weiter an.

Momper war schon im Laufe des Tages aus Ost-Berlin darüber informiert worden, dass am Abend etwas geschehen werde. Ging auch das auf Schabowski zurück, der dies Momper am 29. Oktober bei einem Treffen im Ost-Berliner Palasthotel versprochen hatte? Gehörte die Benachrichtigung des „Bild“-Reporters Peter Brinkmann, von dem die Nachricht zu Walter Momper (über dessen Staatssekretär Jörg Rommerskirchen) gelangt war, zu den Dingen, die Schabowski während der ZK-Sitzung mit Journalisten zu regeln hatte, wie er es später einmal schrieb?

„In dem Augenblick, in dem ich sie verlas, war die Nachricht geboren und verbreitete sich“, sagte Schabowski später über die historische Pressekonferenz. „Niemand konnte die Kugel mehr zurückholen, die in diesem Augenblick den Lauf verlassen hatte.“ Ohne diese beiden Worte („sofort, unverzüglich“) hätten die DDR-Bürger am nächsten Morgen die Volkspolizeikreisämter gestürmt – doch nun belagerten sie die Mauer. Schabowski, nicht ohne Genugtuung: „So kam es, dass die Grenze einige Stunden früher passierbar wurde, als es sich der rote Amtsschimmel ausgedacht hatte. “Aber so kam es auch, dass sie nie wieder geschlossen werden konnte.

War das die Absicht Schabowskis? Wir haben uns daran gewöhnt, dass wahlweise ein Zettel, ein Versprecher, ein Irrtum oder ein Trottel zur großen Zeitenwende vor 30 Jahren geführt hat. Darf man daran überhaupt noch zweifeln? Schabowski selbst hat sich nie eindeutig dazu geäußert. Er verstarb 2015.

Dem amerikanischen Fernsehjournalisten Tom Brokaw war 1989 gelungen, unmittelbar nach dem Ende der Pressekonferenz ein Interview mit Schabowski zu führen. Schabowski war völlig entspannt, berichtete Brokaw später. Er bat ihn, das Papier nochmals vorzulesen. Dann fragte er ihn: „Heißt das, die DDR-Bürger können jederzeit durch die Mauer nach drüben?“ Diese Frage wird in dem Film „Schabowskis Zettel“ übersetzt, nicht aber die Antworten Schabowskis, auch die zweite Frage Brokaws nicht. Schabowski antwortete: „They are not further forced to leave GDR by transit through another country.“ („Sie sind nicht mehr gezwungen, die DDR über Drittländer zu verlassen.“) Frage: „Is it possible for them to go through the wall at some point?“ („Ist es ihnen möglich, an einer Stelle die Mauer zu passieren?“) Schabowski: „It is possible for them to go through the border.” („Es ist ihnen möglich, die Grenze zu passieren.“)

Nach dem letzten Wort („border“), das er sehr betont, um es gegen das Wort „Mauer“ zu setzen, grinst Schabowski spitzbübisch in die Kamera. Wollte er mit dieser Antwort sagen, dass ihm klar ist, dass er vor wenigen Minuten die Mauer auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgt hat?

Der Historiker und Mauerfall-Experte Hans Hermann Hertle, Ideengeber für den Film „Schabowskis Zettel“, hält dieses Gespräch, geführt unmittelbar nach Schabowskis „Tat“ und darum sehr authentisch wirkend, für „surrealistisch“. Über Schabowskis Auftritt kurz vorher auf selbiger Pressekonferenz schreibt Hertle: „Die konfusen Informationen und die Hilflosigkeit, mit der Schabowski während der Pressekonferenz auf Nachfragen reagierte, sind die offensichtlichsten Belege für Schabowskis völlige Unkenntnis des Verordnungstextes.“ Aber kann man den Auftritt Schabowskis auch anders werten?

Spielte er vielleicht nur den Überraschten? Und hatte er – vielleicht erst während der Pressekonferenz – erkannt, dass er sich in einer magischen historischen Minute befand, mit ihm selbst als Hauptakteur? Zwei Worte würden ausreichen, um die Welt auf den Kopf zu stellen: „Sofort, unverzüglich“. Konnte er, könnte jemand dem widerstehen?

Der Mauerfall hat eine wenig bekannte Vorgeschichte. 1990 überraschte Walter Momper mit der Aussage, er habe sich schon Ende Oktober 1989 mit Günter Schabowski über das drohende Verkehrschaos nach der zu erwartenden Maueröffnung beraten. Das war das Treffen im Palasthotel. Dies habe umgehend zur Einsetzung einer Arbeitsgruppe im Schöneberger Rathaus geführt, die Berliner Verkehrsbetriebe wurden angewiesen, sich organisatorisch auf den Tag X vorzubereiten.

Momper wies in diesem Gespräch mit Schabowski im Berliner Palasthotel darauf hin, dass man sich in Ost-Berlin schleunigst überlegen müsse, wo weitere Grenzübergänge geschaffen werden könnten. Konkret war von den Bahnhöfen Potsdamer Platz, Jannowitzbrücke und Alexanderplatz die Rede. Diese U- und S-Bahnhöfe zeichneten sich dadurch aus, dass sie, obwohl im Stadtgebiet Ost-Berlins gelegen, von östlichen und westlichen Zügen passiert wurden. Seit dem Mauerbau fuhren die Wagen des westlichen Verkehrssystems ohne Halt durch 15 streng bewachte Geisterbahnhöfe auf Ost-Berliner Gebiet. Nur der Bahnhof Friedrichstraße diente als Grenzübergang. Dort hielten sowohl Ost- als auch West-Berliner Züge.

In diesem geteilten Bahnhof war ein kompliziertes Labyrinth aus Gängen, Warteräumen und Schalterhäuschen eingebaut worden. Dieser Bahnhof sei, so Momper zu Schabowski, auch ohne Maueröffnung schon überlastet.

Schabowski hatte darüber noch nicht nachgedacht. Er bat Momper, ihm diese Überlegungen schriftlich zukommen zu lassen, aber bitte nicht auf offiziellen Wegen, sondern über den Konsistorialpräsidenten der evangelischen Kirche und späteren Ministerpräsidenten Brandenburgs, Manfred Stolpe, der das Gespräch vermittelt hatte und auch daran teilnahm. Misstraute Schabowski, der die treibende Kraft beim Sturz Honeckers zehn Tage zuvor gewesen war, seinem Apparat? Oder wollte er sich von niemandem in die Karten sehen lassen?

Schabowski kündigte in diesem Gespräch ein Reisegesetz an, das den Namen auch verdient, doch der am 6. November 1989 im „Neuen Deutschland“ veröffentlichte Entwurf stieß auf herbe Kritik. So stand die neue SED-Führung weiterhin unter starkem Druck. Die Fluchtwelle Richtung Prag nahm wieder zu, und die Tschechoslowakei drohte nun offen mit der Schließung der Grenzen. Das Innenministerium wurde beauftragt, eine weitergehende Reiseregelung auszuarbeiten, die dann am 9. November vom Politbüro abgenickt wurde. Schabowski, in jenen Tagen die Rampensau der SED, im ZK unter anderem zuständig für den Umgang mit den Medien, war bei der Sitzung nicht ständig anwesend. Immer wieder habe er hinausgehen und mit Journalisten sprechen müssen.

Nach 17 Uhr machte sich Schabowski auf den Weg ins Internationale Pressezentrum in der Mohrenstraße. Hatte er die Verordnung unterwegs oder vor Beginn der Pressekonferenz gelesen? 1990 äußerte er gegenüber dem Historiker Hans-Hermann Hertle:

„Ich bin ins Pressezentrum gefahren und habe mir das Papier nicht mehr durchgelesen.“ Gegenüber einem Kamerateam äußerte er sich Jahre später vollkommen anders: „Ich mag ja ziemlich blöd sein, aber ich bin nicht so blöd, ein Papier vorzulesen, das die Reisefreiheit ankündigt, und ich keine Ahnung davon habe – also für so blöd müssen Se mich nich halten.“

Diese Aussage Schabowskis wurde in einem englischsprachigen Werbetrailer für den Film „Schabowskis Zettel“ verwendet.

Schabowski eröffnete die Pressekonferenz kurz vor 18 Uhr. Er lullte die Leute förmlich ein; man war gespannt, und Schabowski langweilte das Publikum mit Nebensächlichkeiten. Die Mitteilung über den Beschluss des Ministerrates hatte er sich für das Ende aufgehoben, wie sein eigener kleiner Sprechzettel erkennen lässt: Dort steht neben den Worten „Verlesen Text Reiseregelung“ das Wort „ZEIT!“, wohl um sich selbst daran zu erinnern, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen.

Die Pressekonferenz sollte pünktlich um 19 Uhr zu Ende sein, damit die Neuigkeiten in den Nachrichtensendungen berücksichtigt werden konnten. Zugleich wollte Schabowski offensichtlich nach der Verkündung der Sensation nicht weiter befragt werden.

Hier kommt der italienische Korrespondent der Nachrichtenagentur ANSA, Riccardo Ehrman, ins Spiel. Bekannt ist, dass er durch seine Frage nach dem verkorksten Vorschlag für ein Reisegesetz vom 6. November das Pressegespräch in die entscheidende Richtung brachte. Erst 2009 teilte der Bundesverdienstkreuzträger Ehrman dem MDR mit, dass er am späten Nachmittag einen Anruf vom Apparat des Chefs der DDR Nachrichtenagentur ADN erhalten hatte: Ein hoher SED-Funktionär, Mitglied des Politbüros, habe ihn angerufen und darum gebeten, am Abend in der Pressekonferenz unbedingt nach der Reiseregelung zu fragen. Dies sei sehr wichtig. Den Namen des Anrufers, mit dem er befreundet sei, verschwieg Ehrman mit Rücksicht auf seinen Informanten und dessen Familie.

Schabowski war hoher SED-Funktionär, war Mitglied des Zentralkomitees und mit Ehrman befreundet. Seine Frau war Russin. Hatte Schabowski über Bande gespielt und sich die Frage bei Ehrman selbst bestellt? Sollte das Verlesen der „Weltnachricht“ als etwas ganz und gar Nebensächliches erscheinen, gerade so nebenbei erfragt? Das Dementi Schabowskis auf diese Spekulation ist schwach: Absurd sei es, dass er selbst der Anrufer gewesen sein könnte. Er habe doch die Unterlagen in der Tasche gehabt, um auf der Pressekonferenz darüber zu informieren. Überzeugend ist das nicht, weil es darum nicht geht, sondern um eine möglicherweise geschickte und glaubwürdige Inszenierung der Weltnachricht.

Schon 2003, also lange bevor Ehrman eingestand, dass er von einem hohen SED-Funktionär angerufen und um genau diese Frage nach den Reiseregelungen gebeten worden war, kam der Leipziger Professor für Medienwissenschaft und Medienkultur Rüdiger Steinmetz nach genauem Studium der Aufnahmen der Pressekonferenz zu der Überzeugung, dass die Wortmeldung Ehrmans mit Schabowski offenbar abgesprochen war. Ein britischer Kollege, der bereits angefangen hatte, seine Frage zu stellen, wurde übergangen und regelrecht abgewürgt. Die Szene macht den Eindruck, dass Schabowski Ehrman gezielt das Recht auf die letzte Frage gegeben hatte – ist es da nicht schlüssig, dass Schabowski selbst, oder jemand in seinem Auftrag, Ehrman angerufen hatte? Damit Schabowski dann so beiläufig wie möglich die Frage beantworten konnte: Ach herrje, hätte ich doch beinahe vergessen!

Es gibt viele widersprüchliche Aussagen Schabowskis zu der Frage, ob ihm auf dieser Pressekonferenz ein Fehler unterlaufen sei oder ob er bewusst die Dynamik des 9. November 1989 in Gang gesetzt habe. Bekannte Schabowskis vermuten, dass er seine russische Frau vor Rache schützen wollte und darum immer versucht habe, seine Rolle so klein wie möglich zu halten. Immerhin hatte Schabowski mit den Worten „sofort, unverzüglich“ eine irreversible Kettenreaktion in Gang gesetzt, die schließlich zum Einsturz des gesamten Ostblocks führte, inklusive der Sowjetunion.

Stasi-Chef Mielke hatte am Mittag des 10. November einen Anruf aus Moskau bekommen, in dem er aufgefordert wurde, die für die Maueröffnung Verantwortlichen zu verhaften. Schabo, wie ihn seine Freunde und Genossen nannten, hatte immerhin massiv in das Leben nahezu aller Menschen eingegriffen, die er kannte und die doch eben noch seine Genossen waren, hatte sie entmachtet, desillusioniert, vor den Kopf gestoßen, das Lebenswerk zerstört, arbeitslos gemacht und ihrer Privilegien beraubt. Das dürfte nicht ganz leicht auszuhalten sein, erst recht, wenn man zugäbe, es mit Absicht getan zu haben. Schabowski selbst war auch innerhalb kürzester Zeit arbeitslos. Schon im Februar 1990 sollte er im Stadtbezirk Köpenick Wasseruhren ablesen. Später warteten auf ihn das Gefängnis und schließlich eine Stelle bei einer hessischen Provinzzeitung.

Was könnte Schabowski veranlasst haben, die magischen Worte auszusprechen? Wollte er, wenn das Schiff schon nicht mehr zu retten war, es dann lieber selbst versenken? Ahnte oder wusste er, dass er und Krenz keine Chance hatten? Krenz war nicht der Liebling Gorbatschows; Moskau setzte auf Hans Modrow und Markus Wolf. Wolf ließ am Morgen des 9. November 1989 per Stasi-Boten beim „Neuen Deutschland“ einen Artikel abgeben, in dem er den „neuen – alten“ Machthabern seinen massiven Widerstand ankündigte. Der zuständige Redakteur informierte Schabowski umgehend über den Inhalt, gedruckt wurde er nicht.

Es gibt Leute, die behaupten, Schabowski habe den Zettel mit seinem Fahrplan für die Pressekonferenz im Nachhinein geschrieben, also gefälscht. Denn: Er könne nicht aufgeschrieben haben, wovon er nichts gewusst habe: nämlich den Text einer Reiseregelung zu verlesen, die er gar nicht gekannt habe. Einmal dahingestellt, ob Schabowski den Text wirklich nicht kannte – er wusste aber sicher, dass es zu diesem Thema am 9. November einen Beschluss des Ministerrates und eine Beratung im ZK gegeben hatte.

Es war daher sicher keine Fehlinvestition, dass das Deutsche Historische Museum vor Jahren 25 000 Euro für den Kauf dieses Zettels berappte. Der Leipziger Professor Rüdiger Steinmetz sieht in dem Zettel Schabowskis einen Beleg dafür, dass Schabowski den Verlauf der Pressekonferenz durchgeplant hatte, um in den Verlauf der Geschichte einzugreifen. „Immerhin hatte es gereicht, die Mauer gegen Widerstand und Skepsis im Politbüro zu öffnen“, sagte Schabowski im August 1997 über seine Rolle am 9. November 1989 vor dem Landgericht, als er wegen der Mauertoten verurteilt wurde.

Schabowski beließ es bei Andeutungen. Warum rühmte er sich nie seiner Heldentat, als der Mauerfall schon weit zurücklag? Vielleicht war diese riesige historische Verantwortung für einen einzigen Menschen doch etwas zu groß geraten. Oder gab es einen anderen Grund? Schabowski nahm die Antwort darauf mit ins Grab.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Wikimedia.Commons 

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